Verfahrensgang
LG Köln (Entscheidung vom 24.08.2023; Aktenzeichen 1 S 148/22) |
AG Köln (Entscheidung vom 23.08.2022; Aktenzeichen 139 C 199/19) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerinnen wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 24. August 2023 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 27. September 2023 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerinnen sind Eigentümerinnen eines Grundstücks. Der Beklagte zu 1 ist Eigentümer, die Beklagte zu 2 ist Nießbraucherin des benachbarten Grundstücks. An die grenzständige Giebelwand des klägerischen Gebäudes ist der Flachdachbungalow des Beklagten zu 1 angebaut. An der Giebelwand befinden sich oberhalb des Bungalows über die Grenze zum Grundstück des Beklagten zu 1 hinausragende Entlüftungs- und Abwasserrohre, mit denen Abwasser und Dunst aus dem in dem Gebäude der Klägerinnen befindlichen Restaurant abgeführt werden.
Rz. 2
Gegenstand der Klage ist die Verpflichtung der Beklagten zur Duldung von Arbeiten zur Fassadenverkleidung der Giebelwand. Die Beklagten haben erstinstanzlich den Klageanspruch anerkannt, allerdings nur Zug um Zug gegen Beseitigung der auf ihr Grundstück herüberragenden Entlüftungs- und Abwasserrohre. Widerklagend haben die Beklagten beantragt, die Klägerinnen zur Entfernung dieser Rohre zu verurteilen. Die Klägerinnen haben die Einrede der Verjährung erhoben. Das Amtsgericht hat die Beklagten verurteilt, die Arbeiten zur Fassadenverkleidung der grenzständigen Giebelwand zu dulden; deren Widerklage auf Beseitigung der Entlüftungs- und Abwasserrohre hat es abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Beklagten zur Duldung der Fassadenarbeiten nur Zug um Zug gegen Beseitigung der auf ihr Grundstück herüberragenden Entlüftungs- und Abwasserrohre verurteilt. Auf die Widerklage hin hat es die Klägerinnen verurteilt, die auf das Grundstück der Beklagten überhängenden Entlüftungs- und Abwasserrohre zu entfernen. Die Klägerinnen wenden sich gegen die nicht erfolgte Zulassung der Revision, soweit zu ihrem Nachteil entschieden wurde.
II.
Rz. 3
Nach Ansicht des Berufungsgerichts haben die Beklagten einen Anspruch gegen die Klägerinnen auf Beseitigung der Rohre gemäß § 1004 BGB. Der Anspruch sei entgegen der Annahme des Amtsgerichts nicht verjährt. Die Behauptung der Klägerinnen, die Rohre seien bereits 1976 bzw. 1995 installiert worden, sei von den Beklagten in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten worden. Den gegen fehlende Kenntnis sprechenden Umstand, dass die Beklagten regelmäßig ihr Haus besuchten, hätten die Klägerinnen nicht behauptet, sondern nur gemutmaßt. Überdies sei dieser Vortrag nach §§ 531, 529 ZPO nicht zu berücksichtigen. Der erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltene Vortrag nebst Beweisangeboten gebe keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Soweit den Klägerinnen ein Schriftsatz nachgelassen worden sei, habe sich dies allein auf die Aktivlegitimation und nicht auf die Kenntnis der Beklagten bezogen. Das von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen in dem nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz in Bezug genommene und „in der Korrespondenz … gefundene“ Schreiben des Beklagten zu 1 aus dem Jahr 2018 sei den Klägerinnen offensichtlich geraume Zeit bekannt gewesen und hätte früher in den Prozess eingeführt werden können und müssen.
III.
Rz. 4
Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerinnen auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Klägerinnen rügen mit der Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltenen Vortrag nebst Beweisangeboten nicht außer Acht lassen durfte.
Rz. 5
1. Der Bundesgerichtshof entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, von dem Berufungsgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und auf Grund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Ein solcher Hinweis muss so rechtzeitig erteilt werden, dass der Berufungsbeklagte noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann. Die Parteien müssen Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen können; sie dürfen nicht gehindert sein, ihren Sachvortrag zu ergänzen (vgl. Senat, Beschluss vom 9. Februar 2023 - V ZR 93/22, BeckRS 2023, 5946 Rn. 10 mwN). Erteilt das Gericht entgegen § 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO den Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Kann eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen nicht erwartet werden, darf die mündliche Verhandlung nicht ohne Weiteres geschlossen werden. Vielmehr muss das Gericht die mündliche Verhandlung dann vertagen, soweit dies im Einzelfall sachgerecht erscheint, ins schriftliche Verfahren übergehen oder, wenn von der betroffenen Partei nach § 139 Abs. 5 ZPO beantragt, einen Schriftsatznachlass gewähren. Die mündliche Verhandlung darf in dieser Situation auch dann nicht geschlossen werden, wenn die Partei einen Antrag nach § 139 Abs. 5 ZPO nicht stellt (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2023 - V ZR 93/22, aaO).
Rz. 6
2. Gemessen hieran durfte das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerinnen in dem nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz nicht unberücksichtigt lassen.
Rz. 7
a) Das Berufungsgericht meint - anders als das Amtsgericht -, die Beklagten hätten die klägerische Behauptung, die Leitungen seien 1976 bzw. 1995 installiert worden, gemäß § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen bestreiten dürfen. Wegen der insoweit von der Beurteilung des Amtsgerichts abweichenden Ansicht war das Berufungsgericht verpflichtet, die Klägerinnen gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO darauf hinzuweisen, dass es aufgrund des aus seiner Sicht zulässigen Bestreitens der Beklagten den Vortrag der Klägerinnen zum Eintritt der Verjährung für nicht ausreichend erachtete.
Rz. 8
b) Den erforderlichen Hinweis hat das Berufungsgericht nach Darstellung der Beschwerde erstmals in der mündlichen Verhandlung erteilt. Dies war jedoch nicht rechtzeitig. Daher musste die Sache - mangels eines gemäß § 139 Abs. 5 ZPO beantragten Schriftsatznachlasses - entweder im schriftlichen Verfahren entschieden oder vertagt werden; eine sofortige Erklärung zu dem Hinweis war den Klägerinnen nicht zuzumuten. Da das Berufungsgericht weder in das schriftliche Verfahren übergegangen ist noch die mündliche Verhandlung vertagt hat, war der auf den gerichtlichen Hinweis erfolgte Vortrag zu berücksichtigen, auch wenn er von dem gewährten Schriftsatznachlass nicht umfasst war.
Rz. 9
c) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist unerheblich, ob die Klägerinnen den Vortrag bereits in erster Instanz hätten halten können.
Rz. 10
aa) Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Die Pflicht, auf eine von der ersten Instanz abweichende Beurteilung hinzuweisen, liefe nämlich leer, wenn ein von dem Berufungsbeklagten darauf vorgebrachtes entscheidungserhebliches Vorbringen bei der Entscheidung über das Rechtsmittel unberücksichtigt bliebe (vgl. zum Ganzen Senat, Urteil vom 9. Oktober 2009 - V ZR 178/08, NJW 2010, 363 Rn. 26 mwN). Die Parteien sollen durch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 ZPO nicht zu Darlegungen und Beweisangeboten gezwungen werden, die vom Standpunkt des erstinstanzlichen Gerichts aus unerheblich sind (vgl. Senat, Urteil vom 30. Juni 2006 - V ZR 148/05, NJW-RR 2006, 1292 Rn. 16 mwN). Soweit sich das Senatsurteil vom 30. Juni 2006 (V ZR 148/05, NJW-RR 2006, 1292 Rn. 18) anders verstehen lässt, hält der Senat daran nicht fest.
Rz. 11
bb) Danach kommt es nicht darauf an, dass die Verjährung und die Kenntnis der Beklagten von der Installation der Rohre aus Sicht des Berufungsgerichts einer „der Hauptgesichtspunkte des Verfahrens“ erster Instanz waren. Denn für die Klägerinnen ergab sich erst aus dem Hinweis in der mündlichen Verhandlung, dass ihr Vortrag und ihre angebotenen Beweise zum Eintritt der Verjährung aus Sicht des Berufungsgerichts unzureichend waren. Da das Amtsgericht den klägerischen Vortrag über den Zeitpunkt der Installation der Rohre als substantiiert und das Bestreiten der Beklagten als unerheblich angesehen hatte, bestand für die Klägerinnen vor dem Hinweis des Berufungsgerichts kein Anlass, hierzu weiter vorzutragen.
Rz. 12
3. Die hieraus folgende Verletzung des Anspruchs der Klägerinnen auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist entscheidungserheblich.
Rz. 13
a) In dem nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz haben die Klägerinnen vorgetragen, der Beklagte zu 1 habe in einem als Anlage vorgelegten Schreiben vom 4. September 2018 erklärt, hinsichtlich der Dunstabzugsrohre sei „seit Jahren eine stillschweigende Duldung“ seinerseits gegeben. Dieses Vorbringen kann dazu führen, dass die Beklagten den von den Klägerinnen behaupteten Zeitpunkt der Installation gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nicht mit Nichtwissen bestreiten dürfen; denn aus dem Schreiben ließe sich entnehmen, dass die Rohre Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung waren.
Rz. 14
b) Des Weiteren ist der Vortrag der Klägerinnen, die Beklagten hätten das Gebäude regelmäßig einmal jährlich besucht, so dass ihnen sämtliche Installationen bekannt gewesen seien, hinreichend substantiiert. Eine Partei darf grundsätzlich auch Tatsachen behaupten, über die sie keine genauen Kenntnisse hat, die sie nach Lage der Dinge aber für wahrscheinlich hält. Die Grenze, bis zu der dies zulässig ist, ist erst erreicht, wenn das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Vorwurf begründet, eine Behauptung sei "ins Blaue hinein" aufgestellt, mithin aus der Luft gegriffen, und stelle sich deshalb als Rechtsmissbrauch dar (Senat, Urteil vom 9. Februar 2018 - V ZR 274/16, NJW 2018, 1954 Rn. 11). Danach ist die Behauptung der Klägerinnen, die Beklagten würden das Grundstück einmal jährlich besuchen, hinreichend substantiiert. Hierzu müssen sich die Beklagten gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erklären, weil es insoweit um ihre eigenen Handlungen und Wahrnehmungen geht und deshalb § 138 Abs. 4 ZPO nicht eingreift. Sie haben zudem bislang selbst nicht behauptet, ihr Grundstück über mehrere Jahrzehnte nicht aufgesucht zu haben.
IV.
Rz. 15
Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Der Verstoß gegen das rechtliche Gehör führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO bezogen auf die Zug-um-Zug-Verurteilung hinsichtlich der Klage sowie auf die Widerklage zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung. Den Parteien wird zunächst Gelegenheit zu geben sein, zu der Verjährung des Beseitigungsanspruchs ergänzend vorzutragen.
Brückner |
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Göbel |
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Malik |
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Laube |
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RiBGH Schmidt ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Karlsruhe, 15. Juli 2024 |
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Die Vorsitzende Brückner |
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Fundstellen
Haufe-Index 16454559 |
NJW-RR 2024, 1079 |
NZM 2024, 767 |