Leitsatz (amtlich)
1. Das Beschwerdegericht darf nicht von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren absehen, wenn von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten sind, was etwa dann der Fall ist, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage wie ein neues Sachverständigengutachten heranzieht (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - XII ZB 427/20, FamRZ 2021, 1312).
2. Bei der Frage, ob die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ausnahmsweise unverhältnismäßig sind, ist insbesondere die Bedeutung des Verfahrensgegenstands in den Blick zu nehmen (im Anschluss an den Senatsbeschluss vom 3. November 2021 - XII ZB 215/21, FamRZ 2022, 379).
Normenkette
FamFG § 34 Abs. 3, § 68 Abs. 3, § 278 Abs. 1, 5-7
Verfahrensgang
LG München II (Entscheidung vom 15.11.2021; Aktenzeichen 6 T 1572/19) |
AG Ebersberg (Entscheidung vom 22.02.2019; Aktenzeichen XVII 374/17) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts München II vom 15. November 2021 aufgehoben, soweit darin die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ebersberg vom 22. Februar 2019 zurückgewiesen worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
Rz. 1
Die 81-jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann. Auf Anregung ihres Sohns hat das Amtsgericht eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Vermögenssorge, Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherern, Renten- und Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten sowie Postkontrolle in den übertragenen Angelegenheiten eingerichtet und die Beteiligte zu 1 als Berufsbetreuerin bestimmt. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht den Aufgabenkreis der Betreuung nur um den Punkt der Aufenthaltsbestimmung reduziert; die weitergehende Beschwerde hat es zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie sich weiterhin gegen die Betreuung insgesamt wendet.
II.
Rz. 2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
Rz. 3
1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht als verfahrensfehlerhaft, dass die Betroffene nach Einholung der Sachverständigengutachten nicht ordnungsgemäß angehört worden ist.
Rz. 4
a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 24. November 2021 - XII ZB 269/21 - BtPrax 2022, 63 Rn. 8 mwN).
Rz. 5
b) Das Landgericht hat seine Entscheidung außer auf das vom Amtsgericht eingeholte Gutachten vom 20. Oktober 2018 noch auf das von ihm selbst eingeholte Ergänzungsgutachten der Sachverständigen C. vom 19. März 2021 sowie auf das Gutachten des Sachverständigen R. vom 10. August 2020 gestützt.
Rz. 6
Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung aber mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, und es ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats schon deshalb eine erneute Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 - XII ZB 427/20 - FamRZ 2021, 1312 Rn. 11 mwN).
Rz. 7
c) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht. Zwar hat das Landgericht die Betroffene am 14. Juli 2020 im Wege der Rechtshilfe durch das Betreuungsgericht anhören lassen. Unabhängig von Bedenken gegen die Zulässigkeit dieser Verfahrensweise datiert diese Anhörung aber zeitlich vor dem Ergänzungsgutachten der Sachverständigen C. vom 19. März 2021 und ebenfalls vor dem Gutachten des Sachverständigen R. vom 10. August 2020, weshalb sie die Funktion einer Gegenkontrolle insoweit nicht erfüllen konnte. Vielmehr hätte die Betroffene nach Vorliegen aller Gutachten, auf die das Landgericht seine Entscheidung zu stützen beabsichtigte, abschließend angehört werden müssen.
Rz. 8
Zwar ist die Betroffene einem vom Landgericht anberaumten Anhörungstermin ferngeblieben und konnte bei einer weiteren, in der Wohnung beabsichtigten Anhörung nicht angetroffen werden. Da die Anhörung in Betreuungssachen aber nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (Senatsbeschluss vom 3. November 2021 - XII ZB 215/21 - FamRZ 2022, 379 Rn. 13).
Rz. 9
Dem angefochtenen Beschluss lassen sich keine tragenden Erwägungen dazu entnehmen, dass eine Vorführung der Betroffenen nach § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG unverhältnismäßig und mithin unzulässig gewesen wäre. Das Landgericht hätte, nach Ausschöpfung aller zwanglosen Möglichkeiten, die Vorführung der Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ins Verhältnis zum Verfahrensgegenstand setzen müssen. Nachdem es um eine Betreuung ging, die weite Lebensbereiche der Betroffenen abdeckt, wäre die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit allenfalls dann in Betracht gekommen, wenn von der Vorführung und deren Durchsetzung gemäß § 278 Abs. 6 und 7 FamFG sonstige negative Folgen erheblichen Ausmaßes für die Betroffene zu erwarten gewesen wären. Zu denken wäre hierbei insbesondere an eine sachverständig festgestellte Gefahr, dass es durch die Vorführung zu erheblichen Nachteilen für die Gesundheit käme (vgl. Senatsbeschluss vom 3. November 2021 - XII ZB 215/21 - FamRZ 2022, 379 Rn. 14 mwN). Derartiges ist aber weder festgestellt noch im Hinblick auf die bereits im Rahmen der Begutachtung erfolgte Vorführung anderweitig ersichtlich. Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln des § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG stellt einen Verstoß gegen § 26 FamFG dar.
Rz. 10
2. Der angefochtene Beschluss kann daher insoweit keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.
Rz. 11
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Sohn der Betroffenen im ersten Rechtszug beteiligt worden ist und seine Beteiligtenstellung auch im Beschwerdeverfahren fortwirkt.
Rz. 12
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Dose |
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Schilling |
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Günter |
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Nedden-Boeger |
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Botur |
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Fundstellen
FuR 2022, 583 |
BtPrax 2022, 187 |
JZ 2022, 534 |
MDR 2022, 1433 |
ErbR 2022, 1149 |
FamRB 2022, 5 |