Leitsatz (amtlich)
Die Haftgerichte haben - von Fällen offenkundiger Rechtsverletzung abgesehen - im Hinblick auf eine mögliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nicht zu prüfen, Angaben eines Betroffenen mangels Äußerung eines Schutzersuchens i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG nicht als Asylantrag zu behandeln. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts, die Angaben eines Betroffenen nicht als Asylantrag zu behandeln, sind vom Haftrichter erst dann zu berücksichtigen, wenn ihm bekannt wird, dass der Betroffene deswegen um Rechtsschutz durch die VG nachgesucht hat, und sich daraus ein der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis ergeben kann (Fortführung von BGH, Beschl. v. 7.4.2020 - XIII ZB 53/19, juris Rz. 14; v. 24.6.2020 - XIII ZB 20/19, juris Rz. 8).
Normenkette
AsylG § 13 Abs. 1, § 55 Abs. 1; AufenthG § 62 Abs. 3 Sätze 3-4, Abs. 4
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Beschluss vom 12.02.2020; Aktenzeichen 11 T 46/20) |
AG Karlsruhe (Beschluss vom 28.01.2020; Aktenzeichen 712 XIV 3/20 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des LG Karlsruhe - Zivilkammer XI - vom 12.2.2020 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Dolmetscherkosten nicht erhoben werden.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, stellte im Juli 2019 in Spanien einen Asylantrag, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden ist. Bei einem ersten Versuch, aus Spanien auszureisen, wurde er von französischen Behörden zurückgewiesen. Am 17.12.2019 gelang ihm über Frankreich die Einreise in das Bundesgebiet.
Rz. 2
Zur Sicherung seiner Überstellung nach Spanien ordnete das AG Offenburg auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 17.12.2019 zunächst eine einstweilige Freiheitsentziehung bis zum 28.1.2020 an. Die im Rahmen der persönlichen Anhörung protokollierten Angaben des Betroffenen verstand die Haftrichterin als Äußerung eines Asylbegehrens und leitete diese an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) weiter, wo sie aber mangels Äußerung eines Schutzersuchens i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG nicht als Asylantrag bearbeitet wurden. Nachdem die spanischen Behörden eine Übernahme des Betroffenen abgelehnt hatten, ordnete die beteiligte Behörde mit sofort vollziehbarer Verfügung vom 9.1.2020 die Abschiebung des Betroffenen nach Tunesien an.
Rz. 3
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das inzwischen zuständige AG Karlsruhe mit Beschluss vom 28.1.2020 Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen nach Tunesien bis zum 17.3.2020 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das LG - nach zwischenzeitlicher Identifizierung des Betroffenen als tunesischer Staatsangehöriger und einer Flugbuchung für den 13.2.2020 - mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft nur bis zum 19.2.2020 aufrecht zu erhalten sei. Nach Erledigung der Haftanordnung beantragt der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung, dass ihn die Beschlüsse des AG und LG in seinen Rechten verletzt hätten.
Rz. 4
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Mangels wirksamen Asylantrags sei ihm der Aufenthalt nicht nach § 55 Abs. 1 AsylG gestattet gewesen. Ein Asylverfahren sei nicht eingeleitet worden. Die Voraussetzungen des Haftgrundes des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG lägen vor, denn der Betroffene sei aufgrund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Das Beschleunigungsgebot sei nicht verletzt. Aus welchem Grund das Dublin-Verfahren letztlich gescheitert sei, spiele jedenfalls dann keine Rolle, wenn sich dadurch die Ausreise - wie im Fall des Betroffenen - nicht verzögert habe. Aus dem Eilverfahren vor dem VG Stuttgart ergebe sich kein der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis. Allerdings sei die Haft - auch unter Berücksichtigung eines angemessenen zeitlichen Puffers für unvorhergesehene Verzögerungen - nur bis zum 19.2.2020 aufrecht zu erhalten, nachdem mittlerweile ein Flug für den 13.2.2020 gebucht worden sei.
Rz. 6
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Rz. 7
a) Zu Recht nimmt das Beschwerdegericht an, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Haftanordnung und deren Aufrechterhaltung vollziehbar ausreisepflichtig war.
Rz. 8
aa) Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er - wie der Betroffene - einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt. Vollziehbar ist die Ausreisepflicht nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wenn der Ausländer unerlaubt eingereist ist. Dies war hier der Fall, weil sich der Betroffene ohne Pass oder Passersatz und ohne Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet begeben hat, § 14 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG.
Rz. 9
bb) Dem Betroffenen stand entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch zu keinem Zeitpunkt eine von den Haftgerichten zu berücksichtigende Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG zu, welche die vollziehbare Ausreisepflicht aufgehoben und damit ein von Amts wegen zu beachtendes Hafthindernis dargestellt hätte (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 20.5.2016 - V ZB 24/16, NVwZ 2016, 1582 Rz. 16 m.w.N.).
Rz. 10
(1) Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gem. § 63a Abs. 1 AsylG gestattet. Ein solcher Ankunftsnachweis wurde dem Betroffenen nicht ausgestellt.
Rz. 11
(2) Dem Betroffenen war der Aufenthalt auch nicht gem. § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG gestattet. Er hat keinen von den Haftgerichten zu berücksichtigenden Asylantrag gestellt, der nach dieser Vorschrift die Aufenthaltsgestattung entstehen lässt.
Rz. 12
(a) Die Haftgerichte haben - von Fällen evidenter Rechtsverletzung abgesehen - im Hinblick auf eine mögliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts nicht zu prüfen, Angaben eines Betroffenen mangels Äußerung eines Schutzersuchens i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG nicht als Asylantrag zu behandeln. Eine solche Prüfung widerspräche der gesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen den Verwaltungs- und den Haftgerichten. Denn die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden - hier des Bundesamts - unterliegt allein der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2020 - XIII ZB 53/19, juris Rz. 12; v. 24.6.2020 - XIII ZB 20/19, juris Rz. 8, jeweils m.w.N.).
Rz. 13
(b) Danach war der Haftrichter hier an die Beurteilung des Bundesamts gebunden. Mit Schreiben vom 30.1.2020 teilte das Bundesamt dem AG Karlsruhe mit, dass es die vom Betroffenen bei der persönlichen Anhörung am 17.12.2019 vor dem AG Offenburg gemachten und an das Bundesamt weitergeleiteten Angaben nicht als Asylantrag ansehe. Der Betroffene habe dort nicht geltend gemacht, Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG zu suchen, sondern nur den Wunsch geäußert, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Dem entspreche seine Aussage gegenüber der Bundespolizei vom selben Tag, mit der er ausdrücklich erklärt habe, in seiner Heimat nicht verfolgt zu werden. Nach erfolgter Identifizierung sei deshalb beabsichtigt, den Betroffenen in das ermittelte Herkunftsland abzuschieben.
Rz. 14
(c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist die Sachaufklärung (vgl. § 26 FamFG) des Haftgerichts und des Beschwerdegerichts in diesem Punkt nicht zu beanstanden. Das Protokoll des AG Offenburg vom 17.12.2019 musste von den Haftgerichten nicht eingesehen werden. Denn - anders als die Rechtsbeschwerde meint - ist nicht maßgeblich, wie das Beschwerdegericht die Angaben des Betroffenen verstehen durfte, sondern wie das Bundesamt diese Angaben verstanden hat. Dies hat das Bundesamt mit Schreiben vom 30.1.2020 dem AG Karlsruhe eindeutig mitgeteilt. Eine weitere Aufklärung war nicht veranlasst.
Rz. 15
a) Auch die Gelingensprognose des Beschwerdegerichts (§ 62 Abs. 3 Satz 3 und 4, Abs. 4 AufenthG) ist nicht zu beanstanden.
Rz. 16
aa) Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts, die Angaben eines Betroffenen mangels Äußerung eines Schutzersuchens i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG nicht als Asylantrag zu behandeln, sind - von Fällen offenkundiger Rechtsverletzung abgesehen - vom Haftrichter erst dann zu berücksichtigen, wenn ihm bekannt wird, dass der Betroffene deswegen um Rechtsschutz durch die VG nachgesucht hat, und sich daraus ein der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis ergeben kann. In diesem Fall muss der Haftrichter den Stand und voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufklären. Steht danach zu erwarten, dass das VG einem Eilantrag des Betroffenen stattgeben wird, so dass die vorgesehene Abschiebung voraussichtlich nicht durchgeführt werden kann, darf er die Haft nicht anordnen und muss eine bereits ergangene Haftanordnung aufheben (vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2020 - XIII ZB 53/19, juris Rz. 14; v. 24.6.2020 - XIII ZB 20/19, juris Rz. 12, jeweils m.w.N.).
Rz. 17
bb) Die vom Beschwerdegericht getroffene Prognose, die Abschiebung werde am 13.2.2020 gelingen, begegnet danach keinen rechtlichen Bedenken. Aus dem beim VG Stuttgart mit Schreiben vom 11.2.2020 eingereichten Antrag des Betroffenen auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ergab sich kein der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis. Die Nachfrage des Beschwerdegerichts beim VG zum Stand und voraussichtlichen Fortgang des Verfahrens hatte nicht ergeben, dass das VG voraussichtlich dem Eilantrag des Betroffenen stattgeben und dessen Abschiebung aussetzen würde.
Rz. 18
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde liegt keine Verletzung des Beschleunigungsgebots vor.
Rz. 19
aa) Die Rechtsbeschwerde nimmt im Ausgangspunkt zutreffend an, die Beachtung des Beschleunigungsgebots erfordere, dass die Gesuche um Auf- oder Wiederaufnahme eines Betroffenen nach Art. 21 f. oder Art. 23 ff. Dublin-III-VO korrekt und unter Einhaltung der Vorschriften der Durchführungsverordnung der Kommission (= Verordnung [EG] Nr. 1560/2003 in der Fassung der Durchführungsverordnung [EU] Nr. 118/2014 der Kommission vom 30.1.2014 [Amtsblatt L 39 1; im Folgenden: DurchführungsVO]) an den anderen Mitgliedstaat gestellt werden, und dass sich die beteiligte Behörde Fehler des hier für die Übermittlung eines Wiederaufnahmegesuchs gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AsylZVB zuständigen Bundesamts zurechnen lassen muss (vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2011 - V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rz. 13 f.; v. 17.10.2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rz. 15). Weiter trifft zu, dass das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 19.12.2019 entgegen Art. 2 Abs. 2 Buchst. b DurchführungsVO nicht das von der Eurodac-Zentraleinheit übermittelte positive Ergebnis des Vergleichs der Fingerabdrücke des Betroffenen mit früheren Abdrücken enthielt und entgegen Art. 24 Abs. 5 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Anhang III Nr. 11 DurchführungsVO das Datum der Eurodac-Treffermeldung nicht benannte.
Rz. 20
bb) Dieser Fehler hat sich auf die Dauer der Haft aber nicht ausgewirkt.
Rz. 21
(1) Zwar sind hinsichtlich des Gebots, die Abschiebung des Betroffenen mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, auch die vor der Haftanordnung liegenden Zeiten relevant (vgl. BGH, Beschl. v. 21.1.2010 - V ZB 14/10 FGPrax 2010, 97 Rz. 11; v. 30.10.2013 - V ZB 186/12, juris Rz. 9), hier also auch der Zeitraum der aufgrund der einstweiligen Anordnung vom 17.12.2019 vollzogenen Haft, während derer noch eine Überstellung nach Spanien geplant und Spanien um Übernahme des Betroffenen ersucht worden war.
Rz. 22
(2) Allerdings wurden die in dem Gesuch vom 19.12.2019 fehlenden Informationen in der Antwort der spanischen Behörden vom 23.12.2019 nicht verlangt. Mit diesem Schreiben wurde nämlich nur die Mitteilung darüber erbeten, wann der Betroffene in Deutschland um Asyl nachgesucht habe und wann er festgenommen worden sei. Das von der Eurodac-Zentraleinheit übermittelte positive Ergebnis des Fingerabdruckvergleichs und das Datum dieser Treffermeldung wurden ausdrücklich nicht erfragt. Das Bundesamt übermittelte den spanischen Behörden die erbetenen Informationen am 30. Dezember, also am zweiten Büroarbeitstag nach Eingang der Nachfrage aus Spanien und damit innerhalb einer vertretbaren Bearbeitungszeit. Bis zum 30.12.2019 wäre das Verfahren um das Wiederaufnahmegesuch also auch ohne den Fehler des Bundesamts nicht anders verlaufen. Für die Zeit ab dem 30.12.2019 konnte der Fehler - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - keine Auswirkung auf die Dauer der Haft mehr haben, weil das Bundesamt an diesem Tag bereits die - von dem Haftrichter auf ihre Rechtmäßigkeit grundsätzlich und so auch hier nicht zu prüfende (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.2018 - V ZB 80/17, NVwZ-RR 2019, 662 Rz. 7; v. 7.4.2020 - XIII ZB 53/19, juris Rz. 12 m.w.N.) - Entscheidung getroffen hatte, das Dublin-Verfahren als beendet anzusehen. Die beteiligte Behörde betrieb daraufhin nicht mehr die Überstellung des Betroffenen nach Spanien, sondern seine Abschiebung nach Tunesien. Dies tat sie mit der größtmöglichen Beschleunigung, indem sie am 2.1.2020, also bereits am nächsten, auf den 30.12.2019 folgenden Büroarbeitstag, das Verfahren zur Identifizierung des Betroffenen in Tunesien einleitete.
Rz. 23
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG und Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK analog. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Fundstellen
Haufe-Index 14279361 |
NVwZ-RR 2021, 231 |
NVwZ-RR 2021, 6 |
JZ 2021, 83 |