Leitsatz (amtlich)
›Zur Übertragung der elterlichen Sorge auf einen Elternteil, der mit den noch nicht schulpflichtigen Kindern (von Bayern) nach Oberitalien gezogen ist, um dort mit ihnen auf Dauer zu leben.‹
Verfahrensgang
AG Hersbruck |
OLG Nürnberg |
Gründe
I. Aus der Ehe der Parteien stammen die am 16. April 1980 geborene Tochter Patricia und der am 21. September 1981 geborene Sohn Alexander; alle sind deutsche Staatsangehörige. Die Kinder leben seit der Trennung der Parteien im September 1984 bei der Mutter (Antragstellerin), die mit ihnen zunächst in ihr Elternhaus nach R. (Freistaat Bayern) gezogen war. Anfang 1986 hat die Mutter eine geräumige Villa in G /Italien (Provinz Friaul) erworben und mit den Kindern und ihrer eigenen Mutter bezogen, um dort auf Dauer zu leben.
Das Amtsgericht - Familiengericht - hat durch Verbundurteil vom 12. Oktober 1987 die Ehe der Parteien geschieden und die elterliche Sorge für die beiden Kinder der Mutter übertragen. Der Scheidungsausspruch ist rechtskräftig. Der Vater (Antragsgegner) hat mit der Beschwerde beantragt, ihm das Sorgerecht zu übertragen. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der - zugelassenen - weiteren Beschwerde verfolgt der Vater sein Beschwerdeziel weiter. Die Mutter bittet um Zurückweisung des Rechtsmittels.
II. Die weitere Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Das Oberlandesgericht hat sich der Begründung des Familiengerichts für die Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter angeschlossen, weil diese Regelung dem Wohl der Kinder am besten entspreche (§ 1671 Abs. 2 BGB). Dazu hat es ausgeführt: Zwar seien beide Elternteile erziehungsfähig und auch erziehungsgeeignet. Die weiteren nach dem allein maßgeblichen Kindeswohl zu berücksichtigenden Gesichtspunkte sprächen jedoch für eine Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter. Diese habe beide Kinder seit deren Geburt überwiegend betreut. Das könne sie auch weiterhin, weil sie - in gesicherten finanziellen Verhältnissen lebend - ihren Beruf als Dolmetscherin nicht ausübe und mit den Kindern ein neues und geräumiges eigenes Haus mit großem Park bewohne. Wenn das Sorgerecht dem als Landesanwalt tätigen Vater übertragen werde, müsse dieser eine fremde Person für die Kindesbetreuung einstellen; die Kontinuität der bisherigen Betreuung werde unterbrochen. Die Kinder selbst hätten den Wunsch, bei der Mutter und in der ihnen seit geraumer Zeit vertrauten Umgebung zu leben. Der vom Vater demgegenüber in den Vordergrund gestellten Befürchtung, daß die Kinder in Italien dem deutschen Sprach- und Kulturraum entfremdet würden, jedoch ihr "Anspruch auf nationale Identität nicht einem wurzellosen utopischen Internationalismus geopfert werden" dürfe, hat das Oberlandesgericht kein durchschlagendes Gewicht beigemessen. Es hat festgestellt, daß beide Kinder, die erstmals in Italien eingeschult worden sind, keine schulischen Schwierigkeiten hätten. Die Tochter sei in der zweiten Grundschulklasse die beste von 16 Schülerinnen. Die Kinder wüchsen zweisprachig auf, weil die Mutter mit ihnen nur Deutsch spreche und zusätzlich Unterrichtshefte für im Ausland aufwachsende deutsche Kinder mit ihnen durcharbeite. Außerdem fliege sie mit den Kindern öfters nach Deutschland zu Besuchen, der Vater könne ein großzügig angebotenes Umgangsrecht wahrnehmen. Unter diesen Umständen sei ein zweisprachiges Aufwachsen für die weitere Entwicklung der Kinder ein Gewinn. Schulabschlüsse in Italien würden auch in der Europäischen Gemeinschaft anerkannt. Mögliche Schwierigkeiten für ein späteres Studium in Deutschland infolge des Aufwachsens in einem anderen Kulturkreis und Schulsystem seien nicht derart gewichtig, daß es gerechtfertigt sei, die Kinder aus den derzeitigen günstigen Lebensverhältnissen herauszunehmen und das Sorgerecht auf den Vater zu übertragen.
2. Diese Entscheidung hält rechtlicher Prüfung stand.
a) Das Oberlandesgericht ist davon ausgegangen, daß ein übereinstimmender Vorschlag der Eltern gemäß § 1671 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht besteht. Es hat damit - ohne dies aller-Vater an den gemeinsamen Vorschlag nicht mehr gebunden ist, den er im ersten Verhandlungstermin am 30. September 1985 zusammen mit der Mutter dem Familiengericht unterbreitet hat und der dahin ging, das Sorgerecht für beide Kinder der Mutter zu übertragen. Diese Auffassung trifft zu.
Allerdings wird die Meinung vertreten, der dem Gericht einmal unterbreitete übereinstimmende Vorschlag binde die Eltern und könne jedenfalls nicht einseitig durch Äußerung eines davon abweichenden Wunsches widerrufen werden. Auf der Grundlage der vor dem 1. Januar 1980 geltenden Fassung des § 1671 BGB hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß ein gemeinsamer (und nach damaligem Recht dem Vormundschaftsgericht fristgerecht vorgelegter) Vorschlag für beide Elternteile bindend ist (BGHZ 33, 54, 57 ff). Diese Meinung wird auch auf der Grundlage des geltenden Rechtes in Teilen der Rechtsprechung und Literatur weiterhin vertreten (vgl. die Nachweise bei Johannsen/Henrich/Jaeger Eherecht § 1671 BGB Rdn. 56). Ob dem noch gefolgt werden kann oder ob die Gegenmeinung den Vorzug verdient, nach der die Eltern an einen früheren übereinstimmenden Vorschlag grundsätzlich nicht gebunden sind, sondern jeder Elternteil bis zur Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz den Vorschlag einseitig rechtswirksam widerrufen kann (vgl. zuletzt OLG Hamm FamRZ 1989, 654 sowie Jaeger aaO. Rdn. 58 m.w.N.), braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Denn auch nach der zuerst genannten strengeren Auffassung kann der Vater an dem Vorschlag vom 30. September 1985 nicht festgehalten werden, weil sich durch den Umzug der Mutter mit den Kindern von Bayern nach Oberitalien zu Anfang des Jahres 1986 die tatsächlichen Grundlagen des übereinstimmenden Vorschlags so verändert haben, daß es nach Treu und Glauben nicht gerechtfertigt erscheint, ihn an dem vor dieser für ihn unerwarteten Ortsveränderung geäußerten Vorschlag festzuhalten.
b) Das Oberlandesgericht hat danach zu Recht nur § 1671 Abs. 2 BGB angewendet. Danach ist die Regelung zu treffen, die dem Wohl des Kindes am besten entspricht; hierbei sind die Bindungen des Kindes, insbesondere an seine Eltern und Geschwister, zu berücksichtigen. Das Gesetz umschreibt nicht näher, was außer den erwähnten Bindungen des Kindes am ehesten besonders zu beachten ist. Der Senat hat die in der Rechtsprechung und im Schrifttum hervorgehobenen Prinzipien der Förderung, der Kontinuität und der Beachtung des Kindeswillens als gewichtige Gesichtspunkte für die zu treffende Regelung bestätigt (Beschluß vom 11. Juli 1984 - IVb ZB 73/83 - FamRZ 1985, 169). Danach soll das Sorgerecht demjenigen Elternteil übertragen werden, der dem Kind voraussichtlich die besseren Entwicklungsmöglichkeiten vermitteln und ihm die meiste Unterstützung für den Aufbau seiner Persönlichkeit (vgl. BVerfG FamRZ 1981, 124, 126) und eine gleichmäßige und stetige Betreuung und Erziehung geben kann; der stets zu beachtende Kindeswille liefert auch bei kleineren Kindern unter zehn Jahren daneben ein ernst zu nehmendes Indiz für die zu berücksichtigenden persönlichen Bindungen. Alle Kriterien stehen aber letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander; jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Diese Entscheidung liegt letztlich in der Verantwortung des Tatrichters.
3. Die angefochtene Sorgerechtsregelung kann nur darauf überprüft werden, ob sie durch Rechtsfehler beeinflußt ist. Eine unzureichende Aufklärung des Sachverhalts (§ 12 FGG) ist weder ersichtlich noch wird sie mit dem Rechtsmittel gerügt. Die Entscheidung läßt aber auch keinen nach § 1671 Abs. 2 BGB rechtserheblichen Gesichtspunkt außer acht und verstößt auch insoweit nicht gegen das Gesetz.
a) Die weitere Beschwerde beanstandet, daß das Oberlandesgericht allein das Kontinuitätsprinzip habe ausschlaggebend sein lassen. Das trifft jedoch nicht zu. Das Oberlandesgericht hat in gleichem Maße berücksichtigt, daß die Kinder durch die Mutter besser gefördert werden können, weil sie nicht erwerbstätig ist, wahrend der Vater durch seine Berufstätigkeit gehindert sei, sich tagsüber selbst um sie zu kümmern. Das Oberlandesgericht hat außerdem in seine Abwägung zu Recht auch den von den Kindern bei ihrer Anhörung geäußerten Wunsch einbezogen, auf Dauer zusammen und bei ihrer Mutter zu bleiben.
b) Der Vater macht weiter geltend, das Oberlandesgericht habe nicht genügend berücksichtigt, daß die Mutter gegen seinen Willen und ohne sachlichen Grund mit den Kindern nach Italien umgezogen sei. Wenn sie weiterhin an ihrem früheren Wohnort in Bayern wohnte, könne er ein ihm verbleibendes Umgangsrecht ohne Schwierigkeiten ausüben; werde der Mutter jedoch das Sorgerecht ungeachtet der einseitig von ihr veränderten Aufenthaltsverhältnisse übertragen, so werde ihm der persönliche Umgang mit den Kindern wesentlich erschwert.
Diesem aus der Sicht des Vaters verständlichen Gesichtspunkt hat das Oberlandesgericht jedoch zu Recht kein erhebliches Gewicht beigemessen. Die Sorgerechtsregelung hat sich am Kindeswohl auszurichten. Welcher Elternteil in der praktischen Ausübung eines Umgangsrechts mehr oder weniger Mühen auf sich nehmen müßte, ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Nach der Scheidung können beide Ehegatten grundsätzlich ihren Wohnort unabhängig voneinander frei wählen. Es besteht kein Grund, diese Freizügigkeit indirekt dadurch zu beschränken, daß die Übertragung des Sorgerechts für gemeinschaftliche Kinder davon abhängig gemacht wird, wer von beiden Elternteilen sich weiterhin am oder jedenfalls in größtmöglicher Nähe zum früheren ehegemeinschaftlichen Wohnort aufhält. Ein Umzug der Kinder an einen weit entfernten Ort kann zwar zu Behinderungen in der praktischen Ausübung des Umgangsrechtes führen. Indessen hat der Senat - sogar im Fall einer Auswanderung nach Übersee - den Standpunkt vertreten, daß das nur im Rahmen der tatsächlichen Wohnsitzverhältnisse praktisch ausübbare Umgangsrecht bisweilen als das schwächere Recht dem stärkeren Sorgerecht weichen muß (Senatsurteil vom 14. Januar 1987 - IVb ZR 65/85 - FamRZ 1987, 356, 358 m.w.N.). Im vorliegenden Fall sind hingegen Behinderungen nicht einmal in einem größeren Maße zu befürchten, als sie auch bei ähnlichen Entfernungen der Wohnsitze innerhalb Deutschlands eintreten würden. Daß die mit einem Umzug an einen neuen Wohnort verbundenen Veränderungen ihrer Umwelt das Wohl der davon betroffenen noch nicht schulpflichtigen Kinder stets ernsthaft beeinträchtigten, kann im übrigen nicht anerkannt werden. Eine solche Einschätzung wäre mit den vom Tatrichter hier getroffenen, auf die Anhörung der Kinder gestützten Feststellungen auch nicht vereinbar.
c) Eine Verletzung des Gesetzes sieht die weitere Beschwerde vor allem aber darin, daß das Oberlandesgericht nur unzureichend gewürdigt habe, daß die Kinder durch ein Aufwachsen in Italien dem deutschen Sprach- und Kulturkreis entzogen werden. Der Vater meint, daß sie durch den Besuch italienischer Schulen und die Erlangung entsprechender Schulabschlüsse sowohl bei ihrer Ausbildung, insbesondere einem Studium, als auch für qualifizierte Berufstätigkeiten auf einen weiteren Aufenthalt in Italien festgelegt würden. Es sei auch nicht gesichert, daß die Mutter sich weiterhin um eine deutsche Sprachausbildung der Kinder bemühen werde. Wenn das einmal nicht mehr der Fall sei, habe dies zur Folge, daß die Kinder die deutsche Sprache entweder überhaupt nicht oder nur noch unzureichend beherrschten. Sie würden dadurch auch ihm als ihrem Vater entfremdet. Dadurch werde sein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Umgang mit den Kindern ausgehöhlt.
Diese Angriffe stellen den Bestand der angefochtenen Entscheidung ebenfalls nicht in Frage.
Das Oberlandesgericht hat die Probleme, die aus dem Besuch der italienischen Grundschule und aus dem Aufwachsen in einer italienischen Umwelt für die Kinder entstehen können, erkannt und in seine Würdigung einbezogen. Soweit der Vater beanstandet, daß die Abwägung nicht zu dem von ihm angestrebten Ergebnis geführt hat, unternimmt er den der Rechtsbeschwerde verschlossenen Versuch, eine eigene Würdigung an die Stelle der des Tatrichters zu setzen. Das Oberlandesgericht hat nicht übersehen, daß die Kinder später im Vergleich zu anderen, die in Deutschland aufgewachsen sind und nur deutsche Schulen besucht haben, auf den Gebieten benachteiligt sein können, die auf besondere Kenntnisse der deutschen Kultur und der deutschen Sprache aufbauen. Es ist aber rechtlich nicht zu beanstanden, daß es dem keine für die Regelung des Sorgerechts ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat, zumal diesem Nachteil der im Hinblick auf die europäische Entwicklung hoch einzuschätzende Vorteil gegenübersteht, mit dem italienischen einem zweiten großen europäischen Sprach- und Kulturkreis besonders verbunden zu - sein. Im übrigen besteht aufgrund der getroffenen Feststellungen kein Anlaß für die Befürchtung, die Mutter werde künftig die von ihr persönlich geförderte deutsche Sprachentwicklung bei den Kindern vernachlässigen. Zudem kann der Vater auch seinerseits bei der Ausübung des ihm großzügig angebotenen Umgangsrechts zur Festigung der deutschen Sprachkenntnisse der Kinder beitragen.
Fundstellen
Haufe-Index 2993012 |
BGHR BGB § 1671 Abs. 2 Kindeswohl 1 |
BGHR BGB § 1671 Abs. 3 Vorschlag, übereinstimmender 1 |
FamRZ 1990, 392 |
MDR 1990, 423 |