Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau vom 20. Oktober 1998 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift vom 15. Juni 1999, die durch den weiteren Schriftsatz des Verteidigers vom 28. Juni 1999 nicht entkräftet werden.
II.
Dagegen hält der Rechtsfolgenausspruch insgesamt der sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat in allen Fällen die verhängten Einzelstrafen dem „Regelstrafrahmen des § 176 Abs. 1 StGB a.F.” entnommen, den es jeweils nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert hat. Zu Recht beanstandet die Revision, daß das Landgericht das Vorliegen minder schwerer Fälle des § 176 Abs. 1 letzter Halbs. StGB nicht erkennbar geprüft hat. Dies hätte hier bereits deshalb ausdrücklicher Erörterung bedurft, weil § 21 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB einen gesetzlich „vertypten” Milderungsgrund bildet, der schon allein, jedenfalls aber zusammen mit den anderen hier zu Gunsten des nicht bestraften, geständigen Angeklagten sprechenden Umständen Anlaß geben konnte, einen minder schweren Fall anzunehmen (st. Rspr.; BGHR StGB vor § 1/minder schwerer Fall Gesamtwürdigung, unvollständige 1; zur Prüfungsreihenfolge BGHR aaO 11). Die Urteilsgründe enthalten hierzu keine Ausführungen. Deshalb kann der Senat nicht ausschließen, daß die Jugendkammer die gebotene Prüfung, die eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles erfordert (vgl. Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 46 Rdn. 41, 42), nicht angestellt hat. Dies nötigt zur Aufhebung der Einzelstrafen und des Gesamtstrafenausspruchs.
2. Auch die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Nach Auffassung des Landgerichts sind „aufgrund der beim Angeklagten vorliegenden krankhaften Persönlichkeitsstörung die Voraussetzungen des § 21 StGB positiv festzustellen” (UA 9). Insoweit hat sich das Landgericht „dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch. … angeschlossen”, demzufolge „beim Angeklagten eine schwere andere seelische Abartigkeit, eine bisexuelle Kernpädophilie auf dem Boden seiner eigenen neurotischen Fehlentwicklung” vorliegt, wobei „nicht der geringste Zweifel” bestehe, daß die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten „infolge seines Triebdrucks erheblich vermindert war”. Im übrigen teilt das Urteil lediglich mit, „auf dem Boden einer frühkindlich erworbenen neurotischen Persönlichkeitsstörung (sei) es beim Angeklagten im Laufe des 3. Lebensjahrzehnts zu einer bisexuellen Kernpädophilie (im Sinne Witters) gekommen” (UA 11/12).
a) Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründet (st. Rspr.; BGHSt 34, 22, 26 f.; 42, 385 f.). Davon geht das Landgericht auch aus. Dies beschwert den Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung nicht. Doch genügen die knappen Ausführungen nicht, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob das Landgericht die Voraussetzungen des § 63 StGB zu Recht bejaht und dabei beachtet hat, daß der Zweifelssatz insoweit keine Anwendung findet (BGHSt 42, 385, 388). Triebstörungen können in Form eines überdurchschnittlich stark ausgeprägten Geschlechtstriebs auftreten oder in der Weise, daß die Triebbefriedigung auf ein Sexualverhalten ausgerichtet ist, das naheliegend oder – wie bei der Pädophilie – zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann. In beiden Fällen begründet die Triebstörung als solche aber noch nicht die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB (st. Rspr.; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 32). Auch eine Devianz im Sexualverhalten in Form einer Pädophilie (ICD 10 F 65.4; vgl. Tölle Psychiatrie 11. Aufl. ≪1966≫ S. 133) ist nicht ohne weiteres mit einer schweren seelischen Abartigkeit gleichzusetzen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die von der Norm abweichende sexuelle Präferenz den Täter in seiner Persönlichkeit so nachhaltig verändert hat, daß sein Hemmungsvermögen in bezug auf strafrechtlich relevantes Sexualverhalten erheblich herabgesetzt ist (BGHR aaO 33 m.w.N.). Jedenfalls kann auch eine pädophile Neigung – nicht anders als sonstige Fälle der Persönlichkeitsstörung – nur unter engen Voraussetzungen und nur dann für einen so schwerwiegenden Eingriff, wie ihn die zeitlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darstellt, genügen, wenn feststeht, daß der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (BGHSt 42, 385, 388). Erforderlich hierzu ist eine Ganzheitsbetrachtung der Persönlichkeit des Täters unter Einbeziehung seiner Entwicklung, seines Charakterbildes sowie der ihm zur Last gelegten Taten einschließlich der diesen zugrundeliegenden Motive (BGHR aaO und StGB § 63 Zustand 23).
b) Eine solche Gesamtbetrachtung von Tat und Täter fehlt hier. Auch die Angaben zum bisherigen Werdegang des Angeklagten ergeben keinen Hinweis darauf, daß er seine pädophile Neigung nicht beherrschen kann. Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, daß der Angeklagte bereits zuvor in einschlägiger Weise in Erscheinung getreten ist. Vielmehr legen seine mitgeteilten Beziehungen zu erwachsenen Frauen nahe, daß er durchaus normale Sexualkontakte pflegt(e). Im übrigen weisen die hier abgeurteilten zwölf Taten, die sich über einen Zeitraum von etwas über 2 1/2 Jahren erstrecken, weder durch die Art ihrer Begehung noch durch eine sich steigernde Frequenz auf eine süchtige Entwicklung (BGH NJW 1982, 2009; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 22 m.w.N.) oder in sonstiger Weise darauf hin, daß der Angeklagte infolge seiner pädophilen Veranlagung in seiner Persönlichkeit derart beeinträchtigt war, daß er die Anforderungen an normgemäßes Verhalten nicht oder nur in erheblich geringerem Maße erfüllen konnte als andere Menschen (vgl. BGHR StGB § 63 Zustand 23, 28).
Daß der vom Landgericht gehörte Sachverständige den Angeklagten den „Kernpädophilen” im Sinne der Typologie von Witter zugeordnet hat, führt zu keinem anderen Ergebnis und ersetzt insbesondere nicht die erforderliche Gesamtbeurteilung von Tat und Täter. Zwar beschreibt Witter die „Kernpädophilen” als diejenige Gruppe pädophiler Täter, bei denen sich eine tief in der Charakterstruktur verankerte pädophile Triebanomalie etwa zwischen dem zwanzigsten und fünfundvierzigsten Lebensjahr manifestiert (in Göppinger/Witter ≪Hrsg.≫ Handbuch der Forensischen Psychiatrie, 1972, Bd. II S. 996, 1060). Im übrigen läßt sich die Gruppe der „Kernpädophilen” aber auch nach Witter weder durch typische Merkmale der Persönlichkeitsstruktur noch durch gemeinsame körperliche Merkmale näher charakterisieren (Witter aaO Bd. I S. 499, Bd. II S. 1061; ders. zum Kriterium der „Süchtigkeit” aaO Bd. II S. 1071 ff.). Deshalb bedeutet diese Zuordnung ebenso wie die sonstige Diagnose einer psychosexuellen Störung allein auch aus psychiatrischer Sicht nicht, daß der Betreffende bei der Ausübung seiner Sexualpraktik in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert ist (Nedopil Forensische Psychiatrie ≪1996≫ S. 145). Vielmehr läßt sich eine solche (rechtliche) Wertung nur aufgrund einer differenzierten Diagnostik der Persönlichkeitsstruktur treffen (Schorsch/Pfäfflin in Venzlaff/Foerster (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung 2. Aufl. ≪1994≫, 323, 357 ff., 359). Eine solche läßt aber das Urteil nicht erkennen.
c) Schließlich kann der Maßregelausspruch auch deshalb nicht bestehen bleiben, weil sich das Landgericht nur unzureichend mit der Gefährlichkeitsprognose auseinandergesetzt hat. Insoweit beschränkt sich das Urteil auf die Feststellung, „um für die Zukunft eine Rückfallgefahr weitgehend auszuschließen, (sei) eine therapeutische Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus unumgänglich” (UA 12). Dies genügt unabhängig von der auch insoweit erforderlichen, hier aber fehlenden Gesamtwürdigung des Angeklagten und seiner Taten (vgl. BGHSt 27, 246, 248) schon deshalb nicht, weil das Urteil nicht deutlich macht, jedenfalls aber nicht ausreichend mit Tatsachen belegt, daß bei dem Angeklagten die begründete Wahrscheinlichkeit weiterer (einschlägiger) Straftaten besteht (zum Maßstab vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 19). Die bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt ebensowenig wie eine nur latente Gefahr (vgl. Stree in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 63 Rdn. 14 m.N.).
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich darauf hin, daß der Tatrichter seiner Aufgabe, sich eine eigene Meinung über den Zustand des Angeklagten zu bilden, grundsätzlich nicht dadurch gerecht wird, daß er lediglich die Befunde des Sachverständigen wiedergibt, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen (BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17). Jedenfalls müssen, wenn der Tatrichter dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens ohne Angaben eigener Erwägungen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschluß vom 4. Februar 1997 - 4 StR 629/96 m.w.N.).
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 540781 |
NStZ 1999, 610 |
StV 2000, 18 |
R&P 2000, 80 |