Verfahrensgang
LG Darmstadt (Urteil vom 10.09.2004) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 10. September 2004 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- im Fall II. 27
- im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Darmstadt zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
I. Die auf eine Verletzung der gerichtlichen Hinweispflicht gestützte Verfahrensrüge führt zur Aufhebung der Verurteilung im Fall II. 27 des Urteils (Fall 30 der Anklage).
1. Die Anklageschrift vom 1. Februar 2002 legte dem Angeklagten A. insoweit Folgendes zur Last:
„Im Zeitraum von Anfang März 2000 bis 02.08.2000 verkaufte der Angeschuldigte O. mindestens alle fünf Tage, mithin in 30 Fällen, jeweils ca. 50 – 100 Gramm Kokain in verschiedenen Kaffees in O. an den bereits verurteilten S., der am 02.08.2000 festgenommen wurde. In einem dieser Fälle ca. Mitte des Monats Juli 2000 (rechnerisch Fall 30) übergab der Angeschuldigte A. nach vorheriger Vereinbarung mit dem Angeschuldigten O. dem S. die 100 Gramm Kokain auf dem Marktplatz in O..”
Einen Beweisantrag des Angeklagten, der auf den Nachweis der Behauptung zielte, dass er vom 8. Juli 2000 bis zum 21. August 2000 im Sommerurlaub bei seinen Eltern in M. war, – mithin für den Fall 30 der Anklage ein Alibi hätte – hat die Kammer mit Beschluss vom 23. Januar 2004 abgelehnt, weil die unter Beweis gestellte Tatsache so behandelt werde könne, als wäre sie wahr.
In den Feststellungen des angefochtenen Urteils benennt die Kammer den Monat „Juli 2000” als Tatzeit der oben geschilderten und von der Kammer festgestellten Tat (UA Bl. 7). In der Beweiswürdigung heißt es dazu (UA Bl. 39): „Die Kammer hat als wahr unterstellt, dass sich der Angeklagte A. vom 08.07.2000 bis zum 21.08.2000 bei seinen Eltern in M. aufgehalten hat. Dies widerspricht den Angaben der Zeugin B. nicht, da diese den Vorfall, als der Angeklagte A. auf einen Anruf des Angeklagten O. hin dem S. das Kokain gebracht hat, gerade nicht an einem bestimmten Datum festzumachen vermochte. Sie hat vielmehr in der Hauptverhandlung bekundet, dass es im Sommer 2000 gewesen sei, es könne im Juli gewesen sein. Letzteres ist – vom 01. – 07. Juli – ohne weiteres möglich.”
Ein förmlicher oder informeller Hinweis des Gerichts auf die vom Gericht angenommene Tatzeit für diese Tat ist nicht erfolgt. Der diesbezügliche Vortrag der Revision ist durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahmen der berufsrichterlichen Mitglieder der Strafkammer bestätigt worden, die der Senat dahin versteht, dass der Angeklagte auch aus dem Gang der Hauptverhandlung die veränderte Tatzeit für den Fall II. 27 (Fall 30 der Anklage) nicht entnehmen konnte.
2. Der Angeklagte beanstandet diese Vorgehensweise zu Recht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf der Tatrichter einen Angeklagten nicht darüber im Unklaren lassen, dass er die Verurteilung auf tatsächliche Umstände stützen will, die so in der Anklage nicht enthalten sind. Hat ein Angeklagter für die in der Anklage bezeichnete Tatzeit ein Alibi, so darf das Gericht keine andere Tatzeit feststellen, ohne den Angeklagten vorher auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Dass sich eine andere Tatzeit aus den Bekundungen von Beweispersonen ergibt, ist für sich allein nicht ausreichend. Es muss vielmehr deutlich geworden sein, dass das Gericht selbst diesen Gesichtspunkt aufgenommen und in die Erwägungen einbezogen hat, die für die Entscheidung bedeutsam sind (vgl. BGH NStZ 1994, 502, 503; BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 3, 8, BGHR § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 3, 12).
In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen war allerdings regelmäßig die Tatzeit in der Anklage genauer eingegrenzt, etwa auf einen bestimmten Tag oder sogar bestimmte Stunden eines Tages, während hier mit der Angabe in der Anklageschrift „ca. Mitte Juli” die Tatzeit von vornherein ungenauer bezeichnet ist. Ob bei einer im Hinblick auf die Tatzeit ungenau gefassten aber wirksamen Anklage die Hinweispflicht entfallen kann, wenn sich lediglich eine genauere Konkretisierung der Tatzeit im Laufe der Hauptverhandlung ergibt (vgl. BGHSt 48, 221), bedarf hier keiner Entscheidung. Ein solcher Fall liegt nicht vor, denn die Strafkammer ist mit der Annahme einer Tatbegehung in der Zeit zwischen dem 1. Juli und 7. Juli, also Anfang Juli, von einer anderen als der angeklagten Tatzeit ausgegangen. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, war die Strafkammer jedenfalls auch unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens gehalten, einen entsprechenden Hinweis zu erteilen, da sie mit der Wahrunterstellung der in dem Beweisantrag behaupteten Tatsachen einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Der Angeklagte ging ersichtlich davon aus, dass er mit der im Beweisantrag behaupteten Tatsache ein Alibi habe, welches seine Täterschaft bei der genannten Tat ausschließe.
3. Ein Beruhen des Schuldspruchs im Fall II. 27 (Fall 30 der Anklage) auf dem aufgezeigten Rechtsfehler kann der Senat nicht ausschließen. Es kommt in Betracht, dass der Beschwerdeführer nach gegebenem Hinweis weitere Beweisanträge hinsichtlich eines Alibis für die geänderte Tatzeit gestellt hätte (vgl. BGHSt 30, 383, 385).
II. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 27 führt zur Aufhebung des entsprechenden Einzelstrafausspruchs und des Ausspruchs über die Gesamtfreiheitsstrafe. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass bei Wegfall der Einzelstrafe von drei Jahren die Gesamtfreiheitsstrafe niedriger ausgefallen wäre.
III. Im Übrigen sind die Verfahrensrügen und die Sachrüge aus den zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 15. Juli 2005 unbegründet. Entgegen der Auffassung der Revision und des Generalbundesanwalts – dieser nur für die Gesamtstrafenzumessung – greift auch die Rüge nicht durch, mit der die Nichtberücksichtigung besonderer Belastungen durch die Unterbringung des Angeklagten während der Sitzungstage in einer Vorführzelle beanstandet wird.
Die Revision trägt vor, dass sich die Hauptverhandlung über zwei Jahre erstreckte. Dabei sei an den insgesamt 91 Hauptverhandlungstagen an 57 Tagen (abzüglich etwaiger Verhandlungspausen) maximal eine Stunde verhandelt worden. Der Angeklagte habe die sitzungsfreie Zeit zwischen dem Transport von der Justizvollzugsanstalt zum Landgericht gegen 7.00 Uhr morgens bis zum Rücktransport zwischen 14.00 Uhr und 16.00 Uhr in der Vorführzelle verbringen müssen, er habe deshalb am Hofgang nicht teilnehmen können. Auch habe es in der Vorführzelle weder Lesestoff, Radio oder Fernsehen gegeben.
Die Rüge, die es versäumt, die Gründe für die vereinbarten Kurztermine zu benennen – sie beruhten teilweise auf einer Vereinbarung aller Verfahrensbeteiligten –, ist jedenfalls nicht begründet. Bei den von der Revision vorgetragenen Umständen handelt es sich nicht um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne von § 267 Abs. 3 StPO, der der Erörterung in den Urteilsgründen bedurfte. Zwar kann aus dem Rechtsgedanken des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB gefolgert werden, dass besonders schweren Haftbedingungen Rechnung zu tragen ist. Wie der Bundesgerichtshof zu der unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen vollzogenen Untersuchungshaft in der DDR entschieden hat, kann es in solchen Fällen gerechter Strafzumessung entsprechen, besondere Härten der Haft strafmildernd zu berücksichtigen (BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 27). Dass daran gemessen die von der Revision geschilderten Beschwernisse nicht heranreichen, liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung. Ebenso wenig sind sie vergleichbar mit den Haftbedingungen, die nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben zu einer Anrechnung ausländischer Untersuchungshaft zu einem günstigeren Maßstab führen. Die von der Revision geschilderten Umstände der Unterbringung in der Vorführzelle, die jeweils höchstens acht bis neun Stunden andauerte und allenfalls im Wochenabstand erfolgte, belegen lediglich eine mit dieser Unterbringung verbundene Langeweile. Die Untersuchungshaft dient u.a. der Durchführung der Hauptverhandlung, zur Sicherung dieses Zwecks müssen gewisse Einschränkungen hingenommen werden. Abgesehen davon hat die Revision auch nicht dargetan, dass der Angeklagte gehindert gewesen wäre, sich Lesestoff mitzunehmen. Die mit der langen Verhandlungsdauer verbundene psychische Belastung hat die Strafkammer mit der ausdrücklich strafmildernd gewerteten „langen Dauer der bereits erlittenen Untersuchungshaft” berücksichtigt.
Unterschriften
Bode, Otten, Rothfuß, Roggenbuck, Appl
Fundstellen
Haufe-Index 2556579 |
NStZ-RR 2006, 213 |
StV 2006, 121 |
StraFo 2006, 75 |