Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 06.05.2005) |
Nachgehend
Tenor
Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 6. Mai 2005 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Tatbestand
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
1. Der Verurteilte wurde am 13. Dezember 1996 vom Landgericht München I wegen versuchten Totschlags in Tatmehrheit mit Körperverletzung und zwei jeweils selbstständigen Fällen der gefährlichen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet. Die Freiheitsstrafe hat der Verurteilte bis zum 10. Dezember 2004 vollständig verbüßt, wobei er vom 22. November 2002 bis zum 11. Juni 2003 in einer Entziehungsanstalt untergebracht war. Am 5. Oktober 2004 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, gegen den Verurteilten die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB anzuordnen. Aufgrund Unterbringungsbefehl gemäß § 275a Abs. 5 StPO vom 6. Dezember 2004 ist der Verurteilte bis heute untergebracht.
2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
a) Der Verurteilte wuchs teilweise bei seiner Mutter und deren wechselnden Lebenspartnern – sein Vater ist ihm unbekannt – und in verschiedenen Kinderheimen auf. Er besuchte ab dem zweiten Schuljahr eine Sonderschule, die er häufig schwänzte. Eine Ausbildung zum Maler wurde vom Lehrherrn nach ein bis zwei Monaten abgebrochen, weil der Verurteilte seiner Berufsschulpflicht nicht nachkam. Er lebte überwiegend von Sozialhilfe. Im Alter von 17 Jahren absolvierte er eine dreimonatige „Ausbildung” zum Kick-Boxer. Seit seinem zwölften Lebensjahr konsumierte er Cannabis-Produkte, seit dem 17. Lebensjahr auch Kokain sowie Heroin und seit seinem 24. Lebensjahr zusätzlich große Mengen Alkohol.
b) Der Bundeszentralregisterauszug des Verurteilten enthält zwölf Eintragungen. Mit 14 Jahren stand er zum ersten Mal – wegen Diebstahls – vor Gericht. Mit 18 Jahren wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Körperverletzung zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das Gericht wertete diese Taten als „extreme Aggressionsdelikte”. Der Verurteilte hatte u.a. einem Besucher des Münchner Christkindlmarkts einen Fußkick gegen die linke Gesichtshälfte versetzt. Der Geschädigte erlitt u.a. einen Kieferhöhlen- und Augenhöhlenbruch, musste mehrfach operiert werden und hat heute noch im Gesicht eine Asymmetrie und taube Stellen.
c) Dem Urteil vom 13. Dezember 1996 lagen folgende Sachverhalte zugrunde:
aa) Der Verurteilte hatte mit dem … S. eine Rauferei. Als diese beendet und S. im Weggehen begriffen war, versetzte ihm der Verurteilte von hinten mit einem Messer einen wuchtigen und tiefreichenden Stich in den rechten Bauchbereich. S. erlitt einen Durchstich der Leber und konnte nur durch eine umgehend durchgeführte Notoperation gerettet werden.
bb) Im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung mit der Sch. zog der Verurteilte eine mitgeführte Gaspistole, hielt sie in einem Abstand von ca. 10 cm auf das Gesicht der Sch. gerichtet und schoss aus dieser Entfernung. Die zu Boden gestürzte Sch. trat er mit dem Knie und den Füßen und schlug mit den Fäusten mehrmals gegen ihren Kopf. Als deren Freundin B. sie zu schützen versuchte, schlug sie der Verurteilte mit dem Ellenbogen, dem Knie und der Faust in das Gesicht, was u.a. eine Gehirnerschütterung verursachte. Erst durch das Eingreifen von Passanten konnte der Verurteilte von weiteren Angriffen gegen die beiden Frauen abgehalten werden.
cc) Nach einem Streit mit dem ihm bekannten Be. zog der Verurteilte mit den Worten „jetzt bist dro” ein Klappmesser und versetzte Be. drei wuchtig geführte Stiche in die beiden Oberschenkel, wobei ein Stich (Stichtiefe 8 cm) die Oberschenkelschlagader nur knapp verfehlte.
Bei allen Taten stand der Verurteilte unter dem Einfluss von Alkohol und Arzneimitteln. Die Strafkammer sah von der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB im Hinblick auf § 72 StGB ab, weil sie auch die Voraussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB als erfüllt ansah, nachdem sich der Verurteilte in der Hauptverhandlung glaubhaft schuldeinsichtig und therapiemotiviert gezeigt hatte.
d) Die Strafe aus dem Urteil vom 13. Dezember 1996 verbüßte der Verurteilte in der JVA Straubing. Hier wurde bei ihm ein „hohes Aggressionspotential” festgestellt. Es kam zu einer Vielzahl von Disziplinarverfahren. Einem dieser Verfahren lag zugrunde, dass der Verurteilte wiederholt Rasierklingen unter seinem Haftraumtisch befestigt hatte, damit Vollzugsbeamte bei der Zellenkontrolle sich verletzen konnten.
Die im November 2002 begonnene Unterbringung in einer Entziehungsanstalt musste im Juni 2003 als aussichtslos abgebrochen werden, nachdem der Verurteilte mehrfach bezüglich Cannabis, Heroin und Kokain rückfällig geworden war. Auch in der Haft – vor wie nach der Unterbringung – hat der Verurteilte regelmäßig Rauschgift und Alkohol konsumiert.
3. Das Landgericht hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB bejaht. Es hat weiterhin in einer grundlegenden Haltungsänderung des Verurteilten hinsichtlich der Wertung seiner Taten und seiner Therapiemotivation, aus der sich auch die zahlreichen Disziplinarverstöße und der Therapieabbruch ergeben hätten, neue Tatsachen gesehen, die den Schluss auf eine deutlich erhöhte Gefährlichkeit des Verurteilten zuließen. Auf der Grundlage der Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. N. und Dr. H. ist das Landgericht nach Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung im Strafvollzug zu der Überzeugung gelangt, dass er nach einer Einlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen würde, durch welche die Opfer in ihrer körperlichen Unversehrtheit schwer geschädigt würden.
Entscheidungsgründe
II.
Das Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB setzt eine besonders sorgfältige Abwägung zwischen dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Verurteilten und den Freiheitsgrundrechten der durch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung Betroffenen voraus. Eine solche Maßnahme kommt nur bei einer geringen Anzahl denkbarer Fälle in Betracht, wovon auch der Gesetzgeber ausdrücklich ausgegangen ist (BTDrucks. 15/2887 S. 10; vgl. auch BVerfGE 109, 190, 236; Senatsurteil vom 11. Mai 2005 – 1 StR 37/05 –, NJW 2005, 2022, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05).
1. Grundlage einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung können nur Tatsachen sein, die erst nach einer Verurteilung erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Das Verfahren nach § 66b StGB gilt insbesondere nicht der Korrektur rechtsfehlerhafter früherer Entscheidungen, die von der Staatsanwaltschaft nicht beanstandet wurden (Senat aaO).
Die grundlegende Haltungsänderung des Verurteilten, der vor der Verurteilung glaubhaft schuldeinsichtig und therapiemotiviert war und nach der Verurteilung Obstruktion betrieben und den Therapieabbruch provoziert hat, erfüllt die Voraussetzungen der erforderlichen „neuen” Tatsache. Insbesondere sah sich das frühere Tatgericht im Hinblick auf den Vorrang einer Maßnahme nach § 64 StGB nachvollziehbar nicht in der Lage, bereits zum Zeitpunkt der damaligen Hauptverhandlung die Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die Taten des Verurteilten waren auf seinen Hang zurückzuführen, alkoholische Getränke und sonstige Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Das Gericht konnte daher davon ausgehen, dass es den Zweck, die Gefahr weiterer rechtswidriger Taten abzuwenden, auch mit der den Verurteilten weniger beschwerenden Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erreichen konnte.
2. Kern der materiell-rechtlichen Prüfung einer Maßregel nach § 66b StGB ist – unter Einschluss der Tatsachen, die die Prüfung ausgelöst haben – die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs. Mit einer solchen umfassenden Abwägung soll einer unzulässigen Übergewichtung einzelner neuer Tatsachen entgegengewirkt werden.
Das Landgericht stellt seine Abwägung zutreffend auf eine entsprechend breite Grundlage. Als negativ für die vorzunehmende Prognose wertet es die biographischen Faktoren des Verurteilten, insbesondere die seit der Kindheit instabilen Lebensverhältnisse und frühe Verhaltensauffälligkeiten, seine durch eine dissoziale Störung gekennzeichnete Persönlichkeit, die durch Aggressivität und Brutalität gekennzeichneten Vor- und Anlasstaten sowie die hohe Frequenz der Straffälligkeit, das Suchtverhalten des Verurteilten und die Disziplinarverstöße im Vollzug mit zum Teil aggressiven und auch hinterlistigen Tendenzen. In dieser Gesamtschau gewinnt auch die vom Landgericht als neue Tatsache zugrunde gelegte Haltungsänderung des Verurteilten bis hin zu einer Verweigerungshaltung erhebliches Gewicht. Wenn das Landgericht demnach – gestützt auf fundierte Gutachten der beiden Sachverständigen – die hohe
Wahrscheinlichkeit schwerer Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit anderer für ausreichend belegt hält, ist dies von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
Unterschriften
Nack, Wahl, Boetticher, Kolz, Elf
Fundstellen