Verfahrensgang
Tenor
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB).
A.
I.
1. Das Landgericht hatte den Beschwerdeführer im Jahre 1996 wegen versuchten Totschlags, vorsätzlicher Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt angeordnet und den Vorwegvollzug einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verfügt. Dabei hatte sich das Landgericht auch mit der Frage der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB auseinandergesetzt, der Maßnahme nach § 64 StGB aber im Hinblick auf § 72 Abs. 1 StGB den Vorrang gegeben.
2. Der Beschwerdeführer befand sich bis 23. November 2002 im Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe und anschließend bis zum 11. Juni 2003 im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 30. Mai 2003 hatte die Strafvollstreckungskammer angeordnet, dass die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 67d Abs. 5 StGB nicht weiter zu vollziehen sei, weil die weitere Unterbringung aus therapeutischer Sicht keine Aussicht auf Erfolg habe und die Gründe hierfür ausschließlich in der Person des Beschwerdeführers lägen. Bis 10. Dezember 2004 (Strafende) verbüßte der Beschwerdeführer daraufhin die noch offene Reststrafe.
II.
1. Am 5. Oktober 2004 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Beschwerdeführer die Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB anzuordnen und nach § 275a Abs. 5 Satz 1 StPO einen Unterbringungsbefehl zu erlassen. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2004 ordnete das Landgericht die einstweilige Unterbringung an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 30. Dezember 2004 (veröffentlicht NStZ 2005, S. 573) als unbegründet ab.
2. In der Hauptsache ordnete das Landgericht mit Urteil vom 6. Mai 2005 die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers gemäß § 66b Abs. 2 StGB an. Dabei stützte es das Vorliegen neuer Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB vornehmlich darauf, dass der Beschwerdeführer sich zum Zeitpunkt seiner Verurteilung schuldeinsichtig und therapiewillig gezeigt, die in ihn gesetzten Erwartungen des Gerichts aber durch sein im Strafvollzug und Vollzug der Maßregel gezeigtes Verhalten enttäuscht habe. Das Gericht wertete die zu Tage getretene Therapieresistenz und fehlende Verantwortungsübernahme des Beschwerdeführers für seine Tat als dem Tatgericht nicht erkennbare neue erhebliche Tatsachen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die Allgemeinheit hinwiesen. Ergänzend stützte das Gericht seine Entscheidung auf disziplinarische Vergehen des Beschwerdeführers, nämlich ein zweimaliges Anbringen von Rasierklingen unter dem Tisch seines Haftraums, das Zu-Boden-Stoßen eines Mitinsassen im Maßregelvollzug, der ihn als “aidskranken Knacki” bezeichnet hatte, und das Einschlagen auf eine Grünpflanze, nachdem ihm aufgrund des letztgenannten Vorfalls Vollzugslockerungen widerrufen worden waren.
3. Mit seiner Revision beanstandete der Beschwerdeführer, dass das Gericht nicht geprüft habe, ob bei ihm ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliege. Außerdem hätten keine neuen erheblichen Tatsachen vorgelegen, die eine gegenüber dem Zeitpunkt der Verurteilung erhöhte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers indiziert hätten. Das Landgericht habe ferner zu Unrecht aus den – durch die Drogensucht bedingten – Rückfällen und dem Abbruch der Maßregel nach § 64 StGB eine Therapieverweigerung durch den Beschwerdeführer gefolgert.
4. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision mit Beschluss vom 8. Dezember 2005 als unbegründet. Die grundlegende Haltungsänderung des Beschwerdeführers, der vor der Verurteilung glaubhaft schuldeinsichtig und therapiemotiviert gewesen sei und nach der Verurteilung Obstruktion betrieben und den Therapieabbruch provoziert habe, erfülle die Voraussetzungen der erforderlichen neuen Tatsachen.
III.
Mit seiner fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofs und das Urteil des Landgerichts. Der Beschwerdeführer trägt vor, die Vorschrift des § 66b StGB verstoße gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG, gegen das allgemeine Vertrauensschutzgebot gemäß Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, gegen Art. 104 Abs. 1 GG und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Indem die Fachgerichte auf die Prüfung des Tatbestandsmerkmals des Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten verzichteten und in der angeblichen Therapieverweigerung und Haltungsänderung hinsichtlich der Wertung seiner Taten neue Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB sahen, hätten sie die Vorschrift des § 66b StGB jedenfalls in verfassungswidriger Weise ausgelegt und angewendet.
IV.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bayerische Staatsministerium der Justiz, der Präsident des Bundesgerichtshofs und der Generalbundesanwalt Stellung genommen.
B.
I.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Zulässigkeit der Sicherungsverwahrung und ihrer nachträglichen Anordnung sind bereits Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen gewesen (vgl. BVerfGE 109, 133; 190). Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet.
II.
Die gesetzliche Ermächtigung zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB verstößt nicht gegen Verfassungsrecht.
1. Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG liegt nicht vor.
Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Die Sicherungsverwahrung stellt demgegenüber eine präventive Maßnahme dar, deren Zweck es nicht ist, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen (vgl. BVerfGE 109, 133 ≪167 ff.≫; 190 ≪219≫).
2. Die Vorschrift des § 66b Abs. 2 StGB verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
Das Vertrauensschutzgebot bewahrt den Bürger vor der Enttäuschung schutzwürdigen Vertrauens durch eine belastende Neuregelung. Grundsätzlich unzulässig ist die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitraum eintreten (sogenannte “echte” Rückwirkung). Die Zulässigkeit einer tatbestandlichen Rückanknüpfung (“unechte” Rückwirkung), bei der die Rechtsfolge an einen vor der Verkündung der Norm liegenden Sachverhalt anknüpft, ist von der Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des mit der Rückanknüpfung verfolgten gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl abhängig (vgl. BVerfGE 109, 133 ≪180 ff.≫ m.w.N.). Eine solche tatbestandliche Rückanknüpfung entfaltet die Neuregelung des § 66b StGB, die zwar gegebenenfalls an eine vor ihrer Verkündung begangene Anlasstat anknüpft, nicht aber nachträglich eine an die Anlasstat anknüpfende Rechtsfolge ändert.
Mit der Neuregelung des § 66b StGB verfolgte der Gesetzgeber das Ziel eines effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor einzelnen hochgefährlichen Straftätern, von denen weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (vgl. BT-Drucks. 15/2887, S. 1, 10). Der Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪236≫). Die vom Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative getroffene Wertung, die Vertrauensschutzbelange der von der Neuregelung betroffenen Verurteilten müssten hinter dieses Gemeinwohlinteresse zurücktreten, ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden; insoweit gilt nichts anderes als für den Wegfall der Höchstdauer einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung durch Art. 1a Abs. 3 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (vgl. BVerfGE 109, 133 ≪180 ff.≫).
3. Die Neuregelung des § 66b Abs. 2 StGB verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
Als Mittel zum Schutz von Leben, Unversehrtheit und Freiheit der Bürger kann der Gesetzgeber unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips demjenigen die Freiheit entziehen, von dem ein Angriff auf diese Schutzgüter zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪236≫). Die enge Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 66b StGB kann gewährleisten, dass die Maßnahme der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung – wie vom Gesetzgeber beabsichtigt (vgl. BT-Drucks. 15/2887, S. 10, 11) – nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt und auf einige wenige Verurteilte beschränkt bleibt und somit als verhältnismäßige Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
a) Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt nach § 66b Abs. 1 StGB, auf den § 66b Abs. 2 StGB verweist, voraus, dass vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Nach dem Willen des Gesetzgebers muss es sich dabei um Tatsachen handeln, die jenseits einer gewissen Erheblichkeitsschwelle liegen (vgl. BT-Drucks. 15/2887, S. 10, 12), die also einerseits in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen und andererseits nach anerkannten und überprüfbaren Maßstäben auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten schließen lassen (vgl. BGH, 4 StR 483/05 vom 9. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 384 ≪385≫; BGH, 4 StR 485/05 vom 12. Januar 2006, veröffentlicht NStZ 2006, S. 276 ≪278≫; BGH, 2 StR 598/05 vom 3. Februar 2006, Absatz-Nr. 14; BGH, 5 StR 585/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1442 ≪1444≫; BGH, 1 StR 476/05 vom 23. März 2006, Absatz-Nr. 18, 28). Neue Tatsachen, die für Strafgefangene typische Verhaltensweisen indizieren, fallen nicht ohne Weiteres hierunter (vgl. BGH, 2 StR 272/05 vom 25. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 531 ≪535≫; BGH, 4 StR 222/05 vom 19. Januar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1446 ≪1448≫; BGH, 4 StR 393/05 vom 19. Januar 2006, Absatz-Nr. 12).
Neu sind Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB nach der Vorstellung des Gesetzgebers, wenn sie erst im Vollzug der Freiheitsstrafe bekannt geworden sind (vgl. BT-Drucks. 15/2887, S. 10, 12). Die Rechtsprechung hat dies dahin konkretisiert, dass die Tatsachen dem letztinstanzlich zuständigen Gericht im Ausgangsverfahren auch nicht bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Aufklärungspflichten hätten bekannt werden können (vgl. BGH, 1 StR 37/05 vom 11. Mai 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 2022 ≪2023≫; BGH, 2 StR 9/05 vom 1. Juli 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 3078 ≪3080≫; BGH, 4 StR 483/05 vom 9. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 384 ≪385≫; BGH, 2 StR 272/05 vom 25. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 531 ≪535≫; BGH, 4 StR 485/05 vom 12. Januar 2006, veröffentlich NStZ 2006, S. 276 ≪277≫; BGH, 2 StR 598/05 vom 3. Februar 2006, Absatz-Nr. 13; BGH, 2 StR 4/06 vom 15. Februar 2006, Absatz-Nr. 15; BGH, 5 StR 552/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NStZ-RR 2006, S. 172; BGH, 1 StR 476/05 vom 23. März 2006, Absatz-Nr. 18, 22). Damit wird sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (vgl. BGH, 1 StR 37/05 vom 11. Mai 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 2022 ≪2023≫; BGH, 2 StR 9/05 vom 1. Juli 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 3078 ≪3080≫; BGH, 2 StR 272/05 vom 25. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 531 ≪535≫; BGH, 4 StR 485/05 vom 12. Januar 2006, veröffentlicht NStZ 2006, S. 276 ≪278≫; BGH, 5 StR 552/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NStZ-RR 2006, S. 172 ≪173≫; BGH, 5 StR 585/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1442 ≪1444≫). Als neue Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 StGB kommen mithin nur solche in Betracht, die die Gefährlichkeit des Verurteilten in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dies setzt zwar nicht eine gegenüber dem Zeitpunkt der Verurteilung objektiv gesteigerte Gefährlichkeit voraus (so OLG Koblenz, Beschluss vom 21. September 2004 – 1 Ws 561/04 –, veröffentlicht NStZ 2005, S. 97, ≪100≫; a.A. OLG Brandenburg, Beschluss vom 6. Januar 2005 – 2 Ws 229/04 –, veröffentlicht NStZ 2005, S. 272, ≪275≫), jedoch eine nach Überzeugung des über die Anordnung befindenden Gerichts gesteigerte Gefährlichkeit.
b) Anders als § 66b Abs. 1 StGB, der nach seinem Wortlaut fordert, dass die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind und somit die Feststellung eines Hanges des Verurteilten zu erheblichen Straftaten gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt (vgl. BGH, 1 StR 37/05 vom 11. Mai 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 2022 ≪2025≫), verzichtet § 66b Abs. 2 StGB auf dieses Merkmal (a.A. BGH, 5 StR 585/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1442 ≪1445≫). Die Feststellung der psychologischen Tatsache eines Hanges zu erheblichen Straftaten ist nicht gleichbedeutend mit der von § 66b Abs. 2 StGB und – zusätzlich – von § 66b Abs. 1 StGB geforderten Prognose der künftigen Begehung erheblicher Straftaten, kann aber eine Basistatsache für eine solche Prognose darstellen.
Die gesetzgeberische Entscheidung für einen grundsätzlichen Verzicht auf die Feststellung eines Hanges zu erheblichen Straftaten in § 66b Abs. 2 StGB ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden, da die Vorschrift gegenüber § 66b Abs. 1 StGB weitere limitierende Merkmale in Form einer verhängten Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und einer weiteren Begrenzung des Anlasstatenkatalogs enthält. Im Einzelfall kann die Feststellung eines Hanges zu erheblichen Straftaten gleichwohl geboten sein, wenn andere Basistatsachen nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf die künftige Begehung erheblicher Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, schließen lassen (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪241≫).
c) Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB setzt voraus, dass der Verurteilte nach Überzeugung des Gerichts künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Dabei muss es sich um eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit handeln; eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung reicht nicht aus (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪242≫). Hinzukommen muss, dass von dem Betroffenen eine gegenwärtige erhebliche Gefahr ausgeht (vgl. BVerfG a.a.O.). Durch den Aspekt ihrer Gegenwärtigkeit hebt sich die zu prognostizierende Gefährlichkeit von einer allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit ab.
d) Die Prognose neuer erheblicher Straftaten erfordert eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs. Mit dieser Gesamtwürdigung ist, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt (vgl. BT-Drucks. 15/2887, S. 12), sichergestellt, dass nicht einzelne Ereignisse und Verhaltensweisen des Verurteilten isoliert als Basistatsachen der Gefährlichkeitsprognose herangezogen, sondern diese eingebettet in den Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte und der Kriminalitäts-, Vollzugs- und gegebenenfalls Suchthistorie des Betroffenen wahrgenommen werden. Unter diesen Gesichtspunkten hat das Gericht auch die neuen Tatsachen in ihren gegen die erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen sprechenden Aspekten wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen. Einer Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen steht dies, wie der Gesetzgeber durch das Wort “ergänzend” zum Ausdruck gebracht hat, entgegen (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪241≫).
e) Über diese gesetzlichen Beschränkungen des Anwendungsbereichs hinaus gebietet der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf die mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbundene nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu verzichten, wenn mildere Mittel zur Erreichung des mit diesem Instrument verfolgten Zwecks zur Verfügung stehen oder eine Gesamtabwägung im Einzelfall ein Überwiegen der Freiheitsrechte des Betroffenen gegenüber den schutzwürdigen Allgemeininteressen ergibt. Als mildere Mittel kommen namentlich in Betracht die Anordnung von Führungsaufsicht (§§ 68f StGB), gegebenenfalls mit begleitender Erteilung von Weisungen (§ 68b StGB), Maßnahmen der Entlassenenhilfe (vgl. §§ 74 Satz 2, 126 StVollzG) und des Opferschutzes (vgl. etwa § 406d Abs. 2 StPO) oder auch präventive Maßnahmen auf polizeirechtlicher Grundlage (vgl. die Sondervoten zum Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/02, 2 BvR 1588/02 –, veröffentlicht BVerfGE 109, 244, ≪248≫; BGH, 5 StR 585/05 vom 22. Februar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1442 ≪1445 f.≫). Ob mildere Mittel in Betracht kommen, hängt dabei auch vom Kreis der potentiellen Opfer ab. Richtet sich die Gefährlichkeit des Verurteilten zum Beispiel gegen bestimmte einzelne Personen oder auf die Begehung milieutypischer Straftaten, kann es verfassungsrechtlich geboten sein, den staatlichen Schutzauftrag für die gefährdeten Personen und Rechtsgüter dadurch wahrzunehmen, dass sich der Staat schützend vor die potentiellen Opfer stellt oder der Begehung neuer Straftaten durch präventive Maßnahmen auf polizeirechtlicher Grundlage entgegenwirkt. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf seltene Ausnahmefälle beschränkt bleibt.
III.
Nach diesen Maßstäben verstößt die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung durch das Urteil des Landgerichts vom 6. Mai 2005 gegen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 8. Dezember 2005 setzt diese Grundrechtsverletzung fort.
1. Die Fachgerichte stützen die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB auf einen beim Beschwerdeführer im Laufe des Vollzugs durch mehrfache Drogen- und Alkoholrückfälle zu Tage getretenen Wegfall der Therapiemotivation und auf eine grundlegende Haltungsänderung hinsichtlich der Bewertung seiner Tat. Da der Beschwerdeführer sich bei seiner Verurteilung in glaubwürdiger Weise therapiemotiviert und schuldeinsichtig gegeben habe, seien diese Tatsachen dem damaligen Gericht nicht erkennbar gewesen. Ergänzend ziehen die Fachgerichte als neue Tatsachen zwei disziplinarische Vorfälle aus der Zeit des Strafvollzugs und der Unterbringung in der Entziehungsanstalt heran.
a) Ein erst während des Vollzugs zu Tage tretender Wegfall der Therapiemotivation ist grundsätzlich geeignet, eine neue Tatsache im Sinne des § 66 b Abs. 1 StGB darzustellen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweist (vgl. BGH, 1 StR 37/05 vom 11. Mai 2005, veröffentlicht NJW 2005, S. 2022 ≪2024≫; BGH, 4 StR 483/05 vom 9. November 2005, veröffentlicht NJW 2006, S. 384 ≪385 f.≫; BGH, 4 StR 222/05 vom 19. Januar 2006, veröffentlicht NJW 2006, S. 1446 ≪1447≫; BGH, 4 StR 393/05 vom 19. Januar 2006, Absatz-Nr. 17). Dies ist der Fall, wenn gerade die psychologische Tatsache des Wegfalls der Motivation eine nach Auffassung des Gerichts gegenüber dem Zeitpunkt der Verurteilung gesteigerte Gefährlichkeit indiziert. Es liegt auf der Hand, dass eine suchtmittelabhängige Person, die sich widerstandslos ihrer Abhängigkeit hingibt und keinerlei Anstalten mehr unternimmt, ein suchtmittelfreies Leben zu führen, unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anders einzuschätzen sein kann als eine Person, die ihre Suchtproblematik – wenn auch bislang erfolglos – bekämpft. Dasselbe gilt, wenn während des Vollzugs ein neues Krankheitsbild auftritt, das der Therapierbarkeit entgegensteht (vgl. BGH, 1 StR 27/06 vom 24. März 2006).
Eine neue Tatsache liegt demgegenüber nicht vor, wenn die Gefährlichkeit sich ausschließlich als Folge der – zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits bekannten – unbewältigten Suchtproblematik darstellt. In diesem Fall hätte es bereits dem über die Anlasstat befindenden Gericht offen gestanden, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit zu ergreifen, etwa neben der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Sicherungsverwahrung anzuordnen (§§ 66, 72 Abs. 2 StGB) und gegebenenfalls später zur Bewährung auszusetzen (§ 67d Abs. 2 StGB) oder vorzubehalten (§ 66a StGB). Das Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Hinblick auf die Unterbringung nach § 64 StGB setzt ein hohes Maß an prognostischer Sicherheit voraus, dass mit der Unterbringung die vom Betroffenen ausgehende Gefahr beseitigt werden kann (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 53. Auflage 2006, § 72 Rn. 2a m.w.N.). Wird die Erwartung des Gerichts durch in der Suchterkrankung begründete – und damit dem Gericht grundsätzlich erkennbare – Umstände enttäuscht, so kann das Instrument der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht als Korrektiv der unrichtigen Prognose herangezogen werden. So liegt es hier.
b) Eine Haltungsänderung des Verurteilten hinsichtlich der Bewertung seiner Tat kann grundsätzlich eine neue Tatsache im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB darstellen, wenn in einem solchen Verhalten Hinweise für einen Gesinnungswandel liegen, der eine erhöhte Gefährlichkeit des Betroffenen begründet.
Ob hier ohne Weiteres aus den relativierenden Äußerungen des Beschwerdeführers auf eine grundlegende Haltungsänderung hinsichtlich der Bewertung seiner Tat geschlossen werden kann, mag dahinstehen. Die Fachgerichte stellen jedenfalls nicht fest, dass diese Haltungsänderung nach anerkannten und überprüfbaren Maßstäben einen Hinweis auf eine gegenüber dem Zeitpunkt der Verurteilung erhöhte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers darstellt. Dasselbe gilt für die Tatsachen des Anbringens von Rasierklingen unter dem Haftraumtisch, des Zu-Boden-Stoßens eines Mitgefangenen und des Einschlagens auf eine Grünpflanze.
c) In der Gesamtschau der den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde gelegten neuen Tatsachen zeigt sich, dass die Fachgerichte an die Frage einer im Vollzug zu Tage getretenen erheblichen Gefährlichkeit des Beschwerdeführers Maßstäbe des Wohlverhaltens anlegen, die sonst bei der Verhängung disziplinarischer Maßnahmen, der Gewährung von Lockerungen und der Strafrestaussetzung zur Bewährung herangezogen werden. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung folgt nicht diesen Maßstäben, sondern setzt bereits auf der Stufe der Feststellung neuer Tatsachen einen empirisch belastbaren Zusammenhang zwischen den im Vollzug erkennbar gewordenen Tatsachen und einer durch sie zu Tage getretenen erheblichen Gefährlichkeit des Betroffenen voraus. Ubiquitäre und vollzugstypische Verhaltensweisen können also nicht ohne weitere Feststellungen als Hinweise auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen gewertet werden.
2. Nicht ausreichend belegt ist auch die vom Landgericht prognostizierte hohe Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten des Beschwerdeführers. Es reicht verfassungsrechtlich nicht aus, eine hohe Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 66b StGB bereits dann anzunehmen, wenn überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Betroffenen hindeuten. Erforderlich ist die Feststellung einer gegenwärtigen erheblichen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit. Bloße Erwägungen zur Rückfallwahrscheinlichkeit genügen dem nicht, zumal, wenn sie wie vorliegend nicht den Gesichtspunkt der Rückfallgeschwindigkeit in den Blick nehmen.
C.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 1573323 |
NJW 2006, 3483 |
JR 2006, 474 |
NStZ 2007, 87 |
JA 2007, 315 |
JZ 2007, 582 |
BewHi 2007, 219 |
NJW-Spezial 2006, 568 |
NPA 2007 |
StV 2006, 574 |
R&P 2006, 207 |