Verfahrensgang
LG Stade (Urteil vom 30.01.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 30. Januar 2002 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
- im Schuldspruch, soweit der Angeklagte wegen vorsätzlichen Vollrausches verurteilt wurde und
- im gesamten Rechtsfolgenausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichen Vollrausches zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Nach den Feststellungen schlug der alkoholisierte Angeklagte bei einer Auseinandersetzung seiner Lebensgefährtin eine Kaffeekanne in das Gesicht. Die erheblich verletzte Frau flüchtete in das Kinderzimmer ihres Sohnes Christian und schloß die Tür ab. Rasend vor Wut, weil sie sich erstmals seinem Zugriff entzog, und getrieben von verzweifelter Angst, sie zu verlieren, versuchte der Angeklagte mit einem etwa 40 cm langen „Kuhfuß” die Tür aufzubrechen. Als er bemerkte, daß seine Lebensgefährtin und ihr Sohn durch das Kinderzimmerfenster fliehen wollten, verließ er das Haus und begab sich außen vor das Fenster, um sie aufzuhalten. Mit den Worten „ich bringe Euch um” schlug der Angeklagte zunächst mit dem „Kuhfuß” in Richtung von Christian, der am Kopf eine Platzwunde erlitt. Dann nahm er die Frau mit dem linken Arm in den Schwitzkasten, während er in der rechten Hand den „Kuhfuß” so hielt, daß er auf ihren Kopf hätte einschlagen können. Der Lebensgefährtin gelang es, dem Angeklagten den „Kuhfuß” aus der Hand zu ziehen und sich zu befreien.
Der Angeklagte befand sich nach der Überzeugung des Landgerichts infolge seiner Alkoholisierung (Tatzeit-BAK: etwa 2,00 ‰) bei dem Schlag mit der Kaffeekanne nicht ausschließbar im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit. Es hat – sachverständig beraten – nicht ausschließen können, daß der Angeklagte wegen einer durch das Verhalten der Frau ausgelösten hohen affektiven Aufladung auf Grund seiner von Selbstunsicherheit, verminderter Frustrationstoleranz und emotionaler Labilität gekennzeichneten Persönlichkeit und bereits enthemmt durch den Alkohol in den Zustand einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung geraten ist, wodurch die Einsichts- und die Steuerungsfähigkeit bei den Schlägen mit dem „Kuhfuß” aufgehoben wurde (UA S. 14, 24). Der Angeklagte hat sich nach Meinung der Strafkammer bedingt vorsätzlich in diesen Zustand versetzt, weil er Alkohol getrunken habe in dem Wissen, daß die zu erwartende tätliche Auseinandersetzung eskalieren könne und eine solche leicht zu einer affektiven Aufladung der daran Beteiligten führe (UA S. 27). Sein Verhalten hat sie als mit natürlichem Vorsatz begangenen zweifachen Totschlagsversuch gewertet.
2. Hinsichtlich des Schuldspruchs wegen gefährlicher Körperverletzung hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Jedoch bestehen gegen den Strafausspruch durchgreifende rechtliche Bedenken.
Bei der Strafzumessung hat die Strafkammer zu Lasten des nicht geständigen Angeklagten u. a. berücksichtigt, „daß er gegenüber der Nebenklägerin keine wirkliche Reue gezeigt und versucht hat, die zum Schlag mit der Kaffeekanne hinführenden Umstände zu beschönigen und die Verantwortung von sich abzuwälzen” (UA S. 32). Damit hat sie dem Angeklagten ein zulässiges Verteidigungsverhalten straferschwerend zugerechnet (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 46 Rdn. 29 c). Der Senat kann nicht ausschließen, daß die Höhe der verhängten Einzelstrafe (ein Jahr sechs Monate) auf diesem Rechtsfehler beruht.
3. Der Schuldspruch wegen vorsätzlichen Vollrausches hat keinen Bestand.
a) Zutreffend geht das Landgericht davon aus, daß es der Anwendbarkeit des § 323 a StGB nicht entgegensteht, wenn der Zustand der (möglichen) Schuldunfähigkeit nicht allein durch Alkohol, sondern erst durch das Hinzutreten weiterer Ursachen herbeigeführt worden ist. Voraussetzung ist jedoch, daß der Zustand der (möglichen) Schuldunfähigkeit – wie es der objektive Tatbestand des § 323 a StGB verlangt – sich nach seinem ganzen Erscheinungsbild noch als ein durch den Alkoholkonsum hervorgerufener Rausch darstellt (vgl. BGHSt 26, 363, 365 f.; BGHSt 32, 48, 53; BGH NJW 1997, 3101, 3102). Einen solchen Rauschzustand hat die Strafkammer nicht ausdrücklich festgestellt. Er ergibt sich auch nicht zweifelsfrei aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, zumal sie bei der vorausgegangenen gefährlichen Körperverletzung eine alkoholbedingte erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit lediglich nicht auszuschließen vermochte.
Weiterhin ist auf Grund der Urteilsausführungen keine revisionsrechtliche Überprüfung möglich, ob das Landgericht zu Recht von einer so starken affektiven Aufladung des Angeklagten ausgegangen ist, daß diese im Zusammenwirken mit der Alkoholisierung und der Persönlichkeitsstörung nicht ausschließbar einen Zustand der Schuldunfähigkeit verursacht hat. Zwar kann ein sthenischer – also auf Wut, Zorn oder Haß beruhender – Affekt im Zusammenwirken mit einer alkoholischen Enthemmung zu einem völligen Schuldausschluß führen (vgl. BGHR StGB § 20 Ursachen, mehrere 1; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 58 m. w. N.). Ob dies der Fall ist, beurteilt sich jedoch auf Grund einer Gesamtwürdigung aller tat- und täterbezogenen Merkmale, die als Indizien für und gegen die Annahme eines (möglicherweise) schuldausschließenden Affekts sprechen können (vgl. BGHR StGB § 21 Affekt 4; BGH NStZ 1995, 175, 176 m. w. N.; Jähnke aaO Rdn. 57 m. w. N.). Die Urteilsgründe, die im wesentlichen nur das Ergebnis des Sachverständigengutachtens wiedergeben, werden diesen Anforderungen an eine nachvollziehbare Begründung nicht gerecht. Dazu kommt, daß das Landgericht die (mögliche) Schuldunfähigkeit mit einem Verlust der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit begründet. Dabei hat es nicht bedacht, daß § 20 StGB nicht auf beide Alternativen zugleich gestützt werden kann (vgl. BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 1 und 3; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 20 Rdn. 25).
b) Die Wertung der Strafkammer, der Angeklagte habe sich bedingt vorsätzlich in den Zustand der nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit versetzt, findet in den Urteilsfeststellungen keine ausreichende Stütze.
In einem Fall, in dem – wie hier nach der Überzeugung des Landgerichts – der Rauschzustand im Sinne des § 323 a Abs. 1 StGB nicht allein durch den Alkoholgenuß, sondern erst durch das Hinzutreten eines Affektes herbeigeführt worden ist, setzt die Verurteilung wegen vorsätzlichen Vollrausches voraus, daß der Täter beim Alkoholgenuß vor Eintritt der (möglichen) Schuldunfähigkeit mit einem Verlust seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit infolge des Zusammenwirkens von Alkohol und Affekt gerechnet und diesen billigend in Kauf genommen hat (vgl. BGHR StGB § 323 a Abs. 1 Fahrlässigkeit 1 und Vorsatz 1). Die bisher getroffenen Feststellungen bieten dafür keine Anhaltspunkte, da das den Affekt auslösende Verhalten der Lebensgefährtin „eine neue Qualität aufwies und nicht dem Erfahrungswissen des Angeklagten entsprach” (UA S. 27). Seine allgemeine Kenntnis, daß tätliche Auseinandersetzungen leicht zu einer erheblichen affektiven Aufladung führen, belegt einen bedingten Vorsatz hinsichtlich einer möglichen Schuldunfähigkeit nicht.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
Für den Fall, daß der neue Tatrichter den objektiven Tatbestand des § 323 a Abs. 1 StGB bejahen, aber einen Vorsatz verneinen sollte, wird er zu prüfen haben, ob der Angeklagte das Hinzutreten des Affekts in seinen nachteiligen Auswirkungen auf seine geistig-seelische Verfassung in vorwerfbarer Weise nicht bedacht hat und deshalb eine Verurteilung wegen fahrlässigen Vollrausches in Betracht kommt (vgl. BGHSt 26, 363, 366; BGHR StGB § 323 a Abs. 1 Fahrlässigkeit 1 und Vorsatz 1).
Bei der Prüfung der im Rauschzustand mit natürlichem Vorsatz begangenen rechtswidrigen Taten ist zur Abgrenzung zwischen Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geboten (vgl. BGHSt 36, 1, 10). Allein die Äußerung des Angeklagten „ich bringe Euch um”, auf die das Landgericht entscheidend abstellt, belegt einen natürlichen Tötungsvorsatz nicht, zumal er seine Lebensgefährtin in der Vergangenheit schon öfter mit dem Tode bedroht hatte, ohne daß die Ernsthaftigkeit der Äußerungen festgestellt werden konnte (UA S. 6).
Unterschriften
Winkler, Miebach, Pfister, von Lienen, Becker
Fundstellen