Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. September 1999 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben bezüglich der versuchten Tötungsdelikte die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen und zum Tötungsvorsatz aufrechterhalten; die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe und wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit der Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Die Verfahrensrügen sind nicht in der in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO vorgeschriebenen Form erhoben und daher unzulässig. Die Sachrüge führt dagegen zu einer teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Nach den Feststellungen konnte der Angeklagte nicht verkraften, daß sich seine Freundin vor drei Jahren von ihm getrennt hatte und nur noch gelegentlich Kontakt zu ihm hielt. Er redete sich deshalb ein, sie sei psychisch krank, drogenabhängig und Mitglied einer Räuber- und Mörderbande. Obwohl er annahm, seine Freundin wolle ihn vergiften, weil er von all diesen sie belastenden Umständen wisse, wollte er ihr gleichwohl helfen und sie – notfalls gegen den Widerstand der Bandenmitglieder – retten. Am Tattag legte er eine Schutzweste an, steckte eine Pistole ein, die er einige Wochen zuvor erlangt hatte, und begab sich in die Wohnung von Bekannten, um Auskunft über den gegenwärtigen Aufenthaltsort seiner Freundin zu erhalten. Als er die gewünschte Auskunft nicht erhielt, schoß er zweimal in Tötungsabsicht auf den Zeugen T; es löste sich zunächst jedoch kein Schuß. Einen weiteren Schuß, der den Zeugen nur knapp verfehlte, gab der Angeklagte ab, um den Zeugen zur Herausgabe der dem Angeklagten gehörenden Jacke zu veranlassen.
Abweichend von dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen, die einen Ausschluß der Schuldfähigkeiten des Angeklagten bei allen Delikten für möglich erachtet hatte, hält das Landgericht den Angeklagten in Bezug auf den Erwerb der Schußwaffe für voll schuldfähig, in Bezug auf die versuchten Tötungsdelikte für eingeschränkt steuerungsfähig im Sinne des § 21 StGB. Daß die Taten des Angeklagten entsprechend den Darlegungen der Sachverständigen in ein „geschlossenes Wahnsystem” einzuordnen und die Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie sein könnten, schließt das Landgericht aus. Den Ausführungen der Sachverständigen könne insoweit nicht gefolgt werden, weil sie auf einem „klassischen In-Sich-Schluß” und zudem auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage beruhten. Aufgrund eigener Sachkunde vertritt das Landgericht die Auffassung, der zum „Pseudologisieren” neigende Angeklagte habe sich vor den Tötungsversuchen in ein psychotisches Erleben hineingesteigert, das allenfalls zu einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit geführt habe; zudem sei die Einschränkung der Steuerungsfähigkeit beim ersten Tötungsversuch auch nicht in einem Maße ausgeprägt gewesen, das „an der Obergrenze der Erheblichkeit” gelegen hätte, beim zweiten Tötungsversuch habe das Maß der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sogar „an der alleruntersten Grenze” gelegen. Ursache für das psychotische Erleben sei keine psychische Erkrankung, sondern lediglich eine Charakterdeformation des Angeklagten gewesen. Beim Erwerb der Waffe sei die Schuldfähigkeit des Angeklagten voll erhalten gewesen, da er selbst eingeräumt habe, die Waffe nicht zum Schutz vor möglichen Angreifern erworben, sondern von seiner Freundin zur Aufbewahrung erhalten zu haben. Seine Sachkunde stützt das Landgericht auf die von der Sachverständigen erhobenen Befunde und auf Kenntnisse, die es aus der Fachliteratur und einer Vielzahl von Strafverfahren erworben habe, in denen andere Sachverständige Angeklagte mit vergleichbaren Charaktermängeln begutachtet hätten.
Die Annahme eigener Sachkunde durch das Landgericht begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar muß der Tatrichter nicht in jedem Fall, in dem er von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Vielmehr kann er die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde gerade auch auf die Ausführungen des gehörten Sachverständigen stützen (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg 25. Aufl. § 244 Rdn. 8a m.w.N.). Dies kommt hier aber schon deshalb nicht in Betracht, weil die Sachkunde der Sachverständigen vom Landgericht ersichtlich in Zweifel gezogen worden ist. Ebensowenig reichte die Mitteilung der erhobenen Befunde aus, um dem Landgericht aufgrund der in anderen Verfahren gewonnenen Kenntnisse eine zuverlässige Diagnose zu ermöglichen. Derartiges mag bei einfach zu beurteilenden psychischen Auffälligkeiten, die in gleicher Weise immer wiederkehren, möglich sein. Ob bei einem Angeklagten, dessen Verhalten Anhaltspunkte für eine schwere psychische Erkrankung – hier eine beginnende Schizophrenie – zeigt, eine solche Erkrankung tatsächlich vorliegt und in welchem Maße sie gegebenenfalls die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt hat, vermag jedoch nur ein psychiatrischer Sachverständiger mit entsprechendem Spezialwissen anhand des konkreten Falles zuverlässig zu beurteilen. Zudem hätte das Landgericht die Angaben des Angeklagten über die Beziehung zu seiner Freundin im Tatzeitraum und zum Erwerb der Waffe nicht ungeprüft übernehmen dürfen, weil diese Angaben Teil eines im wesentlichen auf die Freundin bezogenen Wahnsystems sein könnten.
Unterschriften
Harms, Basdorf, Tepperwien, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 556916 |
NStZ 2000, 437 |