Entscheidungsstichwort (Thema)

Anordnung der Abschiebehaft ohne Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft

 

Leitsatz (amtlich)

Abschiebungshaft darf ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nicht angeordnet werden (Festhalten an dem BGH v. 17.6.2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 f.).

 

Normenkette

AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Lüneburg (Beschluss vom 04.02.2010; Aktenzeichen 2 T 13/10)

AG Winsen/Luhe (Beschluss vom 17.12.2009; Aktenzeichen 14 XIV B 1994)

 

Tenor

Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Ihm wird Rechtsanwalt Rinkler beigeordnet.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Winsen (Luhe) vom 17.12.2009 und der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Lüneburg vom 4.2.2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Landkreis Harburg trägt die notwendigen Auslagen des Betroffenen aller Instanzen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene, ein kosovarischer Staatsangehöriger, war bereits mehrfach unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Nachdem er sich am 16.12.2009 anlässlich einer auf der Bundesautobahn 1 im Bezirk des Beteiligten zu 2) durchgeführten Personenkontrolle mit gefälschten italienischen Papieren ausgewiesen hatte, wurde er festgenommen. Am 17.12.2010 hat der Beteiligte zu 2) die Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt. In dem Antrag heißt es u.a. "Eine weitere Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung besteht durch die Staatsanwaltschaft in Gießen". Dem Antrag beigefügt ist ein Schreiben, in dem der Verteidiger des Betroffenen unter Hinweis auf ein gegen den Betroffenen "wegen §§ 267, 265a StGB" geführtes Ermittlungsverfahren um Akteneinsicht bittet.

Rz. 2

Mit Beschluss vom 17.12.2009 hat das AG dem Haftantrag entsprochen. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde möchte der Betroffene die Feststellung erreichen, dass die Beschlüsse der Vorinstanzen und seine Inhaftierung bis zum 11.2.2010 rechtswidrig waren.

II.

Rz. 3

Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung hätten vorgelegen.

III.

Rz. 4

Die auch nach Erledigung der Hauptsache statthafte (BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Haftanordnung als auch die Beschwerdeentscheidung verletzen den Betroffenen in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

Rz. 5

1. Die Haft hätte schon deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil der Haftantrag unzulässig war.

Rz. 6

a) Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211; Beschl. v. 9.12.2010 - V ZB 136/10, zur Veröffentlichung bestimmt; jeweils m.w.N.). Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG, dass die Antragsbegründung insb. Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält (Senat, Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, Rz. 8 f.). Diesen Anforderungen wird der gestellte Antrag nicht gerecht. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage erhoben worden ist oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird, ist der Antrag unzulässig (Senat, Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, a.a.O.). So verhält es sich hier.

Rz. 7

b) Der Senat hält daran fest, dass Abschiebungshaft ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen nicht angeordnet werden darf (dazu Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 f.; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440; Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, Rz. 22; krit. LG Hamburg, Beschl. v. 20.8.2010 - 329 T 71/10 u. 75/10). Die Gegenauffassung, wonach die Haft zur Sicherung der Abschiebung schon dann angeordnet werden darf, wenn die Prognose gerechtfertigt ist, das Einvernehmen werde innerhalb der Drei-Monats-Frist nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erteilt (so etwa OLG Frankfurt, StV 2000, 377; OLG Düsseldorf, FGPrax 2001, 130; OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 27, 28; OLG Saarbrücken OLGReport Saarbrücken 2008, 63, 64; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rz. 110; a.A. wohl HK-Ausländerrecht/Hofmann [2008], § 72 AufenthG Rz. 34), wird dem hohen Rang des Freiheitsrechtes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht gerecht.

Rz. 8

Die Inhaftierung eines Ausländers zum Zwecke seiner Abschiebung entspricht nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Abschiebung keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Das ist indessen nicht der Fall, wenn die Abschiebung nicht durchgeführt werden darf, weil die Staatsanwaltschaft ihr nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendiges Einvernehmen nicht erteilt hat (Senat, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10, zur Veröffentlichung bestimmt). Unwägbarkeiten im Hinblick auf Umstände, die zur Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ausgeräumt werden müssen, können nur dann hingenommen werden, wenn sie von deutschen Behörden nicht beherrscht werden (vgl. BGH, Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575). So verhält es sich bei der Einholung des Einvernehmens nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG jedoch nicht. Ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erklärt, kann unschwer und in aller Regel auch umgehend - ggf. unter Einschaltung des staatsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes - abgeklärt werden. Sollte dies ausnahmsweise nicht möglich sein, kommt unter strikter Beachtung des Beschleunigungsgebotes die Anordnung einer - kurzzeitigen - vorläufigen Ingewahrsamnahme nach § 427 FamFG in Betracht (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 10.6.2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174). Im Übrigen kann das Abschiebungsverfahren auch dadurch praktikabel ausgestaltet werden, dass die Staatsanwaltschaft für bestimmte Fallgruppen vorab ein generelles Einvernehmen erklärt (vgl. nur GK-AufenthG/Gutmann, a.a.O., § 72 Rz. 33) und dies von der antragstellenden Behörde in dem Haftantrag dargelegt wird (vgl. Senatsbeschluss v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, Rz. 9).

Rz. 9

c) Der hier zugrunde gelegten Rechtsauffassung steht schließlich nicht entgegen, dass das BVerwG die früher das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft regelnde Vorschrift des § 64 Abs. 3 AuslG a.F. als eine nicht dem Schutz des Ausländers dienende Bestimmung angesehen hat (so die nicht tragende Erwägung BVerwGE 106, 351, 356). Ob diesem Verständnis der Norm zu folgen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn Gegenstand der Feststellung des Beschwerdegerichts nach § 62 Abs. 1 FamFG ist nicht die - einer Prüfung durch die Zivilgerichte ohnehin entzogene - Verletzung von Rechten des Ausländers durch die von der Ausländerbehörde verfügte Abschiebung (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.2009 - V ZB 148/09, FGPrax 2010, 50 m.w.N.), sondern allein die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Ausländers nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch die von dem Richter angeordnete Inhaftierung (Senat, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10, zur Veröffentlichung bestimmt). Wie bereits oben dargelegt, ist diese jedoch nur dann verhältnismäßig, wenn das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt.

IV.

Rz. 10

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Beteiligten zu 2) zur Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (BGH, Beschl. v. 6.5.2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 f., Rz. 19).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2658434

DB 2011, 8

EBE/BGH 2011

ZAR 2011, 14

StRR 2011, 275

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