Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstmalige mündliche Anhörung eines Sachverständigen in der Berufungsinstanz. Bindung des Berufungsgerichts an erstinstanzlich festgestellte Tatsachen
Leitsatz (amtlich)
Hat das Erstgericht dem rechtzeitig gestellten Antrag einer Partei auf erstmalige mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen nicht entsprochen, kann die Bindung des Berufungsgerichts an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen entfallen. Ist dies der Fall, muss das Berufungsgericht dem in zweiter Instanz wiederholten Antrag auf Ladung des Sachverständigen stattgeben.
Normenkette
ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 397, 402, 411 Abs. 3
Verfahrensgang
Saarländisches OLG (Urteil vom 28.07.2004; Aktenzeichen 1 U 489/03-124) |
LG Saarbrücken |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Saarländischen OLG v. 28.7.2004 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 40.903,35 EUR.
Gründe
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Einer Zulassung der Revision bedarf es nicht (BGH, Beschl. v. 5.4.2005 - VIII ZR 160/04).
2. Mit Erfolg macht die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, dass das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft von einer mündlichen Befragung der gerichtlichen Sachverständigen abgesehen hat.
a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten ist, nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sieht oder ob gar zu erwarten ist, dass der Gutachter seine Auffassung ändert. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats hat die Partei zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann (BGH, Urt. v. 17.12.1996 - VI ZR 50/96, MDR 1997, 286 = VersR 1997, 509 ff.; Urt. v. 7.10.1997 - VI ZR 252/96, MDR 1998, 58 = VersR 1998, 342; Urt. v. 22.5.2001 - VI ZR 268/00, MDR 2001, 1130 = BGHReport 2001, 660 = VersR 2002, 120 [121 f.]). Dieses Antragsrecht besteht unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO (st.Rspr., BGHZ 6, 398 [400 f.]; BGHZ 24, 9 [14]; BGH, Urt. v. 24.10.1995 - VI ZR 13/95, MDR 1996, 92 = VersR 1996, 211 [212]; Urt. v. 17.12.1996 - VI ZR 50/96, MDR 1997, 286 = VersR 1997, 509 ff.; Urt. v. 7.10.1997 - VI ZR 252/96, MDR 1998, 58 = VersR 1998, 342 [343]; Urt. v. 29.10.2002 - VI ZR 353/01, MDR 2003, 168 = BGHReport 2003, 256 = VersR 2003, 926). Hat das LG einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens nicht entsprochen, so muss das Berufungsgericht dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag stattgeben (BGH, Urt. v. 24.10.1995 - VI ZR 13/95, MDR 1996, 92 = VersR 1996, 211 [212]). Dabei kann von der Partei, die einen Antrag auf Ladung des Sachverständigen stellt, nicht verlangt werden, dass sie die Fragen, die sie an den Sachverständigen zu richten beabsichtigt, im Voraus konkret formuliert. Es genügt, wenn sie allgemein angibt, in welcher Richtung sie durch ihre Fragen eine weitere Aufklärung herbeizuführen wünscht (BGHZ 24, 9 [14 f.]).
b) Diesen Anforderungen genügte das Vorbringen des Klägers. Mit Recht verweist die Nichtzulassungsbeschwerde darauf, dass der Kläger im ersten Rechtszug mehrfach die Ladung des Sachverständigen Prof. Dr. H. zur Erläuterung seines Gutachtens beantragt hat. Der erste Antrag ist unmittelbar nach Eingang des schriftlichen Gutachtens gestellt worden. Mit Beweisbeschluss v. 26.8.2002 hat das LG den Sachverständigen um eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme zur postoperativen Behandlung gebeten. Nach Eingang der Stellungnahme v. 18.11.2002 hat der Kläger mit Schriftsatz v. 13.12.2002 eine Reihe von Fragen gestellt und erneut beantragt, den Sachverständigen nach seiner (schriftlichen) Stellungnahme zur mündlichen Erläuterung seiner Begutachtung zu laden, wobei er darauf hingewiesen hat, dass dieser Antrag nur dann aufrechterhalten werde, wenn nach der Ergänzung des Gutachtens bzw. einer weiteren Ergänzung noch Fragen blieben. Das LG hat dem Sachverständigen die vom Kläger gestellten Fragen durch Auflagen- und Beweisbeschluss v. 20.1.2003 teilweise vorgelegt und ihn dazu um eine weitere Stellungnahme gebeten. Die erbetene ergänzende Stellungnahme ist unter dem 10.3.2003 erfolgt. Daraufhin hat das LG den Parteien mit Verfügung v. 9.4.2003, zugestellt am 22.4.2003, eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen gesetzt. Am 8.5.2003, also nur 16 Tage nach Zustellung dieser Verfügung, hat das LG Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf den 22.5.2003 anberaumt, ohne den Sachverständigen zu laden. Mit Schriftsatz v. 6.5.2003, bei Gericht eingegangen am 9.5.2003, hat der Kläger erneut beantragt, den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens sowie seines Ergänzungsgutachtens zu laden. Dem hat das LG nicht entsprochen. Am 22.5.2003 ist zum letzten Mal mündlich verhandelt worden. Mit Urteil v. 26.6.2003 hat das LG die Klage abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger u.a. die Verletzung von §§ 397, 402 ZPO gerügt und erneut beantragt, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seiner Begutachtung zu laden. Diesem Antrag hat das Berufungsgericht nicht stattgegeben.
c) Schon das LG hätte den Sachverständigen laden müssen. War mithin das Verfahren in erster Instanz verfahrensfehlerhaft, so war das Berufungsgericht an die Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil nicht gebunden. Es hätte seinerseits den Sachverständigen laden müssen. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Recht der Partei auf mündliche Anhörung des medizinischen Sachverständigen haben auch nach In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz - ZPO-RG) v. 27.7.2001 (BGBl. I, 1887) ihre Gültigkeit behalten. Das Berufungsgericht durfte die auf Grund des Gutachtens getroffenen Feststellungen seiner Entscheidung nicht zu Grunde legen. Zwar ist ein Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO grundsätzlich an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Dabei können sich konkrete Anhaltspunkte auch aus Fehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (BGH, Urt. v. 8.6.2004 - VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245 = BGHReport 2004, 1378 m. Anm. Winkhart-Martis = MDR 2004, 1184 = VersR 2004, 1177 [1178]; Urt. v. 12.3.2004 - V ZR 257/03, BGHReport 2004, 833 m. Anm. Gehrlein = MDR 2004, 954 m. Anm. Fellner = WM 2004, 845 [846], zur Veröffentlichung in BGHZ 158, 269 bestimmt; Urt. v. 19.3.2004 - V ZR 104/03, BGHReport 2004, 1110 m. Anm. Kramer = MDR 2004, 1077, zur Veröffentlichung in BGHZ 158, 295 bestimmt; Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks. 14/4722, 100; Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO/Aktualisierungsband, § 529 Rz. 12; Rimmelspacher, NJW-Sonderheft, a.a.O., 11 [15]; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897 [1901]; Stackmann, NJW 2003, 169 [171]). Wurden Tatsachenfeststellungen auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens getroffen, kann auch die Unvollständigkeit des Gutachtens Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen wecken (BGH, Urt. v. 15.7.2003 - VI ZR 361/02, MDR 2003, 1414 = BGHReport 2004, 17 = NJW 2003, 3480 [3481]; Urt. v. 8.6.2004 - VI ZR 230/03, BGHZ 159, 254 = GesR 2005, 18 = MDR 2004, 1313 = BGHReport 2004, 1375 m. Anm. Heßler = VersR 2004, 1477; Musielak/Ball, § 529 Rz. 18; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 24. Aufl., § 529 Rz. 9).
d) Hiernach begründeten im Streitfall konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Vollständigkeit der Feststellungen. Das LG hat den Sachverständigen nicht zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens geladen, obwohl der Kläger dies mehrfach beantragt hatte. Das Recht der Partei, den Sachverständigen persönlich zu hören und diesem auch selbst Fragen zu stellen, bezieht sich auf medizinische Fragen, die für die Entscheidung erheblich sind und für die Erläuterungsbedarf geltend gemacht wird (OLG Oldenburg v. 11.8.1998 - 5 U 23/98, OLGReport Oldenburg 1998, 320 = NJW-RR 1999, 178 [179]). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bedarf der Antrag auf Ladung des Sachverständigen keiner besonderen Begründung. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Sachverständige nicht nur ein Erstgutachten, sondern - wie im Streitfall - ein Ergänzungsgutachten erstattet hat. Beschränkungen des Antragsrechts ergeben sich nur aus den Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchs und der Prozessverschleppung (BGH, Urt. v. 29.10.2002 - VI ZR 353/01, MDR 2003, 168 = BGHReport 2003, 256 = VersR 2003, 926). Das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles nimmt ersichtlich auch das Berufungsgericht nicht an. Ist dem Antrag in erster Instanz nicht entsprochen worden, bedarf es in zweiter Instanz entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch keiner Darlegung dazu, weshalb die unterbliebene Anhörung für die angefochtene Entscheidung ursächlich gewesen sei.
3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei der neuen Verhandlung und Entscheidung auch das weitere Vorbringen des Klägers im Revisionsrechtszug zu berücksichtigen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1386075 |
BGHR 2005, 1348 |
FamRZ 2005, 1564 |
AnwBl 2005, 99 |
DAR 2005, 507 |
MDR 2005, 1308 |
MDR 2006, 554 |
NZV 2005, 463 |
VersR 2005, 1555 |
NJW-Spezial 2005, 498 |
r+s 2005, 485 |
DS 2005, 300 |
GuG-aktuell 2005, 30 |
GuG 2005, 313 |
ProzRB 2005, 284 |