Leitsatz (amtlich)
Die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten setzt voraus, dass der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zudem muss in all diesen Angelegenheiten, die die gegenwärtige Lebenssituation des Betroffenen bestimmen, ein Handlungsbedarf bestehen. Beides muss durch konkret festgestellte Tatsachen näher belegt werden (im Anschluss an Senat, Beschl. v. 13.5.2020 - XII ZB 61/20 - zur Veröffentlichung bestimmt).
Normenkette
BGB § 1896 Abs. 1-2
Verfahrensgang
LG Passau (Beschluss vom 05.12.2019; Aktenzeichen 2 T 95/19) |
AG Passau (Beschluss vom 24.07.2019; Aktenzeichen 16 XVII 1294/18) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Passau vom 5.12.2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Wert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Betroffene wendet sich gegen die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten.
Rz. 2
Die 1943 geborene Betroffene leidet nach den tatrichterlichen Feststellungen an einer wahnhaften psychischen Störung. Dabei halluziniert sie, dass sich in ihrer Wohnung fremde Menschen aufhalten. Ihre deswegen vorgenommenen Mietminderungen führten immer wieder zu Mietschulden und Kündigungen seitens der Vermieter.
Rz. 3
Das AG hat eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis "alle Angelegenheiten incl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post" eingerichtet und die weitere Beteiligte zur Betreuerin bestellt. Das LG hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen; hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das LG.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Betroffene leide nach dem vom AG eingeholten psychiatrischen Gutachten an einer wahnhaften Störung mit einem weit ausgebauten Wahngebäude, die vermutlich bereits chronifiziert sei. In ihrer Realität seien ständig Personen in ihrer Wohnung, wie etwa der frühere Vermieter oder der Hausmeister, obwohl sie ein zusätzliches Innenschloss angebracht habe. Wenn sie ihre Wohnung verlassen habe, fehlten ihr Ordner, die dann aber wieder auftauchten. Durch diese schon seit einigen Jahren andauernden Wahnvorstellungen habe sie sich wiederholt in Schwierigkeiten gebracht, da sie die Miete gekürzt habe, bis ihr die Wohnungen gekündigt worden seien. Die Erkrankung gehöre zu den psychischen Störungen (ICD-10: F 22.0) und führe dazu, dass die Betroffene nicht in der Lage sei, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern. Die Betroffene sei umfassend hilfebedürftig und geschäftsunfähig. Aus psychiatrischer Sicht lägen die medizinischen Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten inklusive der Posterledigung vor. Dies gelte auch gegen den erklärten Willen der Betroffenen, die sich nicht adäquat einzuschätzen vermöge und völlig in ihrem Wahn gefangen sei.
Rz. 6
2. Die angefochtene Entscheidung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, tragen die bislang getroffenen Feststellungen nicht die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten.
Rz. 7
a) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde allerdings, die Betreuung sei auf der Grundlage einer bloßen Verdachtsdiagnose (vgl. dazu etwa BGH, Beschl. v. 26.10.2016 - XII ZB 622/15 FamRZ 2017, 140 Rz. 7 m.w.N.) angeordnet worden. Denn das Beschwerdegericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Betroffenen nach dem Sachverständigengutachten eine wahnhafte psychische Störung vorliegt. Zwar hat der Sachverständige eingangs seiner Würdigung formuliert, die Betroffene leide "wohl" an einer wahnhaften Störung mit einem weit ausgebauten Wahngebäude, das "vermutlich" bereits seit Jahren bestehe, und dass die Erkrankung "vermutlich" auch chronifiziert sei. Er ist aber ausdrücklich von einer Erkrankung der Betroffenen ausgegangen und nicht nur von einem Verdacht auf eine psychische Störung.
Rz. 8
b) Die Entscheidung des LG ist aber deswegen rechtsfehlerhaft, weil sie zum Umfang des Aufgabenkreises keine hinreichende Begründung enthält.
Rz. 9
aa) Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, soweit die Betreuung erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie - auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit - notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung darf sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BGH v. 11.7.2018 - XII ZB 399/17 FamRZ 2018, 1601 Rz. 19 m.w.N.; v. 13.5.2020 - XII ZB 61/20 - zur Veröffentlichung bestimmt). Für die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten bedarf es konkreter Darlegung, dass Handlungsbedarf in allen Angelegenheiten besteht (vgl. BGH v. 12.6.2019 - XII ZB 51/19 FamRZ 2019, 1647 Rz. 16; v. 13.5.2020 - XII ZB 61/20 - zur Veröffentlichung bestimmt).
Rz. 10
bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Denn die konkreten Feststellungen des Beschwerdegerichts vermögen zwar die Betreuung in Wohnungsangelegenheiten und der damit zusammenhängenden Vermögenssorge zu rechtfertigen. Zu den darüber hinaus bestimmten Aufgabenbereichen fehlen indessen sowohl in der angefochtenen Entscheidung als auch in dem Beschluss des AG jegliche konkreten Feststellungen für einen entsprechenden Handlungsbedarf.
Rz. 11
c) Der angefochtene Beschluss kann danach keinen Bestand haben. Der Senat kann nicht abschließend in der Sache entscheiden, da noch Feststellungen über den Betreuungsbedarf zu treffen sind.
Rz. 12
Die Zurückverweisung gibt dem Beschwerdegericht zugleich Gelegenheit, ergänzende Feststellungen zu treffen, die eine Betreuungsbedürftigkeit in allen Angelegenheiten begründen können. Denn bislang enthalten weder die angefochtene Entscheidung noch der Beschluss des AG oder das Sachverständigengutachten Tatsachenfeststellungen, die eine Betreuungsbedürftigkeit i.S.d. § 1896 Abs. 1 BGB in allen Angelegenheiten näher belegen.
Rz. 13
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen