Verfahrensgang
LG Arnsberg (Urteil vom 12.05.2017) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 12. Mai 2017 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen der ausgeurteilten Taten zu II. 2 b) und c) der Urteilsgründe aufrecht erhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Jugendkammer des Landgerichts Hagen verwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Die Verfahrensbeanstandungen bleiben ohne Erfolg, jedoch führt das Rechtsmittel mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lockte der im Iran aufgewachsene Angeklagte, der Mitte des Jahres 2016 im Alter von 24 Jahren gemeinsam mit seinen Eltern als Flüchtling nach Deutschland gekommen und in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht war, zwischen Mitte September und Anfang Oktober 2016 in zwei Fällen den damals neunjährigen, ebenfalls mit seiner Familie dort untergebrachten Nebenkläger in einen Duschraum der Unterkunft und vollzog an ihm – in einem Fall unter Anwendung von Gewalt – jeweils den analen Geschlechtsverkehr.
Rz. 3
Zur Person des Angeklagten hat das Landgericht weiter festgestellt, dass er etwa ab dem Alter von 17 Jahren unter nächtlichen Samenergüssen litt, „wobei diese möglicherweise auch lediglich das Resultat häufigen Masturbierens waren”. Er wurde deswegen im Iran einem Arzt vorgestellt, der eine Hypersexualität diagnostizierte und dem Angeklagten das Medikament Androcur mit dem Wirkstoff Cyproteronacetat verordnete, das die Bildung von Sexualhormonen unterdrückt. Weil der Vorrat des Angeklagten an Androcur während seiner Flucht nach Deutschland aufgebraucht war, nahm er dieses Medikament seither nicht mehr ein.
Rz. 4
2. Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat ausgeführt, der Angeklagte weise eine leichte Intelligenzminderung auf. Darüber hinaus sei bei ihm „angesichts der angegebenen kontinuierlichen Medikation mit Cyproteronacetat und der fremdanamnestischen Angaben der Eltern von einer Hypersexualität auszugehen”. Zwar gebe die Sexualanamnese hierauf keine Hinweise, dies sei aber durch Schamgefühle und die Tabuisierung dieses Themenkreises im Iran erklärbar. Diesen Diagnosen folgend hat die Strafkammer angenommen, dass der bei dem Angeklagten „krankheitsbedingt bestehende und nun nicht mehr medikamentös regulierte starke Sexualtrieb auf infolge der intellektuellen Minderbegabung ohnehin herabgesetzte Möglichkeiten zur vernunftgesteuerten Triebregulation” getroffen sei. Bei dem Angeklagten liege eine schwere andere seelische Abartigkeit vor, durch welche seine Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt der Taten im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert, aber nicht gemäß § 20 StGB aufgehoben gewesen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 5
Die Revision des Angeklagten ist begründet. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Schon dadurch werden auch die Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nicht rechtsfehlerfrei dargelegt.
Rz. 6
1. Die Ausführungen des Landgerichts zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten sind rechtsfehlerhaft und ermöglichen dem Senat weder die Nachprüfung, ob es zu Recht eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Taten ausgeschlossen hat, noch ob es zu Recht eine erhebliche Verminderung der Schuld bejaht hat.
Rz. 7
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319; Beschlüsse vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519; vom 14. Juli 2016 – 1 StR 285/16, juris Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 – 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146; vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135, 136).
Rz. 8
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, da das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB bereits nicht hinreichend belegt ist.
Rz. 9
aa) Soweit das Landgericht bei dem Angeklagten das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in einer Kombination des nicht mehr medikamentös regulierten Sexualtriebs und einer intellektuellen Minderbegabung begründet sieht, bleibt bereits unklar, welches konkrete Krankheitsbild es mit dem Begriff der Hypersexualität verbindet.
Rz. 10
Darüber hinaus lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen, welche Symptome einer Hypersexualität der Angeklagte aufweist und welchen Schweregrad diese besitzen.
Rz. 11
Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen einer Hypersexualität des Angeklagten halten aber auch deshalb revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil das Urteil die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht so wiedergegeben hat, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2011 – 2 StR 72/11, NStZ-RR 2011, 241; vom 8. April 2003 – 3 StR 79/03, NStZ-RR 2003, 232). Der Umstand, dass dem Angeklagten in der Vergangenheit triebdämpfende Medikamente gegeben worden waren, vermag weder die Darlegung des konkreten Krankheitsbilds der Hypersexualität noch ihrer Symptomatik beim Angeklagten zu ersetzen.
Rz. 12
bb) Zudem widersprechen sich die Ausführungen der Strafkammer zum Krankheitsbild des Angeklagten. Während sie im Rahmen der Schuldfähigkeitsbeurteilung die Taten auf die Hypersexualität sowie die Intelligenzminderung des Angeklagten zurückgeführt hat, hat sie bei der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen für die Maßregel nach § 63 StGB festgestellt, dass die Taten „Ausfluss der festgestellten psychischen Erkrankung, insbesondere der auf einer Hypersexualität aufgesattelten Paraphilie im Sinne einer Pädophilie vom regressiven Typus” seien (UA 25). Angesichts dieser widersprüchlichen Ausführungen erschließt sich nicht, von welchem konkreten Krankheitsbild die Strafkammer letztlich ausgegangen ist.
Rz. 13
cc) Schließlich bleibt auch die Diagnose einer „leichten Intelligenzminderung” des Angeklagten unklar. Der Senat kann anhand des angefochtenen Urteils insbesondere nicht nachvollziehen, welches konkrete Ausmaß die diagnostizierte Intelligenzminderung hat. Angaben dazu, wie sie ermittelt wurde, fehlen. Im Übrigen sind die Angaben zur Verstandesleistung des Angeklagten auch teilweise widersprüchlich. So teilt das Urteil im Rahmen der Feststellungen zur Person des Angeklagten mit, dass er im Iran einen „höheren Schulabschluss” erreicht habe (UA 3). Allerdings stellt die Strafkammer auch fest, dass der Angeklagte eine „geistige Behinderung” aufweise (UA 4). Dazu, wie sich dies beides miteinander und mit der diagnostizierten „leichten Intelligenzminderung” vereinbaren lässt, verhält sich das Urteil nicht.
Rz. 14
2. Mit Blick auf die unklaren und teilweise widersprüchlichen Ausführungen des Urteils zum Krankheitsbild des Angeklagten vermag der Senat einerseits nicht auszuschließen, dass der Angeklagte im Zustand der Schuldunfähigkeit und nicht nur im Zustand verminderter Schuldfähigkeit handelte, andererseits ist auch das Vorliegen eines überdauernden, die Schuldfähigkeit beeinträchtigenden Zustands im Sinne des § 63 StGB nicht tragfähig begründet. Daher muss über den Schuldspruch und die strafrechtlichen Rechtsfolgen der Tat einschließlich der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus insgesamt neu verhandelt und entschieden werden.
Rz. 15
3. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen der ausgeurteilten Taten sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 StPO Gebrauch gemacht und die Sache an das Landgericht Hagen verwiesen. Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, einen Sachverständigen mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet krankhafter Störungen des Sexualtriebs hinzuzuziehen.
Unterschriften
Sost-Scheible, Roggenbuck, Cierniak, Bender, Feilcke
Fundstellen
Haufe-Index 11817982 |
NStZ-RR 2018, 238 |
StV 2019, 232 |