Entscheidungsstichwort (Thema)
Inverkehrbringen von bedenklichen Arzneimitteln
Tenor
1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 22. Dezember 1997 werden verworfen, da die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat.
2. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
1. Der Straftatbestand des Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel (§ 95 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 5 AMG) genügt dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 103 Abs. 2 GG (so ausdrücklich bereits BGHSt 43, 336, 342 f und inzidenter auch BGH StV 1998, 663 f). Das gilt insbesondere auch für das Tatbestandsmerkmal „bedenklich”, das nach § 5 Abs. 2 AMG dann vorliegt, wenn nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, daß die betreffenden Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. „Begründeter Verdacht” bedeutet dabei eine aus Tatsachen, also nicht bloß Vermutungen oder Besorgnissen ableitbare Gefahr; in dieser Bedeutung begegnet das Merkmal ebensowenig verfassungsrechtlichen Bedenken wie in anderen Straftatbeständen aus dem Bereich der konkreten oder abstrakten Gefährdungsdelikte. Hinlänglich bestimmt ist der Straftatbestand auch insoweit, als er voraussetzt, daß sich diese Gefahr auf schädliche Wirkungen bezieht, „die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen”. Das Merkmal der Vertretbarkeit ist allerdings ein wertausfüllungsbedürftiger Begriff. Das Bestimmtheitsgebot, wonach ein Strafgesetz Tragweite und Anwendungsbereich möglichst genau in einer für den Bürger vorhersehbaren Weise umschreiben muß, erlaubt jedoch die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe u.a. dann, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung des Gesetzes gewinnen läßt (BVerfG in st. Rspr., zuletzt BVerfGE 96, 68, 97 f).
Diese Voraussetzung ist erfüllt. Das Merkmal „vertretbar” wird schon seit Inkrafttreten des Vorgängergesetzes, das eine insoweit wortgleiche Regelung enthielt (§ 6 Nr. 1 AMG vom 16. Mai 1961, BGBl. I S. 533), übereinstimmend, gleichbleibend und zutreffend dahin ausgelegt, daß darunter solche schädlichen Wirkungen fallen, denen ein überwiegender therapeutischer Nutzen gegenübersteht (für § 5 Abs. 2 des geltenden AMG: Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht 3. Aufl. AMG § 5 Anm. 7; Pelchen in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze AMG § 5 Rdn. 2; Sander, Arzneimittelrecht Bd. 1, AMG § 5 Erl. 4; Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht Bd. V, AMG § 5 Rdn. 18; Körner, BtMG 4. Aufl. AMG Vorbem. Rdn. 6; Wagner, Arzneimitteldelinquenz, 1984 S. 74 f; Wolz, Bedenkliche Arzneimittel als Rechtsbegriff, 1988 S. 70 f, 83 ff; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991 S. 104 ff). Dies entspricht sowohl dem Regelungswillen des Gesetzgebers (Amtliche Begründung zu § 5 AMG, BTDrucks. 7/3060 S. 45) als auch dem objektiven Schutzzweck des Gesetzes. Daß hiernach eine Abwägung von Risiko und Nutzen stattfinden muß, macht die Regelung nicht unbestimmt – auch sonst vertraut das Gesetz dem Strafrichter die Bewertung und Abwägung widerstreitender Belange an (vgl. § 34 StGB). Hier kommt hinzu, daß das Gesetz für die Risiko-Nutzen-Abwägung auf die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft verweist und damit einen Maßstab vorgibt, der den Abwägungsvorgang in einer Weise steuern kann, die Beliebigkeit und Willkür ausschließt. Wenn auch die Abwägung nicht stets eindeutige Ergebnisse liefert, so ergeben sich daraus doch keine Bedenken gegen die Bestimmtheit des Gesetzes.
2. Zu Recht hat das Landgericht die Angeklagten des Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel (§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG) schuldig gesprochen.
Bei der Beurteilung der Bedenklichkeit der Schlankheitskapseln war vom „bestimmungsgemäßem Gebrauch” auszugehen (§ 5 Abs. 2 AMG). Nach den Feststellungen erschöpfte sich die von den angeklagten Apothekern getroffene Gebrauchsbestimmung nicht im generellen Verwendungszweck der Schlankheitskapseln, also der Reduktion von Übergewicht; sie bezog sich vielmehr speziell auf die Einnahme der Kapseln durch Patienten nur zweier Ärzte, nämlich des Dr. C. und des angeklagten Arztes, und zwar nach Maßgabe der von diesen ausgestellten Rezepte. Deren mit Wissen und Wollen der angeklagten Apotheker geübte Verordnungspraxis war damit Teil der Gebrauchsbestimmung. Diese Verordnungspraxis bestand aber in der massenweisen, undifferenzierten Verschreibung der Kapseln an abnehmwillige Patienten (auch Normalgewichtige und Kinder) ohne zureichende Untersuchung und Überwachung und unter Vernachlässigung von Kontraindikationen (z. B. bei Schilddrüsenpatienten).
Bei diesem „bestimungsgemäßen Gebrauch” waren die Schlankheitskapseln bedenklich. Der begründete Verdacht auf schädliche Wirkungen ergab sich zum einen aus medizinisch-theoretischen Erkenntnissen über die Wirkungsweise der in den Kapseln enthaltenen Substanzen (z. B. die riskante Kombination zweier Appetitzügler) und über die Risiken der Vernachlässigung bestimmter Anwendungsbeschränkungen (z. B. Abgabe an Kinder und Hyperthyreosepatienten), zum anderen daraus, daß bei mehreren Patienten nach Einnahme der Kapseln gerade solche Beeinträchtigungen eintraten, die nach dem Urteil der Sachverständigen als Folge der Aufnahme einzelner Inhaltsstoffe auftreten können.
Diese schädlichen Wirkungen waren auch nicht vertretbar. Denn ein überwiegender therapeutischer Nutzen stand ihnen schon deshalb nicht gegenüber, weil – wie das Landgericht festgestellt hat – durch Einnahme der Kapseln eine nachhaltige Gewichtsreduktion nicht zu erzielen war. Im übrigen gab und gibt es zur Verringerung des Körpergewichts Mittel und Wege, die mit erheblich geringerem Risiko für die Gesundheit verbunden sind.
3. Mit Recht hat das Landgericht die angeklagten Apotheker auch wegen tateinheitlich begangenen Inverkehrbringens nicht zugelassener Fertigarzneimittel (§ 96 Nr. 5 AMG) verurteilt. Dem Antrag des Generalbundesanwalts, diesen Vorwurf durch Verfahrensbeschränkung (§ 154 a Abs. 2 StPO) auszuscheiden, folgt der Senat nicht. Beide Apotheker wußten, daß in der Produktionsstätte der Firma H. GmbH zeitweise mehr abgabebereite Kapseln lagerten, als es den jeweils von Dr. C. und dem angeklagten Arzt ausgestellten Rezepten entsprach. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus Produktionsumfang und Vertriebsfrequenz dieser Firma, in der beide Apotheker Gesellschafter waren und die Gewinne aus dem Verkauf der Kapseln bezogen. Der Senat kann ihre Revisionen ungeachtet des Beschränkungsantrags durch Beschluß nach § 349 Abs. 2 StPO verwerfen, weil die beantragte Beschränkung des Schuldspruchs am Unrechts- und Schuldgehalt der Taten nichts ändern würde und deshalb auch die Strafaussprüche unberührt ließe (BGH bei Kusch NStZ 1994, 25; auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 349 Rdn. 22 und Kuckein in KK 4. Aufl. § 349 Rdn. 29, jeweils m.w.N.).
II.
Die Verfahrensrügen und die weiteren, vorstehend nicht erörterten Sachbeschwerden der Angeklagten sind – wie der Generalbundesanwalt in seinen Antragsschriften zutreffend dargelegt hat – ebenfalls unbegründet.
Unterschriften
Jähnke, Niemöller, Detter, Bode, Otten
Fundstellen
Haufe-Index 540354 |
NStZ 1999, 625 |
wistra 1999, 465 |
MedR 2000, 482 |
StV 2000, 81 |
ApoR 1999, 154 |