Entscheidungsstichwort (Thema)

Bestimmtheitsgebot

 

Beteiligte

Rechtsanwalt Dr. Udo Kämpfner

Rechtsanwalt Reinhard Birkenstock

 

Verfahrensgang

BGH (Zwischenurteil vom 11.08.1999; Aktenzeichen 2 StR 44/99; NStZ 1999, 625)

LG Köln (Urteil vom 22.12.1997; Aktenzeichen 115-51/96)

 

Tenor

1. Die Verfassungsbeschwerde-Verfahren werden verbunden.

2. Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers zu 1. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerden haben keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn sie haben keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫). Es fehlt zum Teil an einer im Sinne der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG hinreichenden Auseinandersetzung mit den angegriffenen Entscheidungen. Im Übrigen sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet.

1. Das Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht verletzt. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Der einzelne Normadressat soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes berücksichtigt jedoch auch die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechtsaktes. Gesetze können nicht alle zukünftigen Fälle im Detail voraussehen; sie müssen den Wandel der Verhältnisse aufnehmen und der Besonderheit des Einzelfalles gerecht werden. Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind daher im Strafrecht verfassungsrechtlich dann nicht zu beanstanden, wenn die Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und daraus hinreichende Bestimmtheit gewinnt (stRspr; vgl. BVerfGE 96, 68 ≪97 f.≫).

Nach diesem Maßstab ist es mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, dass § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG das Inverkehrbringen solcher Arzneimittel, die im Sinne von § 5 AMG bedenklich sind, unter Strafe stellt. Die Anknüpfung des § 5 Abs. 2 AMG an den fortschreitenden Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nimmt den Wandel der Verhältnisse auf (vgl. BVerfGE 96, 68 ≪97≫). Zudem darf von Ärzten und Apothekern als Normadressaten erwartet werden, dass sie aufgrund der für ihre Berufspraxis erforderlichen Fachkenntnisse die Bedenklichkeit der von ihnen in den Verkehr gebrachten Arzneimittel nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft erkennen und sich in Zweifelsfragen sachkundig machen (vgl. BVerfGE 75, 329 ≪345≫). Deshalb ist von Verfassungs wegen auch nichts dagegen zu erinnern, dass ein Arzneimittel als bedenklich gilt, wenn der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen zeitigt, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Damit normiert § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 AMG einen Gefährdungstatbestand, der gerade durch die Anknüpfung an den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, die zum beruflichen Fachwissen der Normadressaten gehört, Aussagekraft gewinnt. Ist der Straftatbestand zudem erst dann erfüllt, wenn ein unvertretbares Maß schädlicher Wirkungen des Arzneimittels anzunehmen ist, so ist dadurch die Untergrenze der Strafbarkeit so hoch markiert, dass für die fachkundigen Normadressaten das Erreichen der Strafbarkeitsschwelle in ausreichendem Maße vorhersehbar ist.

Dass für die Prüfung der Vertretbarkeit eine Abwägung von Risiken und Nutzen des Arzneimittels stattfinden muss, führt ebenfalls nicht zur Unbestimmtheit der Strafnorm; denn durch verbindliche Richtlinien zur klinischen Beurteilung, die das Landgericht aufgrund eines Sachverständigengutachtens zugrundegelegt hat, gewinnt auch diese Abwägung eine ausreichende Genauigkeit.

2. Die Auslegung und Anwendung des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG i.V.m. § 5 AMG durch die Fachgerichte verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Der mögliche Wortsinn der §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 5 AMG als Auslegungsgrenze (stRspr; vgl. BVerfGE 75, 329 ≪341≫) ist nicht überschritten. Die Beanstandung der Beschwerdeführer, der bestimmungsgemäße Gebrauch des Arzneimittels im Sinne des § 5 Abs. 2 AMG sei nicht nach der ärztlichen Verschreibungspraxis zu beurteilen, sondern nach einer abstrakten Indikation, zeigt deshalb keine Verletzung von Verfassungsrecht auf. Sie geht auch an den Gründen der angegriffenen Entscheidungen vorbei. Danach haben die Ärzte, die die Schlankheitskapseln verschrieben haben, ohne Rücksicht auf individuelle Befunde eine generalisierende Verschreibungspraxis entwickelt. Diese wurde Grundlage der Zweckbestimmung durch die tatbeteiligten Apotheker. Individualrezepturen wurden nur vorgetäuscht.

3. Art. 3 Abs. 1 GG ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers zu 1. nicht verletzt. Zwar fehlen besondere Feststellungen des Landgerichts zur Verschreibungspraxis des Arztes Dr. C.; dies war für die angegriffenen Entscheidungen jedoch unerheblich. Die Mitverursachung einer undifferenzierten Lieferung von Massenprodukten an Patienten war nach Auffassung des Landgerichts medizinisch unvertretbar. Es stützte sich dazu auf Sachverständigengutachten. Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Hassemer, Broß

 

Fundstellen

Haufe-Index 565319

ApoR 2000, 76

AuS 2000, 62

AusR 2000, 83

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