Verfahrensgang
LG Darmstadt (Beschluss vom 02.02.2021; Aktenzeichen 5 T 752/20) |
AG Darmstadt (Entscheidung vom 29.11.2020; Aktenzeichen 501 XIV 443/20 L) |
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 2. Februar 2021 wird zurückgewiesen.
2. Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 Euro.
Tatbestand
I.
Rz. 1
1. Der Betroffene und seine pflegebedürftige Großmutter bewohnen getrennte Wohnungen in demselben Mietshaus. In der Vergangenheit kam es fast jede Woche zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden; wiederholt mussten deshalb Polizeikräfte tätig werden. Am 29. November 2020 wurde dem Beschwerdeführer eine „Wegweisungsverfügung” erteilt, nachdem er seine Großmutter ins Gesicht geschlagen hatte. Entgegen dieser Anordnung begab er sich am Nachmittag desselben Tages erneut zu ihr, weshalb gegen 17.00 Uhr ein weiteres Mal Polizeibeamte dorthin gerufen wurden. Der Betroffene wurde um 17.55 Uhr in polizeilichen Gewahrsam genommen. Gegen 18.30 Uhr wurde er vor das Amtsgericht Darmstadt vorgeführt und richterlich angehört.
Rz. 2
2. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht Darmstadt am 29. November 2020 die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers durch die Polizeibehörden für zulässig erklärt und die Fortdauer der Freiheitsentziehung bis längstens zum 30. November 2020, 6.00 Uhr, angeordnet.
Rz. 3
Gegen diese Entscheidung hat der Betroffene Beschwerde mit dem Ziel eingelegt, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehungsmaßnahme feststellen zu lassen. Das Amtsgericht hat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen.
Rz. 4
Mit Beschluss vom 2. Februar 2021 hat das Landgericht Darmstadt die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 und 3 HSOG hätten vorgelegen. Die angeordnete Dauer bis zum Folgetag, 6.00 Uhr, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer habe gegen die berechtigte Platzverfügung verstoßen; die Gefahr weiterer Straftaten habe bestanden.
Rz. 5
3. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Betroffene gegen den Beschluss des Landgerichts. Er beantragt, diesen aufzuheben und festzustellen, dass er hierdurch in seinen Rechten verletzt worden ist.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 6
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Rz. 7
1. Das Rechtsmittel des Betroffenen ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt (§ 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG) eingelegt.
Rz. 8
Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG. Danach ist die Rechtsbeschwerde in Freiheitsentziehungssachen auch ohne Zulassung nach § 70 Abs. 1 FamFG eröffnet, sofern sie sich gegen den Beschluss richtet, der die Freiheitsentziehung anordnet (§ 70 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Erfasst hiervon ist nicht nur der Anordnungsbeschluss selbst, sondern auch derjenige, mit dem das Beschwerdegericht die erstinstanzliche Anordnung der Freiheitsentziehung bestätigt (vgl. BeckOK FamFG/Obermann, 39. Ed., § 70 Rn. 40). Mit der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde kann außerdem ein Feststellungsantrag nach § 62 FamFG weiterverfolgt werden (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 3 ZB 8/19, juris Rn. 9).
Rz. 9
Die vorliegend auf § 32 des Hessischen Gesetzes über die Sicherheit und Ordnung (HSOG) gestützte Maßnahme unterfällt dem Anwendungsbereich des § 70 FamFG, denn § 33 Abs. 2 Satz 2 HSOG verweist für gerichtliche Entscheidungen gegen die Freiheitsentziehung ohne Einschränkung auf die entsprechende Anwendung des FamFG, weshalb alle Vorschriften des 7. Buches des FamFG sowie derjenigen über die Rechtsbeschwerde zur Anwendung kommen (BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 ZB 4/20, juris Rn. 5; vgl. für die inhaltsgleiche Vorschrift des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen: BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 3 ZB 8/19, juris Rn. 8 mwN; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. August 2011 – I-3 Wx 188/11, juris Rn. 13; vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. September 2016 – StB 26/16, NStZ-RR 2017, 24).
Rz. 10
2. Prüfungsgegenstand ist allein der Beschluss des Landgerichts vom 2. Februar 2021. Hat – wie hier – bereits das Beschwerdegericht nach Hauptsacheerledigung über den Fortsetzungsfeststellungsantrag befunden, geht es im Rechtsbeschwerdeverfahren nur um die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Ob die gerichtliche Anordnung des Gewahrsams zu Recht ergangen ist, ist dabei lediglich inzident zu prüfen. Einzig für den Fall der Hauptsacheerledigung nach Erlass der Beschwerdeentscheidung gilt, dass neben diesem Erkenntnis die Rechtmäßigkeit der Gewahrsamsanordnung selbst Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens sein kann (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 3 ZB 8/19, juris Rn. 17 mwN).
Rz. 11
3. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet (zum eingeschränkten Prüfungsmaßstab s. § 72 Abs. 1 Satz 2, § 74 Abs. 2, 3 Satz 3, 4 FamFG). Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht angenommen, dass die vom Amtsgericht angeordnete Freiheitsentziehung sowohl dem Grunde als auch der Dauer nach der Sach- und Rechtslage entsprach. Zudem begegnet die Beschwerdeentscheidung keinen sonstigen rechtlichen Bedenken, die dem Rechtsmittel zum Erfolg verhelfen würden.
Rz. 12
a) Mängel im amtsgerichtlichen Verfahren, die die Rechtswidrigkeit der angeordneten Maßnahme zur Folge hätten, sind nicht gegeben (§ 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG).
Rz. 13
aa) Im Zeitpunkt der Anordnung lag nach dem Inhalt der Akten ein rechtswirksamer Antrag auf Anordnung der Freiheitsentziehung (§ 417 FamFG) vor.
Rz. 14
(1) Der Antrag nach § 417 FamFG ist Verfahrensvoraussetzung und daher in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2010 – V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508 Rn. 12; vom 9. Februar 2012 – V ZB 305/10, juris Rn. 10). Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers sieht das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für den verfahrenseinleitenden Antrag nach § 417 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 5 FamFG die Einhaltung der Schriftform nach § 126 Abs. 1 BGB nicht zwingend vor. Zwar ist der Haftantrag in der Regel schriftlich zu stellen und soll unterschrieben sein (§ 23 Abs. 1 Satz 5 FamFG). Ein nicht unterschriebener Antrag ist dennoch wirksam, wenn sich aus anderen Umständen eine Gewähr für den Urheber des Antrags und dessen Willen ergibt, den Antrag in den Rechtsverkehr zu bringen (BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 2010 – V ZB 210/10, juris Rn. 11; vom 29. Februar 2012 – V ZB 305/10, juris Rn. 12). In einfach gelagerten Sachverhalten können Antrag und Begründung auch zu Protokoll im Termin der Anhörung des Betroffenen aufgenommen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 – V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508 Rn. 17; BeckOK FamFG/Günter, 39. Ed., § 417 Rn. 3).
Rz. 15
(2) So lag es hier. Nach dem Akteninhalt hat die zuständige Richterin am Amtsgericht zunächst den Antrag der Polizeibehörde telefonisch entgegengenommen und in einem Vermerk niedergelegt. Aus dem Vermerk zur mündlichen Anhörung des Betroffenen (§ 28 Abs. 4 FamFG) ergibt sich überdies noch hinreichend, dass der mündlich gestellte Haftantrag im Beisein des zuständigen Polizeibeamten mit dem Beschwerdeführer erörtert worden ist. Den inhaltlichen Mindestanforderungen nach § 417 FamFG ist dabei entsprochen worden.
Rz. 16
bb) Das Amtsgericht hat den Betroffenen – entgegen den Ausführungen in der Beschwerdebegründung – vor der Anordnung der freiheitsentziehenden Maßnahmen auch persönlich angehört (§ 420 FamFG, s. zur Rechtswidrigkeit der angeordneten Maßnahmen bei Verstoß gegen die Anhörungspflicht BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008 – 2 BvR 2042/05, BVerfGK 13, 400, 404 f.).
Rz. 17
Aus dem nach § 28 Abs. 4 FamFG erstellten Vermerk vom 29. November 2020 ergibt sich zweifelsfrei, dass der Beschwerdeführer mündlich angehört worden ist. Allein der Umstand, dass dies annähernd zeitgleich mit dem Anruf eines Vertreters der antragstellenden Behörde erfolgt ist, spricht für sich genommen nicht dafür, dass der Beschwerdeführer nur fernmündlich angehört worden ist. Zwar hat ein nach § 28 Abs. 4 FamFG erstellter Vermerk nicht die Beweiskraft eines Protokolls nach § 165 ZPO. Ihm kommt aber als öffentliche Urkunde (§§ 415, 418 ZPO) Bedeutung hinsichtlich der Beweisbarkeit der Richtigkeit der festgehaltenen Umstände und Vorgänge zu (Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl., § 28 Rn. 26).
Rz. 18
cc) Auch der Sofortvollzug der Anordnung (§ 422 Abs. 2 Satz 1 FamFG) begegnet keinen rechtlichen Bedenken, insbesondere basierte dieser auf einem wirksamen Anordnungsbeschluss, da dem Akteninhalt noch entnommen werden kann, dass der Beschluss vor Vollzug der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zur Bekanntgabe übergeben worden war (§ 422 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG). Auf den Zeitpunkt der späteren Zustellung kommt es insoweit nicht an (Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl., § 422 Rn. 5).
Rz. 19
b) Die Begründung der angefochtenen Entscheidung trägt zumindest die Anordnung des Unterbindungsgewahrsams nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG, denn aus ihr ergibt sich, dass die Begehung weiterer Körperverletzungen (§ 223 Abs. 1 StGB) zulasten der Großmutter des Betroffenen unmittelbar bevorstand und die angeordnete Maßnahme unerlässlich war, um diese zu verhindern. Offenbleiben kann, ob die Entscheidungsgründe zugleich die Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 3 HSOG, mithin zur Durchsetzung einer nicht näher definierten „Wegweisungsverfügung”, tragen.
Rz. 20
aa) Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG können die Polizeibehörden eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
Rz. 21
Der Unterbindungsgewahrsam nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG dient der Verhinderung bestimmter Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Der Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich dieser Eingriffsbefugnis nicht auf bestimmte Delikte beschränkt und – anders als von der Norm ebenfalls erfasste Ordnungswidrigkeiten – nicht unter das Erfordernis der erheblichen Bedeutung der Straftat für die Allgemeinheit gestellt (vgl. BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Hessen/Möstl/Bäuerle/Leggereit, 22. Ed., § 32 Rn. 17). Die Straftat muss unmittelbar bevorstehen oder fortgesetzt werden. So liegt es, wenn im konkreten Fall nachvollziehbare Tatsachen indizieren, dass sofort oder in allernächster Zeit ein straftatbedingter Schaden eintreten wird. Ausreichend ist die tatsachengestützte Überzeugung von der hohen Wahrscheinlichkeit einer künftigen Tatbegehung. Soweit im Schrifttum darüber hinaus eine „Gewissheit” verlangt wird (so Merten/Merten, Hamburgisches Polizei- und Ordnungsrecht, § 13 SOG Rn. 7), ist dem nicht zu folgen; diese Forderung überschätzt die Möglichkeiten der prognostischen Beurteilung. Die Begehung oder Fortsetzung steht insbesondere dann unmittelbar bevor, wenn die Person früher mehrfach in vergleichbarer Lage mit einer derartigen Ordnungswidrigkeit oder einer Straftat als Störer in Erscheinung getreten und nach den Umständen eine Wiederholung zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – StB 36/18, NStZ-RR 2020, 230, 231).
Rz. 22
bb) Gemessen an diesen Maßstäben ist die Gefahrenprognose des Landgerichts, der Betroffene hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit Straftaten zulasten seiner Großmutter begangen, nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat sich dabei auf die polizeilichen Ermittlungsergebnisse gestützt, wonach der Beschwerdeführer wenige Stunden zuvor seiner Großmutter ins Gesicht geschlagen und eine in diesem Zusammenhang ergangene polizeiliche Verfügung missachtet hatte. Überdies war es in der Vergangenheit wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden gekommen, die polizeiliche Einsätze erforderlich machten. Weitere Ermittlungen von Amts wegen (§ 26 FamFG) zum Sachverhalt bedurfte es insoweit nicht. Denn es drängte sich nicht auf, dass Mängel an der polizeilichen Sachverhaltsfeststellung bestehen, hat doch der Beschwerdeführer selbst einen – wenn auch wesentlich geringeren – körperlichen Übergriff gegenüber seiner Großmutter eingeräumt.
Rz. 23
cc) Ebenfalls ohne Rechtsfehler hat das Landgericht angenommen, dass die Anordnung der Fortdauer des Gewahrsams unerlässlich war.
Rz. 24
Als unerlässlich erweist sich die Freiheitsentziehung, wenn sie das äußerste bzw. letzte Mittel zur Verhinderung von Schäden ist. Die Unerlässlichkeit verlangt, dass die Gefahrenabwehr nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – StB 36/18, NStZ-RR 2020, 230, 232 mwN).
Rz. 25
Hiervon ist das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgegangen. Der Betroffene hatte wiederholt Auseinandersetzungen mit seiner Großmutter, am Tag der Gewahrsamsanordnung schlug er diese und widersetzte sich einer daraufhin ergangenen polizeilichen Anordnung, sodass die Inhaftierung des Beschwerdeführers als einziges wirksames Mittel verblieb, um weitere Straftaten zu verhindern.
III.
Rz. 26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswerts des Rechtsbeschwerdeverfahrens auf § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Unterschriften
Schäfer, Wimmer, Berg, Anstötz, RiBGH Dr. Kreicker befindet sich im Urlaub und ist deshalb gehindert zu unterschreiben. Schäfer
Fundstellen
Dokument-Index HI14767581 |