Leitsatz (amtlich)
Ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will, muß grundsätzlich eine Verfahrensrüge erheben. Ergeben sich indes bereits aus den Urteilsgründen die Voraussetzungen einer solchen Verzögerung, hat das Revisionsgericht auf Sachrüge einzugreifen. Das gilt auch, wenn sich bei der auf Sachrüge veranlaßten Prüfung, namentlich anhand der Urteilsgründe, ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer solchen Verfahrensverzögerung drängen mußten, so daß ein sachlichrechtlich zu bean- standender Erörterungsmangel vorliegt.
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1; StPO § 267 Abs. 3, § 344 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Frankfurt (Oder) (Urteil vom 02.04.2003) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten M wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 2. April 2003 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im gesamten Strafausspruch aufgehoben, soweit es ihn betrifft.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten M wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in sieben Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Sein Rechtsmittel führt zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils im gesamten Strafausspruch gegen den Revisionsführer; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts gehörte der Angeklagte zu einer in wechselnder Zusammensetzung arbeitsteilig und international organisiert handelnden Bande, die durch Straftaten erlangte hochwertige Autos von Stettin aus nach Osteuropa verschob. Der Angeklagte wirkte dabei zwischen 1994 und Sommer 1998 in insgesamt sieben Fällen als Kurierfahrer an dem Transport der Fahrzeuge nach Osteuropa mit. In einem Fall beteiligte er sich an der Täuschung einer Kfz-Versicherung, als er mit anderen einen wahrheitswidrig als gestohlen gemeldeten Pkw nach Minsk verbrachte und dort veräußerte. Den letztgenannten Fall hat das Landgericht als Beihilfe zum versuchten Betrug gewertet, die übrigen Taten als jeweils selbständige Handlungen der gewerbsmäßigen Hehlerei gemäß § 260a StGB.
Das Landgericht hat weiter festgestellt, daß der Haupttäter nichtrevidierende Mitangeklagte T kurz nach seiner Inhaftierung im Juni 1998 ein umfassendes Geständnis abgelegt und dabei auch die Mittäter benannt hat. Der Angeklagte war in dieser Sache vom 28. Oktober 1998 bis 20. Januar 1999 in Untersuchungshaft.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, soweit sich der Angeklagte gegen den Schuldspruch wendet. Auf die Sachrüge hebt der Senat jedoch den gesamten Strafausspruch auf, weil das Landgericht sich in den Urteilsgründen nicht damit auseinandergesetzt hat, ob im vorliegenden Fall eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben war.
1. Für die Entscheidung des Senats über die Revision des Angeklagten im vorliegenden Verfahren ist die Frage erheblich, ob und inwieweit die revisionsgerichtliche Prüfung einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung auf Sachrüge zu erfolgen hat oder die Erhebung einer entsprechenden Verfahrensrüge voraussetzt. Diese Frage war in der Rechtsprechung der Senate des Bundesgerichtshofs bislang streitig. Der Senat hat die Frage mit Beschluß vom 13. November 2003 (wistra 2004, 181) zum Gegenstand eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG gemacht. Die Antwortbeschlüsse der anderen Strafsenate haben zwar kein ganz einheitliches Bild ergeben. Indes gibt es deutliche Anzeichen für eine Annäherung der gegensätzlichen Standpunkte, die eine – im übrigen wegen der damit verbundenen weiteren Verfahrensverzögerung kontraindizierte – Befassung des Großen Senats für Strafsachen nach § 132 Abs. 2 oder Abs. 4 GVG entbehrlich macht.
a) Der Senat erkennt an, daß es jenseits eines sich schon aus der Urteilsurkunde ergebenden Erörterungsbedarfs einer Verfahrensrüge dann bedarf, wenn der Beschwerdeführer das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung dartun will. Deshalb ist der Senat bereit, unter Aufgabe seines weitergehenden Standpunktes im Anfragebeschluß die Rechtsposition des 3. Strafsenats (Antwortbeschluß vom 12. August 2004 – 3 ARs 5/04) prinzipiell zu übernehmen, dem auch die Auffassung des 4. Strafsenats tendenziell nahekommt (Antwortbeschluß vom 25. März 2004 – 4 ARs 6/04). Danach ist für die revisionsgerichtliche Prüfung, ob im Einzelfall eine Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzende Verfahrensverzögerung vorliegt, grundsätzlich eine Verfahrensrüge erforderlich. Ergeben sich indes bereits aus den Urteilsgründen die Voraussetzungen einer solchen Verzögerung, hat das Revisionsgericht auf Sachrüge einzugreifen. Das gleiche gilt aber auch, wenn sich bei der auf Sachrüge veranlaßten Prüfung, namentlich anhand der Urteilsgründe, ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer solchen Verfahrensverzögerung drängen mußten, so daß ein sachlichrechtlich zu beanstandender Erörterungsmangel vorliegt.
Die Voraussetzungen eines solchen Erörterungsmangels werden nach den individuellen Gegebenheiten eines jeden Einzelfalls zu beurteilen sein. So wird eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer wegen der vielen denkbaren Ursachen nicht ohne weiteres einen sachlichrechtlichen Erörterungsbedarf in diesem Sinne auslösen, wie in den genannten Antwortbeschlüssen im einzelnen näher erläutert ist. Den – im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK freilich dokumentationspflichtigen – Tatrichtern wird in diesem Bereich kein unangemessener übergroßer Begründungsbedarf abverlangt; selbstverständlich wird eine schlüssige schlagwortartige Erklärung für eine auffällige Verfahrensverzögerung ausreichen. Es wird auch nicht ernsthaft die Gefahr bestehen, daß es zu Urteilsaufhebungen allein wegen Begründungsdefiziten in einer erheblichen Zahl von Fällen kommen wird, in denen tatsächlich gar keine Verfahrensverzögerung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK vorlag.
b) Die Antwortbeschlüsse des 1. und des 2. Strafsenats stehen dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
aa) Im Antwortbeschluß des 2. Strafsenats vom 26. Mai 2004 – 2 ARs 33/04 – (vgl. StraFo 2004, 356) wird ebenfalls Raum für eine revisionsgerichtliche Prüfung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf Sachrüge gesehen. Zwar werden die Voraussetzungen hierfür enger gefaßt, doch ist der genannten Auffassung widerstreitende Rechtsprechung dieses Senats nicht ersichtlich.
bb) Wie sich aus dem Antwortbeschluß des 1. Strafsenats vom 23. Juni 2004 – 1 ARs 5/04 – ergibt, hält dieser Senat eine Verfahrensrüge in Fällen der vorliegenden Art in sehr viel weitergehendem Umfang für unerläßlich. Indes steht auch der Beschluß dieses Senats vom 3. August 2000 – 1 StR 293/00 –, der nach dem Antwortbeschluß einem Eingreifen auf Sachrüge tragend entgegenstehen soll, der Annahme eines Erörterungsmangels in Fällen signifikanter Anhaltspunkte für eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verstoßende Verfahrensverzögerung nicht zwingend entgegen. Dies hat der 1. Strafsenat auf informelle Nachfrage bestätigt. Danach hält zudem auch dieser Senat im Blick auf das Gesamtbild der Ergebnisse des Anfrageverfahrens eine im Einzelfall praktikabel zu handhabende Vereinheitlichung der Rechtsprechung der Senate ohne ein Vorlageverfahren an den Großen Senat für Strafsachen für vertretbar und auch sachgerecht. Der 1. Strafsenat tendiert nunmehr zu der Auffassung, daß ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will, grundsätzlich eine Verfahrensrüge erheben müsse; nur in besonderen Ausnahmefällen könne insoweit ein auf die Sachrüge zu prüfender Erörterungsmangel vorliegen; dafür sei maßgeblich, daß in den Urteilsgründen Umstände festgestellt sein müßten, die für das Vorliegen einer solchen Verfahrensverzögerung so signifikant seien, daß sie den Tatrichter zur Prüfung des darin liegenden Verstoßes drängen.
c) Damit bestehen zwischen den Senaten im Ergebnis zwar im einzelnen noch unterschiedliche Auffassungen zur sachlichrechtlichen Erörterungspflicht bei Anzeichen für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. Da aber keine tragende Divergenz in der Frage besteht, daß für den Tatrichter in diesem Bereich überhaupt eine Erörterungspflicht entstehen kann, ist auch die Notwendigkeit einer Anrufung des Großen Senats nach § 132 Abs. 2 GVG entfallen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der 5. Strafsenat nunmehr zubilligt, daß im Revisionsverfahren der Einwand einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung grundsätzlich in der Form einer Verfahrensrüge (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 19) zu erheben ist, wobei allerdings die Anforderungen an den Revisionsvortrag (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht übersteigert werden dürfen (so auch die Antwortbeschlüsse des 1. und des 2. Strafsenats). Eine möglicherweise verbleibende Divergenz bezieht sich letztlich nur noch auf den konkreten Subsumtionsvorgang und die Reichweite der sachlichrechtlichen Prüfungspflicht in zukünftigen Einzelfällen. Zwischen den Senaten steht mithin allenfalls eine unterschiedliche Bewertung zu beurteilender Sachverhalte, jedoch keine – vom Großen Senat für Strafsachen abstrakt zu beantwortende – Rechtsfrage mehr im Streit.
2. Nach den vorgenannten Grundsätzen hätte es im vorliegenden Fall einer Erörterung bedurft, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten war. Mit dem sehr umfänglichen Geständnis des Haupttäters im Juni 1998, das bereits zu Beginn der Ermittlungen erfolgte und nach den Urteilsgründen die Tatabläufe und die Tatbeteiligungen anderer umfassend aufdeckte, waren die Taten weitgehend geklärt, zumal auch der (nichtrevidierende) Mitangeklagte P ebenfalls schon im Ermittlungsverfahren geständig war. Der Angeklagte war – jedenfalls spätestens mit seiner Inhaftierung im Oktober 1998 – als Tatbeteiligter bekannt. Die Anklageschrift, die der Senat als Verfahrensvoraussetzung von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen hatte, datierte gleichwohl erst vom Dezember 2001. Auf welche Umstände es zurückzuführen war, daß es erst nach über drei Jahren zur Anklageerhebung kam, hätte deshalb im Hinblick auf den durch die weitgehenden Geständnisse bestimmten Ermittlungsstand unter dem Gesichtspunkt einer den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnenden beträchtlichen Verfahrensverzögerung der Darlegung bedurft.
Bei der Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung muß allerdings immer auch die Gesamtverfahrensdauer in Rechnung gestellt werden, zumal durch eine besondere Beschleunigung in späteren Verfahrensabschnitten Verfahrensverzögerungen in anderen Verfahrensabschnitten kompensiert werden können (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Verfahrensverzögerung 9; StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 17; vgl. auch EGMR wistra 2004, 177). Der Zeitraum zwischen Anklageerhebung und Urteilsspruch, der wiederum fast ein Jahr und fünf Monate in Anspruch genommen hat, ist hingegen seinerseits so lang, daß auch insoweit eine Darlegung der Ursachen geboten gewesen wäre. In der Zusammenschau beider Verfahrensabschnitte gilt dies in besonderem Maße. Es war hier eine – aus der Mitteilung der relevanten Verfahrenstatsachen und möglicherweise einer daran anknüpfenden Würdigung bestehende – Erläuterung dahingehend unerläßlich, warum trotz der frühzeitigen umfassenden Geständnisse das Verfahren insgesamt fast fünf Jahre bis zum erstinstanzlichen Urteil gedauert hat. Dabei mag die Komplexität des Verfahrens und der Auslandsbezug nach Osteuropa eine Rolle spielen. Andererseits erschließt sich im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres, wie sich dieser Umstand auf den dann auch in der Hauptverhandlung geständigen Angeklagten ausgewirkt haben könnte, der ersichtlich bereits frühzeitig von Mitangeklagten belastet worden war.
Diese Prüfung wird der neue Tatrichter nachzuholen haben. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es hierfür aber nicht, weil der neue Tatrichter zusätzliche Feststellungen zur Verfahrensverzögerung wird treffen können, ohne sich zu den bisherigen in Widerspruch zu setzen. Er wird zudem die im Revisionsrechtszug infolge des durchgeführten Zwischenverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG notwendig gewordene weitere Verfahrensdauer in Bedacht zu nehmen haben – dies freilich nur unter den allgemeinen Gesichtspunkten des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen Tat und Aburteilung sowie etwaiger Belastungen durch die lange Verfahrensdauer (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13).
III.
Eine Erstreckung der Aufhebung gemäß § 357 StPO auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten kommt nicht in Betracht. Ein Erörterungsmangel liegt bei diesen schon deshalb nicht vor, weil die insoweit maßgeblichen Darstellungspflichten hinsichtlich der nichtrevidierenden Mitangeklagten in einem nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil nicht bestehen.
Unterschriften
Harms, RiBGH Häger ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert Harms, Raum, Brause, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 2558359 |
BGHSt 2005, 342 |
BGHSt |
NJW 2005, 518 |
NStZ 2005, 223 |
NStZ 2005, 390 |
wistra 2005, 107 |
DAR 2005, 258 |
PStR 2005, 57 |
NJW-Spezial 2005, 137 |
PA 2005, 52 |
StV 2005, 73 |