Tenor
Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Das Revisionsgericht hat auf Sachrüge zu prüfen, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht, gegeben ist oder jedenfalls zu erörtern gewesen wäre; insoweit stehen dem Revisionsgericht als Beurteilungsgrundlage die Urteilsgründe sowie diejenigen Umstände offen, die es von Amts wegen zur Kenntnis nehmen muß (Anklage, Eröffnungsbeschluß).
Der Senat fragt daher beim 1. und 3. Strafsenat an, ob an der entgegenstehenden Rechtsmeinung festgehalten wird.
Er legt die Sache den anderen Strafsenaten mit der Frage vor, ob der beabsichtigten Entscheidung eigene Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an ihr festgehalten wird.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten M. wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in sieben Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte als Mitglied einer aus mindestens vier Personen bestehenden Gruppe zwischen Januar 1995 und Anfang Juni 1998 durch Straftaten erworbene Pkws in osteuropäische Länder verkauft. Dem Angeklagten oblag in den ausgeurteilten sieben Fällen hauptsächlich der Transport dieser Autos nach Osteuropa. Der Haupttäter, der nicht revidierende Mitangeklagte T., legte zeitnah nach seiner Verhaftung am 19. Juni 1998 ein Geständnis ab und machte umfängliche Angaben über seine Hintermänner und Mittäter. Gegen den Angeklagten M. erging bereits im Oktober 1998 wegen der hier zugrunde liegenden Taten Haftbefehl, der – bis er im Januar 1999 außer Vollzug gesetzt wurde – auch vollstreckt wurde.
In dieser Sache hat die Staatsanwaltschaft am 6. Dezember 2001 Anklage erhoben. Mit Beschluß vom 7. November 2002 hat das Landgericht das Hauptverfahren eröffnet und am 31. März 2003 mit der gegen vier Angeklagte geführten Hauptverhandlung begonnen. Die dreitägige Hauptverhandlung hat es mit Urteil vom 2. April 2003 abgeschlossen.
2. Der Senat beabsichtigt, auf Sachrüge den Strafausspruch aufzuheben, weil das Landgericht nicht erörtert hat, ob eine gegen das Rechtsstaatsgebot und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verstoßende Verfahrensverzögerung vorliegt. Er sieht sich hieran durch gegenteilige Rechtsprechung des 1. und 3. Strafsenats gehindert.
a) Die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren nur auf eine Verfahrensrüge berücksichtigt werden kann, wird von den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs uneinheitlich beantwortet. Der 4. Strafsenat will einen solchen Verstoß auf Sachrüge dann berücksichtigen, wenn der sich aus den Urteilsgründen ergebende Zeitablauf die Erörterung nahelegt, daß eine vom Angeklagten nicht zu vertretende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben sein könnte (BGH StV 1998, 376 f.; BGH, Beschluß vom 23. April 1998 – 4 StR 135/98; in diesem Sinne wohl auch der 1. Strafsenat in BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7). Dagegen verlangen der 1. und 3. Strafsenat grundsätzlich die Erhebung einer Verfahrensrüge, mit der vom Angeklagten die zur Beurteilung eines Verstoßes gegen das allgemein als Beschleunigungsgebot bezeichnete Prinzip maßgeblichen Tatsachen in einer Form vorzutragen sind, die der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt (BGHSt 45, 308, 310; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9, 11 – so auch BGH [1. Strafsenat], Beschluß vom 3. August 2000 – 1 StR 293/00).
In der Praxis der Strafsenate des Bundesgerichtshofs herrscht allerdings insoweit Übereinstimmung, als eine Verfahrensrüge dann nicht erforderlich sein soll, wenn die Verfahrensverzögerung nach Ablauf der Begründungsfrist für die Verfahrensrüge entstanden ist (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 11). Diese im Revisionsrechtszug bewirkten Verstöße gegen das rechtsstaatliche Gebot einer angemessenen Förderung des Strafverfahrens berücksichtigen die Strafsenate des Bundesgerichtshofs durchgängig von Amts wegen, wobei regelmäßig durch das Revisionsgericht selbst ein dem Umfang der Verzögerung Rechnung tragender Strafnachlaß gewährt wird (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 8, 10).
b) Der Senat, der in einer früheren Entscheidung eine Verfahrensrüge grundsätzlich für erforderlich gehalten hat (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 11 – dort gleichwohl auf Sachrüge eine Verletzung des Beschleunigungsgebots angenommen hat), neigt im vorliegenden Fall mehrheitlich dazu, die sachlichrechtliche Nachprüfung des Urteils auf Sachrüge auch darauf zu erstrecken, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben ist.
aa) Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (BVerfG NJW 2003, 2225 m.w.N.) und zugleich die in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb einer angemessenen Dauer sichern soll (EGMR EuGRZ 1983, 371 ff.; zum berücksichtigfähigen Zeitraum vgl. EGMR NJW 2002, 2856). Ob eine in diesem Sinne unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, ist aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung festzustellen, die neben der Verzögerung durch die Justizorgane auch die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie die für den Betroffenen damit verbundenen besonderen Belastungen berücksichtigen muß (BVerfG NJW 2003, 2225 ff.; 2228 f.).
Liegt eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor, ist dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Tatrichter ist dann von Verfassungs wegen zu einer sorgfältigen Prüfung verpflichtet, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Dies setzt regelmäßig eine Prüfung in zweifacher Hinsicht voraus. Zum einen müssen Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festgestellt werden. In einem zweiten Schritt hat der Tatrichter dann das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands auf der Rechtsfolgenseite konkret zu bestimmen. Einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung kann dabei durch einen konkret zu bestimmenden Strafnachlaß, aber auch im Rahmen der Strafrahmenwahl (BGH NStZ 1992, 229; BGH, Beschluß vom 14. September 1993 – 4 StR 521/93), der Anwendung des § 59 StGB oder einer Einstellung nach §§ 153 ff. StPO Rechnung getragen werden (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 6; vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3254, 3255). In besonderen Ausnahmefällen entsteht bei besonders gravierenden Verzögerungen ein Verfahrenshindernis, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann, wenn nicht die vom Gericht festzustellende Tatschuld eine Weiterführung des Prozesses erforderlich macht (BGHSt 46, 159, 168 ff.; vgl. schon BGHSt 35, 137).
Der Tatrichter muß diese Entscheidung aufgrund einer umfassenden Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls treffen. Die Begründung des Gerichts hat eine Auseinandersetzung damit erkennen zu lassen, ob die ausgesprochene, in Art. 2 GG eingreifende Rechtsfolge angesichts der erheblichen Verzögerung des Strafverfahrens noch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, an dem Strafen grundsätzlich zu messen sind, in Einklang steht (vgl. BVerfG JZ 2003, 999, 1000 mit Anm. Bohnert). Diese Erörterung hat regelmäßig in den Urteilsgründen stattzufinden. Sie rechtfertigt die gefundene Strafe unter verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten. Deshalb sind – falls eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung inmitten steht – Ausführungen hierzu aus verfassungsrechtlichen Gründen ein notwendiger Bestandteil der Urteilsbegründung.
Der Tatrichter hat die Verfahrenstatsachen darauf zu untersuchen, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt und ggf. deren Folgen für den Rechtsfolgenausspruch zu bestimmen. Insoweit bezieht sich diese Prüfung – jedenfalls zum Zeitpunkt des Urteilserlasses – auch nicht auf eine (dann mit der Verfahrensrüge anzugreifende) allein verfahrensrechtliche Frage. Vielmehr erfordert sie im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot die Würdigung des gesamten bis zum Zeitpunkt des Urteilsspruches angefallenen Verfahrensstoffes, der zudem zu ausschließlich sachlichrechtlichen Gesichtspunkten wie Tatschwere und Schuldumfang oder Schwierigkeit des Falles in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Beziehung zu setzen ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254, 3255). Dies berührt aber nicht punktuell den prozessualen Weg der Entscheidungsfindung, sondern stellt einen Subsumtionsvorgang dar, innerhalb dessen neben sachlichrechtlichen Umständen auch ein Bündel von Verfahrenstatsachen in bezug auf die Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips und des Beschleunigungsgebots der Menschenrechtskonvention zu beurteilen sind. Ob der Tatrichter im Blick auf die gesamte Verfahrensgeschichte diesen Subsumtionsvorgang rechtsfehlerfrei vorgenommen hat, betrifft in erster Linie die Rechtsfolgen der Tat. Eine mängelbehaftete Subsumtion dort wirkt sich als Rechtsfehler in der Strafzumessung aus. Ein solcher Fehler ist ein Rechtsanwendungsfehler und mithin im Rahmen der Sachrüge zu prüfen.
bb) Aus der Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung folgt zwangsläufig ein bestimmender Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Nimmt der Tatrichter eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung an, dann reicht sogar die bloße Erwähnung dieses Umstandes in der Reihe der Strafmilderungsgründe nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, daß zugleich das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Verstoßes näher bestimmt wird. Dies betrifft grundsätzlich sämtliche Einzelstrafen, die von dem Mangel betroffen sind. Eine entsprechende Kompensation muß sich aber auch auf die Gesamtstrafe auswirken; insoweit darf das Urteil keinen Zweifel offen lassen, daß die Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch zu einer spürbaren Ermäßigung der Gesamtstrafe geführt hat (BGH NStZ 2003, 601).
Das besondere, aus seiner verfassungs- und konventionsrechtlichen Verankerung herzuleitende Gewicht dieses Strafzumessungsgrundes bedingt es, daß den Tatrichter insoweit auch besondere Darlegungspflichten treffen. Soweit sich aus den äußeren Daten, wie Tatzeit, Einleitung und Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens, Anklageerhebung, Eröffnung des Hauptverfahrens sowie Beginn und Ende der Hauptverhandlung Anhaltspunkte für das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ergeben können, wird zu erörtern sein, ob der Zeitablauf auf einer erheblichen Verletzung des Beschleunigungsgebots durch die Strafverfolgungsbehörden beruht. Damit korrespondiert aber, daß das Revisionsgericht im Rahmen der ihm obliegenden Rechtskontrolle seinerseits zu überprüfen hat, ob der Tatrichter dieser ihn von Verfassungs wegen treffenden Erörterungspflicht genügt hat. Läßt der Tatrichter – obwohl die erhebliche Verfahrensdauer hierzu gedrängt hätte – diese Frage in den Urteilsgründen unerwähnt, dann liegt darin ein auf die Sachrüge zu beanstandender Rechtsfehler.
Eine hiervon zu trennende Frage ist, inwieweit ein entsprechender sachlichrechtlicher Mangel für das Revisionsgericht erkennbar ist. Insoweit stehen dem Revisionsgericht als Erkenntnisquellen neben den Urteilsgründen auch diejenigen Umstände offen, die es von Amts wegen zur Kenntnis nehmen muß. Solche Verfahrensvoraussetzungen sind das Vorliegen einer wirksamen Anklageerhebung und eines Eröffnungsbeschlusses. Deren Zeitpunkte sind für das Revisionsgericht ebenso offenbar wie die sich aus der Urteilsurkunde selbst ergebenden Daten, insbesondere der Zeitpunkt der Taten sowie der Beginn und das Ende der Hauptverhandlung, wobei auch ein frühes Geständnis von Bedeutung sein kann. Häufig werden sich aus diesen Zeitangaben zureichende Anhaltspunkte ergeben, die dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob hier nähere Ausführungen des Tatrichters erforderlich gewesen wären. Anlaß hierzu wird insbesondere dann bestehen, wenn die jeweiligen Zeiträume innerhalb der einzelnen Verfahrensabschnitte so lange bemessen sind, daß dies die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nahelegt.
cc) Das Erfordernis einer Verfahrensrüge würde insbesondere bei schwerwiegenden Verfahrensverzögerungen zudem zu Wertungswidersprüchen führen. Das Revisionsgericht hat den Verfahrensablauf nämlich dann von Amts wegen zu prüfen, wenn die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Ausmaß erreicht hat, welches ein Verfahrenshindernis eintreten läßt. Eine solche Situation wird zwar nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn der Verstoß so schwer wiegt, daß eine angemessene Berücksichtigung bei einer umfassenden Gesamtwürdigung im Rahmen der Sachentscheidung nicht mehr möglich ist (vgl. BGHSt 35, 137, 140 ff.). Dies ist aber nie allein im Hinblick auf das Ausmaß der den Strafverfolgungsorganen zuzurechnenden Verzögerungen zu bestimmen. Vielmehr besteht immer eine Wechselwirkung zwischen der Schuld des Täters und dem Grad der Verfahrensverzögerung. Je größer der dem Beschuldigten zuzurechnende Schuldumfang ist, desto höhere Anforderungen sind andererseits an das Gewicht der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu stellen, um ein Verfahrenshindernis annehmen zu können. Der Tatrichter hat sich mit dieser Frage in den Urteilsgründen auseinanderzusetzen. Dies verlangt einmal Feststellungen zum Verfahrensgang, aber gleichzeitig auch zur Schuld des Täters. Der Tatrichter hat dabei zugleich zu erörtern, ob der Verstoß durch eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung – gegebenenfalls unter Anwendung von § 59 StGB – oder etwa durch eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO hinreichend ausgeglichen werden kann (BGHSt 46, 159, 175).
Dies muß aber wiederum Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage haben, wie das Revisionsgericht eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu berücksichtigen hat, die noch nicht ein solch außergewöhnliches Gewicht erreicht hat, das ein Verfahrenshindernis entstehen läßt. Insbesondere die vorgelagerten Formen, die noch über eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO oder eine Anwendung des § 59 StGB aufgefangen werden können, verdeutlichen den Widerspruch, der aufträte, wenn das Revisionsgericht diesen Umstand nur im Falle einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge berücksichtigen können soll. Ohne formgerechte Verfahrensrüge wäre dem Revisionsgericht dann nämlich der Blick auf etwaige Auffanglösungen (§ 59 StGB, §§ 153, 153a StPO) versperrt, welche die Annahme eines Verfahrenshindernisses gerade umgehen sollen. Eine sachgerechte und in sich widerspruchsfreie revisionsgerichtliche Kontrolle muß aber auch die gravierenden Verfahrensverzögerungen umfassen, die im Vorfeld des Verfahrenshindernisses liegen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die der Tatrichter unberücksichtigt gelassen hat, vom Revisionsgericht auch dann unbeachtet bleiben soll, wenn keine Verfahrensrüge erhoben wurde, obwohl die Verzögerung so schwerwiegend ist, daß nur mit einer Anwendung des § 59 StGB oder der §§ 153, 153a StPO der Eintritt eines Verfahrenshindernisses abwendbar gewesen wäre.
dd) Der Annahme eines nur mit der Verfahrensrüge geltend zu machenden Mangels stehen auch die besonderen Vortragserfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entgegen, die für derart komplexe Verfahrensgeschehnisse nicht mehr handhabbar sind. Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hat der Revisionsführer sämtliche Umstände dem Revisionsgericht darzulegen, die für die Entscheidung des Revisionsgerichts bedeutsam sein könnten. Dies kann auch sogenannte negative Tatsachen umfassen (BGH NStZ 2000, 49, 50 m.w.N.). Die lückenlose Aufarbeitung eines sich regelmäßig über mehrere Jahre hinweg erstreckenden Verfahrensablaufes, dessen Feststellung ohnehin dem Tatgericht obläge, ist dem Beschwerdeführer schlechthin nicht zumutbar. Ein entsprechender Revisionsvortrag würde im wesentlichen den gesamten Inhalt der Verfahrensakten betreffen, weil nahezu sämtliche dort dokumentierten Geschehnisse sich in irgendeiner Beziehung auf die Verfahrensdauer ausgewirkt haben könnten. Andererseits ist der Revisionsführer gehalten, dem Revisionsgericht nicht nur ein bloßes Aktenkonvolut vorzulegen, sondern dieses auch zu strukturieren (BGH NStZ 1987, 36 und bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1987, 221). Kommt er dieser Pflicht, die zwangsläufig eine gewisse Selektion des Tatsachenstoffes voraussetzt, mit der ihm zumutbaren Sorgfalt nach, so verbleibt dennoch für ihn ein nicht unerhebliches Restrisiko, daß sein Vortrag unvollständig bleibt, weil er – jedenfalls aus Sicht des Revisionsgerichts – Umstände nicht mitgeteilt hat, die für die Beurteilung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung Bedeutung erlangen könnten.
Schon diese nur schwerlich zu erfüllenden Anforderungen an eine zulässige Verfahrensrüge belegen, daß das Erfordernis einer Verfahrensrüge der hier zu beurteilenden Problemstellung nicht gerecht würde. Der aus verfassungs- und menschenrechtlicher Sicht so bedeutsame Grundsatz der Verfahrensbeendigung in einer für ein rechtsstaatliches Verfahren angemessenen Zeit wäre dadurch in seiner Wirkkraft erheblich entwertet, wenn derart hohe Zulässigkeitsschwellen vorausgesetzt werden sollten. Dies ließe sich weder mit der Funktion der Gewährleistung auch als institutioneller Garantie vereinbaren, die mangels einer effektiven Sanktionierung durch derartige Zulässigkeitsanforderungen leerliefe, noch würde es dem Schutzzweck gerecht, den diese Vorschrift im Hinblick auf das betroffene Individuum verfolgt. Insoweit wäre eine solche Auslegung auch im Blick auf das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich problematisch. Eine Regelung, die dem Beschwerdeführer in bezug auf den Zugang zur Rechtsmittelinstanz kaum ausrechenbaren Darlegungsanforderungen unterwirft, steht mit dem Verfassungsgebot der Rechtsmittelklarheit nicht mehr im Einklang (BVerfGE 49, 148, 163 ff.).
Die Vortragserfordernisse lassen sich auch nicht reduzieren. Jede irgendwie geartete Abschwächung hätte nämlich zur Folge, daß für den Revisionsführer wiederum nicht abschätzbar wäre, welche Umstände er mitteilen müßte und welche er weglassen könnte. Es ist auch nicht erkennbar, wie eine solche Absenkung der Vortragserfordernisse sich abstrakt beschreiben lassen sollte. Anders als bei Verfahrensrügen, die regelmäßig nur ein punktuelles Geschehen betreffen, auf das die Vortragspflicht des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zugeschnitten ist, wären hier schon die verfahrensbezogenen Umstände unübersichtlich, abgesehen von den noch hinzutretenden sachlichrechtlichen Kriterien. Auch dieser Gesichtspunkt macht die systematische Notwendigkeit deutlich, die Frage der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, die neben verfahrensrechtlichen auch wesentliche sachlichrechtliche Elemente enthält, in der Revisionsinstanz auf Sachrüge einer Überprüfung zuzuführen.
c) Die Überprüfung auf Sachrüge ergäbe hier einen durchgreifenden Begründungsmangel in den Urteilsgründen. Nach Auffassung des Senats hätte es im vorliegenden Fall einer Erörterung bedurft, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten war. Mit dem sehr umfänglichen Geständnis des Haupttäters im Juni 1998, das bereits zu Beginn der Ermittlungen erfolgte und nach den Urteilsgründen die Tatabläufe und die Tatbeteiligung weitgehend aufdeckte, waren die Taten im wesentlichen geklärt, zu- mal auch der weitere (nichtrevidierende) Mitangeklagte P. schon im Er- mittlungsverfahren geständig war. Der Angeklagte war – jedenfalls spätestens mit seiner Inhaftierung im Oktober 1998 – als Tatbeteiligter bekannt. Wieso es erst nach dreieinhalb Jahren, im Dezember 2001, zur Anklageerhebung kam, hätte unter dem Gesichtspunkt der den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnenden Verfahrensverzögerung näherer Darlegung bedurft.
Bei der Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung muß zwar immer auch die Gesamtverfahrensdauer in Rechnung gestellt werden, zumal durch besondere Beschleunigung in späteren Verfahrensabschnitten Verzögerungen in anderen Verfahrensabschnitten kompensiert werden können. Der Zeitraum zwischen Anklageerhebung und Urteilsspruch, der wiederum fast ein Jahr und fünf Monate in Anspruch genommen hat, ist hier wiederum so lange, daß auch insoweit eine Darlegung der Ursachen geboten gewesen wäre. In der Zusammenschau beider Verfahrensabschnitte gilt dies in besonderem Maße. Es wäre hier eine Gesamtwürdigung dahingehend notwendig gewesen, warum trotz der frühzeitigen umfassenden Geständnisse das Verfahren insgesamt dennoch fast fünf Jahre bis zum erstinstanzlichen Urteil gedauert hat.
3. Der Senat sieht sich an einer abschließenden Sachentscheidung gehindert. Der vorliegende Fall nötigt deshalb zu einer Anfrage nach § 132 Abs. 3 GVG. Es liegt eine Abweichung von der vorgenannten Rechtsprechung des 3. und des 1. Strafsenats vor. Diese besteht nach Auffassung des Senats auch, wenn die Feststellungen in den Urteilsgründen für sich genommen tragfähig sein sollten, so daß sich schon auf ihrer Grundlage ein Erörterungsmangel feststellen ließe. Zwar hat der Bundesgerichtshof in Einzelfällen die Frage der Notwendigkeit der Erhebung einer Verfahrensrüge dahinstehen lassen, wenn die maßgeblichen Umstände sich jedenfalls auch aus den Urteilsfeststellungen entnehmen lassen (vgl. BGHSt 47, 44, 47; BGH StV 2000, 604, 605 jeweils zur vergleichbaren Problematik eines rechtsstaatswidrigen Lockspitzeleinsatzes). In diesen Fällen wurde jedoch – anders als hier – jedenfalls eine Verfahrensrüge erhoben, wenngleich an deren Zulässigkeit Bedenken bestanden haben mögen.
Überdies ist – soweit sich der Verfahrensverstoß aus den Urteilsgründen selbst ergibt – das Meinungsbild in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht eindeutig (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Beweiswürdigung 5; Jähnke in Festschrift für Meyer-Goßner S. 559 f.). Es ist fraglich, ob die Feststellungen in den Urteilsgründen die formelle Erhebung einer Verfahrensrüge entbehrlich machen können (vgl. Kuckein in KK 5. Aufl. § 337 Rdn. 27). Hält man nämlich grundsätzlich eine Verfahrensrüge für erforderlich, bedeutet dies zwangsläufig, daß eine solche auch explizit erhoben werden muß, weil die Rüge der Verletzung von Verfahrensnormen vollkommen der Dispositionsfreiheit des Beschwerdeführers unterliegt, aber andererseits für diese Rüge besondere Begründungserfordernisse gelten (vgl. Jähnke in Festschrift für Meyer-Goßner S. 559 f.). Eine solche ausdrückliche Entscheidung des Beschwerdeführers, die Verletzung des Beschleunigungsgebotes zu rügen, ist der Revisionsbegründung nicht zu entnehmen. Der Senat sieht sich deshalb nicht in der Lage, hier ohne Anfrage nach § 132 Abs. 3 GVG in der Sache zu entscheiden. Dies würde im übrigen in gleicher Weise gelten, wenn man für die revisionsrechtliche Prüfung, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, die Erhebung einer Verfahrensrüge für erforderlich hielte; denn auch dieser Rechtsansicht steht Rechtsprechung anderer Senate entgegen.
Unterschriften
Harms, Häger, Gerhardt, Raum, RiBGH Dr. Brause ist durch urlaubsbedingte Abwesenheit an der Unterschrift gehindert. Harms
Fundstellen
Haufe-Index 2558358 |
NStZ 2004, 639 |
wistra 2004, 181 |