Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten über die Schuldfähigkeit des Angeklagten und die Voraussetzungen seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie zu den Prüfungsanforderungen an das Gericht bei Vorliegen eines methodenkritischen Gegengutachtens.
Normenkette
StGB §§ 20, 63; StPO § 244 Abs. 4 S. 2
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 01.12.2003) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. Dezember 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts als Schwurgericht zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die allein vom Angeklagten eingelegte Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt, daß der zur Tatzeit 21-jährige, bislang unauffällige Angeklagte im Januar 2002 seine Cousine, mit der zusammen er eine Wohnung im Haus seiner Großmutter bewohnte, ohne feststellbaren Grund durch Ersticken tötete. An einem unbekannten Ort außerhalb der Wohnung zerlegte er in der Folge die Leiche in aufwendiger Weise, wobei er namentlich auch die Haut abzog, die Brüste und das Geschlechtsteil gesondert abtrennte, die lange Rückenstrecker-Muskulatur vom Torso entfernte, einzelne Knochen auslöste und innere Organe entnahm. Erhebliche Teile der Leiche erhitzte er im Backofen seiner Wohnung. Er verpackte die Leichenteile in Plastiktüten, die er zunächst in der Wohnung versteckte. Den Kopf und die Beckenknochen verbrachte er in einen Steinbruch, wo er den Kopf zusätzlich mit einem Beil zertrümmerte und vergrub. An den später in der Wohnung und in dem Steinbruch von der Polizei aufgefundenen Leichenteilen fanden sich eine Vielzahl von Reiskörnern. Wesentliche Teile der Leiche wurden nie aufgefunden. Daß der Angeklagte diese Teile verzehrt hat, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
2. Das Landgericht hat, da es die Voraussetzungen eines Mordmerkmals im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB als nicht bewiesen angesehen hat, dieses Geschehen als tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verbrechen des Totschlags angesehen. Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat es festgestellt, zur Tatzeit sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sicher erheblich vermindert, möglicherweise aufgehoben gewesen. Die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei möglicherweise voll erhalten, möglicherweise gänzlich aufgehoben gewesen. Im Zweifel sei daher von der Schuldunfähigkeit des Angeklagten auszugehen. Das Landgericht hat den Angeklagten daher freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Das Landgericht hat sich bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit „den gut verständlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen (Dr. B.) angeschlossen” und sie sich zu eigen gemacht (UA S. 37). Diese hat es im wesentlichen wie folgt wiedergegeben:
„Insgesamt wirke der Angeklagte in seinem Gesamtverhalten hoch auffällig (…) Der Zustand des Angeklagten gehe über eine bloße Persönlichkeitsstörung deutlich hinaus. Für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung sprächen zwar eine emotionale Verflachung, die Nivellierung von Gefühlen und das Einzelgängertum des Angeklagten. Für die Annahme einer Persönlichkeitsstörung müßten sich diese Symptome jedoch bis in die Jugend verfolgen lassen. Schulbildung, Lehre und Beruf des Angeklagten seien jedoch unauffällig (…). Auch eine klassische schizophrene Psychose und mithin eine Geisteskrankheit im engeren Sinne liege … nicht vor. Bei der Störung des Angeklagten handle es sich um eine solche, welche zwar in seiner Persönlichkeitsstörung verankert sei, jedoch schizophrenietypische Züge trage. Hierfür spreche auch der erhebliche Konsum von Betäubungsmitteln (…). Ein Suchtmittelmißbrauch sei für das vorliegende Krankheitsbild symptomatisch. Es sei auch nicht auszuschließen, daß der Gebrauch von Haschisch die Entwicklung und Verschlimmerung des Krankheitsbildes befördert habe. Aufgrund der festgestellten Erkrankung des Angeklagten sei seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich vermindert, möglicherweise auch ausgeschlossen. Hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit sei von deren vollen Erhalt bis hin zu deren völligen Verlust alles denkbar” (UA S. 36, 37) …
Die festgestellte schizotype Persönlichkeitsstörung sei entweder unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fassen (UA S. 38).
Auch im Hinblick auf die Gefährlichkeitsprognose im Sinne von § 63 StGB ist das Landgericht „den gut verständlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. (gefolgt)”, die das Urteil wie folgt wiedergibt:
„Bei der festgestellten schizophrenen Psychose handle es sich um eine überdauerte Störung der Geistestätigkeit. Die Krankheit des Angeklagten sei chronisch. Das Rückfallrisiko des Angeklagten sei extrem hoch. Krankheitstypisch sei die Begehung von Straftaten, welche sich durch ein Übermaß an Gewalt auszeichneten und auch zum Tode des Opfers führen könnten. Hierbei sei von einer Tatbegehung vornehmlich im Verwandten- und näheren Bekanntenkreis auszugehen. Insgesamt sei damit zu rechnen, daß der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung weitere, der vorliegenden Tat vergleichbare Handlungen vornehmen werde” (UA S. 39).
3. In der Hauptverhandlung stellte die Verteidigerin, nachdem der Sachverständige Dr. B. sein Gutachten erstattet hatte, den Beweisantrag, ein (weiteres) medizinisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten unter anderem zum Beweis der Tatsachen einzuholen, daß der Angeklagte nicht, wie vom Sachverständigen Dr. B. angenommen, an einer Schizophrenia simplex oder einer schizotypen Persönlichkeitsstörung leide, vielmehr seelisch und geistig gesund sei. Sie stützte diesen Antrag auf ein von ihr vorgelegtes methodenkritisches Gutachten des Sachverständigen Dr. W., der sich mit dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. B. kritisch auseinandersetzte und sowohl formale Mängel rügte als auch „in inhaltlicher Hinsicht erhebliche Zweifel (formulierte), ob die im Gutachten dargelegten Anknüpfungspunkte die von Dr. B. vorgenommenen diagnostischen Zuordnungen tragen.” Es seien kaum objektivierbare psychopathologische Anknüpfungspunkte dargelegt; eine Ableitung der Diagnose aus diagnostisch relevanten biographischen Besonderheiten fehle weitgehend ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem unauffälligen Verlaufsbericht über die vorläufige Unterbringung nach § 126 a StPO. In dem dem Landgericht vorgelegten schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. W. waren diese inhaltlichen Zweifel im einzelnen ausgeführt. Es enthielt unter anderem auch folgende Hinweise:
„Psychodiagnostische Überlegungen dazu, wie sich die von Dr. B. angenommene – Störung in der vorgeworfenen Tatsituation konkret ausgewirkt haben soll, enthält das Gutachten nicht (…), was insoweit den gutachtlichen Ausführungen einen eigentümlich spekulativ-beliebigen Charakter verleiht”. (…) „(Es besteht) eine nicht unerhebliche Gefahr eines logischen Zirkelschlusses: Ausgehend von den bizarr-erschreckenden Umständen des Leichenfundes, die die Mutmaßung nahe legen, daß es sich hier um einen schwer psychisch gestörten Täter gehandelt haben dürfte, könnte man versucht sein, den Tatverdächtigen zu ‚psychopathologisieren’, um ihn für die ihm unterstellte Tat ‚passend’ zu machen – gewissermaßen nach dem Motto: Wer so etwas tut, der muß verrückt sein. Diese Gefahr sehe ich im vorliegenden Fall um so mehr, als die von Dr. B. vorgenommenen diagnostischen Zuordnungen mir ausgesprochen schwach begründet erscheinen (…).”
Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei bereits erwiesen. Die Sachkunde des Sachverständigen sei nicht zweifelhaft. Die gerügten Mängel beträfen lediglich das vorläufige schriftliche Gutachten; der Sachverständige habe sein Ergebnis jedoch mündlich vorgetragen. Er habe seinem Gutachten im Gegensatz zu dem Sachverständigen Dr. W. den Akteninhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme zugrunde gelegt.
4. Mit der Ablehnung hat das Landgericht gegen § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO verstoßen, denn die Sachkunde des früheren Gutachters war nach Lage der Dinge zweifelhaft, sein Gutachten nicht ohne Widersprüche.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben, welche der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorliegt. Das gilt gleichermaßen für die Anordnung des § 63 StGB (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 232; BGH StraFo 2003, 282; Beschl. vom 21. September 2004 – 3 StR 333/04), denn dieser setzt einen länger dauernden psychischen Defektzustand des Betroffenen voraus, auf welchem dessen Gefährlichkeit beruht (vgl. etwa BGHSt 34, 24, 28; 42, 385, 388; BGH NStZ 1991, 528; BGH NStZ-RR 1997, 166; 2000, 298; Hanack in LK StGB 11. Aufl. § 63 Rdn. 66; Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 63 Rdn. 6 f., 12, jeweils m.w.N.). Selbst wenn im Einzelfall die Grenzen zwischen diagnostischen Zuordnungen nach einem der gängigen Klassifikationssysteme fließend und die Einordnung unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB schwierig sein mögen, weil z. B. mehrere Merkmale gleichzeitig vorliegen oder keines in „reiner” Form gegeben ist, ist das Tatgericht gehalten, zum einen konkrete Feststellungen zu den handlungsleitenden Auswirkungen der Störung zum Zeitpunkt der Tat (vgl. § 20 StGB) zu treffen und zum anderen auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Lebensumständen und Verhalten des Angeklagten und der Anlaßtat in nachprüfbarer Weise darzulegen, worin der „Zustand” des Beschuldigten besteht und welche seiner Auswirkungen die Anordnung der gravierenden, unter Umständen lebenslangen Maßregel nach § 63 StGB gebieten. Die bloße Angabe einer Diagnose im Sinne eines der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV ersetzt weder die Feststellung eines der Merkmale des § 20 StGB noch belegt sie für sich schon das Vorliegen eines Zustands im Sinne des § 63 StGB (vgl. BGH, Beschl. vom 21. September 2004 – 3 StR 333/04 m.w.N.).
b) Das Gericht, das sich zur Prüfung der genannten Voraussetzungen der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen hat (§ 246 a StPO), muß dessen Tätigkeit überwachen und leiten. Dazu gehört insbesondere auch die Prüfung, ob Grundlagen, Methodik und Inhalt des Gutachtens den anerkannten fachwissenschaftlichen Anforderungen genügen (zur Sachleitungs- und Prüfungspflicht des Gerichts vgl. Jähnke in LK 11. Aufl., § 20 Rdn. 89, 92 f.; Tröndle/Fischer aaO § 20 Rdn. 63, 64 a ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung).
Vorliegend hatte die Verteidigung mit dem Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zutreffend auf erhebliche Mängel jedenfalls des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. B. hingewiesen. Daß der Sachverständige diese im Beweisantrag und im Gutachten des Sachverständigen Dr. W. konkret angesprochenen Mängel in seinem mündlichen Gutachten behoben oder die Einwände ausgeräumt hat, hat das Landgericht in dem den Antrag zurückweisenden Beschluß nicht dargelegt. Die Urteilsgründe belegen eher das Gegenteil.
Das Gutachten entsprach in formaler und inhaltlicher Hinsicht nicht den Anforderungen, die in der Rechtsprechung und forensisch-psychiatrischen wissenschaftlichen Literatur an entsprechende Gutachten gestellt werden (vgl. dazu im einzelnen etwa Foerster/Venzlaff, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 31 ff.; Foerster/Leonhardt, ebd. S. 43, 47 f.; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1996, S. 274, 282 ff.; Rasch, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 313 ff.; Heinz, Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gutachten, 1992; Venzlaff, Fehler und Irrtümer in psychiatrischen Gutachten, NStZ 1983, 199; Maisch, Fehlerquellen psychologisch-psychiatrischer Begutachtung im Strafprozeß, StV 1985, 517; jeweils m.w.N.).
aa) In formaler Hinsicht war auffällig, daß das schriftliche Gutachten weder eine Sexualanamnese noch eine detaillierte Beziehungsanamnese enthielt. Auch die bewertenden Darlegungen zur Biographie und zur psychiatrischen Entwicklung (Gutachten S. 36 ff.) erscheinen teilweise auf formale Aspekte beschränkt.
bb) Soweit der Sachverständige hier zu Bewertungen gelangte, sind diese teilweise auch im Zusammenhang nur schwer verständlich, etwa wenn von „einer gewissen magisch-mystischen Sicht- und Denkweise”, von „umfassender Exzentrizität”, „großen soziointegrativen Fähigkeiten” u.s.w. die Rede ist (ebd. S. 44 f.), ohne daß diese zusammenfassenden, stark subjektiv wertenden Beschreibungen hinlänglich konkretisiert werden. Die Zusammenfassung, wonach „man hier allenfalls an eine sogenannte vor sich hindümpelnde psychische Erkrankung denken (würde), die mit einer gewissen sozialen ‚Unmöglichkeit’, bizarr manirierten Verhaltensmustern und einer gewissen affektiven (…?) inadäquat vergesellschaftet als sogenannte schizophrenia simplex … in Erscheinung treten könnte” (ebd. S. 47), macht die Diagnose nach ICD-10, F 20.6, auf welche hingewiesen wird, kaum nachvollziehbar.
cc) Hinzu kommt, daß das Gutachten im Zusammenhang mit der Wiedergabe der Explorationsgespräche eine Vielzahl abwertender Beschreibungen und Bewertungen der Person und des Verhaltens des Angeklagten enthält, die durch die Notwendigkeit diagnostisch-wertender Beschreibung nicht stets geboten erscheinen.
Beispielhaft hierfür sind etwa die Beschreibungen, es hätten sich „immer wieder süffisante Grinseinlagen (gefunden)”; der Angeklagte habe „pathologische Witzelsüchtigkeit mit sarkastischer Unterlegung” (S. 29) und „ein von Theoretisierereien und persönlichen Interpretationen geprägtes Schildern der Tat” (S. 30) gezeigt; er habe sich „in läppisch distanzloser Art auf den Schreibtisch positioniert, eine Zigarette rauchend, den Rauch aus den Mundwinkeln ausblasend (…), sichtlich die Macht genießend, eine gewisse Hilflosigkeit bei Unterzeichner auszulösen …” (S. 28); er habe sich „in seiner Informationspolitik wenig durchsichtig” und „sich in der Verweigerung suhlend” gezeigt (S. 29). In ihrer Häufung konnten diese Beschreibungen, welche die Grenze zwischen der Darstellung von Befundtatsachen und allgemein persönlichen Abwertungen teilweise überschritten, nicht nur die Objektivität des Gutachters in Frage stellen (vgl. Nedopil aaO S. 282). Sie konnten damit auch die Besorgnis begründen, daß der Sachverständige den Erfordernissen einer differential-diagnostischen Befunderhebung möglicherweise nicht die gebotene Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen. Soweit von einem „Schildern der Tat” die Rede war, war dies schon mit dem Umstand nicht vereinbar, daß der Angeklagte die Tat stets – auch gegenüber dem Sachverständigen – bestritten hat.
Das zur Frage der Schuldfähigkeit und zu den Voraussetzungen des § 63 StGB einzuholende Gutachten wird zwar, um die Diagnose rational nachvollziehbar und für das Gericht verständlich und überprüfbar zu machen, auf Verhaltensbeschreibungen, wertungsbehaftete Charakterisierungen und alltagssprachliche Umsetzungen klinischer Befunde nicht verzichten können. Dies ergibt sich auch aus den Merkmalsbeschreibungen der Klassifikationssysteme, so wenn etwa die Diagnose der „schizotypen Störung” (ICD-10, F 21) durch die Feststellung „eigentümlichen Verhaltens”, „seltsamer Glaubensinhalte”, der Exzentrizität oder von gekünstelter Sprache getragen werden kann. Eine solche Darstellung ist aber kein Selbstzweck.
dd) Inhaltliches Ziel des Gutachtens ist es, dem Gericht eine Beurteilung zu ermöglichen, ob zum Zeitpunkt der Tat eine der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen hat und ob, ggf. wie diese sich auf die Unrechtseinsicht des Beschuldigten oder auf seine Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Für die Frage einer möglichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist darüber hinaus zu klären, ob aufgrund der die Schuldfähigkeit bei der Anlaßtat beeinträchtigenden psychischen Störung ein längerfristiger Zustand des Beschuldigten besteht, welcher dessen Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB begründet und daher die Unterbringung gebietet.
Hierfür können in der Regel die Diagnose der psychischen Störung sowie ihre Einordnung unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB nicht offen bleiben. Vorliegend hatte der Sachverständige in seinem vorbereitenden schriftlichen Gutachten offen gelassen, ob bei dem Angeklagten eine „schizotype Störung” (ICD-10, F 21) oder eine „schizophrenia simplex” (ICD-10, F 20.6) vorliege, die beide dem Merkmal „krankhafte seelische Störung” im Sinne von § 20 StGB zuzuordnen seien; eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit” (SASA) liege nicht vor (Gutachten S. 47 ff., 51). In seinem in der Hauptverhandlung erstatteten mündlichen Gutachten kam er dagegen zu der Ansicht, es sei „die festgestellte schizotype Persönlichkeitsstörung entweder unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fassen” (UA S. 38); eine schizophrene Psychose liege nicht vor (UA S. 37). Eine Persönlichkeitsstörung sei gleichfalls nicht gegeben (UA S. 36/37), vielmehr eine in der Persönlichkeit verankerte Störung mit schizophrenietypischen Zügen, für welche ein Suchtmittelmißbrauch symptomatisch sei (UA S. 37).
Die letztgenannte Diagnose ist – gerade auch unter Heranziehung der Beschreibungen in den Klassifikationssystemen – schon aus sich heraus kaum nachvollziehbar. Sowohl im Ablehnungsbeschluß des Landgerichts als auch im Urteil fehlt jede Darlegung, aus welchen objektivierbaren Gründen der Sachverständige in der Hauptverhandlung von seinem vorbereitenden Gutachten abwich und ob diese Gründe mit ihm erörtert worden sind.
ee) Feststellung und Begründung der Diagnose einer Störung belegen nicht deren strafrechtliche Relevanz im Sinne von §§ 20, 21 StGB (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 = NJW 2004, 1810, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; BGH, Beschluß vom 21. September 2004 – 3 StR 333/04; vgl. auch Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl., § 20 Rdn. 44; Jähnke in LK 11. Aufl., § 20 Rdn. 34 f.; jew. m.w.N.). Entscheidend für die inhaltliche Brauchbarkeit des Gutachtens ist, ob es wissenschaftlich hinreichend begründete Aussagen über den Zusammenhang zwischen einer diagnostizierten psychischen Störung und der Tat enthält, welche Gegenstand des Verfahrens ist. Es ist also – unabhängig von der Einordnung unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB – im einzelnen konkret darzulegen, ob und ggf. wie sich die Störung auf das Einsichts- oder Hemmungsvermögen des Beschuldigten tatsächlich ausgewirkt hat (vgl. Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster aaO, S. 51, 77 f.; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn. 31). Nichts anderes gilt für die Beurteilung des „Zustands” im Sinne von § 63 StGB, denn es gibt weder eine abstrakte „Schuldunfähigkeit” ohne Bezug zu einem konkreten Delikt noch einen abstrakten „Zustand” ohne diesen Bezug, aus welchem sich symptomatisch die die Unterbringung erfordernde Gefährlichkeit des Beschuldigten ergibt.
An einer Darlegung dieses Zusammenhangs fehlte es in dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. B. gänzlich; ein solcher Zusammenhang ergibt sich auch aus der Wiedergabe des mündlich erstatteten Gutachtens im angefochtenen Urteil nicht. Hier bleibt schon offen, in welchen forensisch relevanten Eigenschaften, Dispositionen oder Einschränkungen der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit die festgestellte „chronische Krankheit” (UA S. 39) des Angeklagten sich überhaupt ausdrückt. Als „symptomatisch” wird insoweit allein der Suchtmittelmißbrauch genannt; Feststellungen zu Ausmaß oder Auswirkungen des Konsums von Haschisch oder anderen Rauschmitteln am Tattag fehlen jedoch. Auch im übrigen ergibt sich weder aus dem schriftlichen Gutachten noch den Darlegungen im Urteil, in welcher konkreten Weise sich die beim Angeklagten festgestellten psychischen Auffälligkeiten bei der Tat ausgewirkt haben könnten. Zutreffend hat der Sachverständige Dr. W. in seinem von der Verteidigung zur Begründung des Beweisantrags vorgelegten Gutachten darauf hingewiesen, das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. zeige eine gewisse Zirkelschlüssigkeit und habe einen „eigentümlich spekulativ-beliebigen Charakter”.
ff) Eine kritische Beurteilung des Gutachtens und der Sachkunde des Gutachters lag jedenfalls unter Berücksichtigung der Begründung des Beweisantrags für den Tatrichter auch deshalb nahe, weil das Gutachten ausschließlich zu Diagnosen (entweder „schizophrenia simplex” oder „schizotype Störung”) gelangte, von deren Verwendung im Klassifikationssystem ICD-10 ausdrücklich abgeraten wird. Überdies lagen wichtige Merkmale der festgestellten „schizotypen Störung”, namentlich zeitlich überdauernde Auswirkungen auf Biographie, Verhalten oder Auffälligkeiten des Betroffenen, gerade nicht vor; das Gutachten befaßte sich damit nur vage und unklar. Darüber hinaus ließ das Gutachten eine hinreichende differenzialdiagnostische Erörterung vermissen; die diagnostischen Schlußfolgerungen waren letztlich auf wenig mehr gestützt als die (unterstellte) Begehung der Tat selbst.
gg) Auch die Schlußfolgerungen, die der Sachverständige aus diesen eher unklaren und unsicheren Feststellungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten vom Tatzeitpunkt gezogen hatte, hätten dem Gericht Anlaß zur kritischen Überprüfung geben müssen. In seinem schriftlichen Gutachten hatte der Sachverständige ausgeführt, der Angeklagte sei zwar „grundsätzlich als psychisch gestört und geisteskrank zu betrachten”. Die Auffälligkeiten hätten aber mangels akuter paranoider Symptomatik und akuter Derealisation „eben nicht einen vollumfänglichen Verlust seiner Einsichtsfähigkeit nach sich gezogen” (Gutachten S. 52). Es sei jedoch festzustellen, daß der Angeklagte in seiner Wahrnehmung und Interpretation von Sicht- und Denkweisen des alltäglichen Lebens und seiner Beziehung zu dem Tatopfer „beeinträchtigt gewesen sein muß”. Das habe „eine gewisse Verzerrung der Realität” nach sich gezogen, was wiederum „zu einer Uminterpretation von realen Begebenheiten führte”; dadurch seien „die Sicht- und Denkweisen beeinträchtigt” worden. Daher sei die Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert gewesen (ebd.).
In seinem mündlichen Gutachten führte der Sachverständige ausweislich des Urteils dann im ausdrücklichen Gegensatz hierzu aus, hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei „von dessen vollem Erhalt bis hin zu dessen völligem Verlust alles denkbar” (UA S. 37). Für diesen grundlegenden Wechsel in der Beurteilung findet sich keine Begründung; aus der Wiedergabe des Gutachtens kann auch nicht nachvollzogen werden, wie die von dem Sachverständigen für möglich gehaltenen Alternativen der Unrechtseinsicht mit dem psychodiagnostischen Krankheitsbild des Angeklagten in Einklang zu bringen sein könnten. Die hypothetische Feststellung, entweder die Einsicht oder die Steuerungsfähigkeit habe gefehlt, würde voraussetzen, daß der psychische Defekt des Betroffenen sich tatsächlich in einer solchen alternativen Weise konkret auswirken konnte. Zur Begründung dieser Feststellung bedürfte es jedenfalls eingehender Darlegungen zur Diagnose der Störung und zu ihrer konkreten Auswirkung auf die Tatbegehung. Hieran fehlte es hier offensichtlich; die vage Aussage des Sachverständigen zur Auswirkung der Störung beruhte vielmehr gerade auf der Unschärfe der diagnostischen Zuordnung.
c) Angesichts dieser erheblichen Mängel und Unklarheiten des vorbereitenden schriftlichen und des mündlich erstatteten Gutachtens durfte das Landgericht den Beweisantrag auf Einholung eines weiteren medizinisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens nicht mit der Begründung ablehnen, das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei bereits erwiesen, und die Sachkunde des Sachverständigen Dr. B. sei nicht zweifelhaft, ohne sich eingehend mit den erhobenen Beanstandungen auseinanderzusetzen. Die gravierenden Einwände, welche das Gutachten des Sachverständigen Dr. W. gegen Methodik und Ergebnisse des schriftlichen Gutachtens erhob, mußten Anlaß sein, die vom Sachverständigen mündlich vorgetragenen Ergebnisse sowie die Abweichungen und ggf. deren Begründung besonders kritisch zu prüfen. Dies hat das Landgericht nicht getan; vielmehr hat es die in vielfacher Hinsicht zweifelhaften Ausführungen des Sachverständigen allein dahingehend gewürdigt, sie seien „gut verständlich und nachvollziehbar” gewesen und die Kammer schließe sich ihnen an (UA S. 37, 40). Mit der im Ablehnungsbeschluß gegebenen Begründung hat sich das Landgericht daher seiner Aufgabe einer kritischen Überprüfung und Würdigung des Sachverständigengutachtens gerade entzogen, indem es die Mängel des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens mit dem Hinweis auf das mündliche Gutachten beiseite schob. Dies wäre nur dann tragfähig, wenn das mündlich erstattete Gutachten seinerseits fehlerfrei gewesen und wenn die Abweichungen zum schriftlichen Gutachten nachvollziehbar erklärt wären. Hieran fehlte es; nach der Wiedergabe des Gutachtens in den Urteilsgründen setzten sich die von dem Sachverständigen Dr. W. angesprochenen Fehler vielmehr im mündlichen Gutachten fort und führten darüber hinaus zu neuen Widersprüchen (vgl. BGHSt 23, 176, 185; BGH NStZ 1990, 244; 1991, 448; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl., § 244 Rdn. 76 m.w.N.).
d) Danach war hier die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft; die Beweiserhebung war daher erforderlich. Eigene, unter Umständen durch das erste Gutachten vermittelte Sachkunde des Gerichts, welche die Ablehnung hätte tragen können, lag nicht vor.
5. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Daß die Staatsanwaltschaft das Urteil nicht angefochten hat und daß § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO einer Bestrafung entgegenstünde, auch wenn der neue Tatrichter jedenfalls eine Aufhebung der Schuldfähigkeit ausschließen könnte, steht der Aufhebung nicht entgegen, denn wenn die Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB nicht vorlägen, so dürfte sie selbstverständlich auch dann nicht erfolgen, wenn die Verhängung einer Strafe aus Rechtsgründen ausschiede.
Im Hinblick auf die überaus enge Verflechtung der Feststellungen zum Tathergang, zur Motivation des Angeklagten und zu seinem Nachtatverhalten mit denjenigen zu den Voraussetzungen des § 63 StGB scheidet eine Aufrechterhaltung von Feststellungen hier aus, auch wenn das Urteil insoweit rechtsfehlerfrei ist. Insoweit merkt der Senat an, daß die Rüge einer Verletzung des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführten Gründen jedenfalls unbegründet ist.
Der neue Tatrichter wird Gelegenheit zu umfassenden neuen Feststellungen haben. Es erscheint naheliegend, zur Frage der Schuldfähigkeit und der Maßregelanordnung (auch) einen anderen Sachverständigen mit der Gutach- tenerstattung zu beauftragen.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Bode, Rothfuß, Fischer
Fundstellen
Haufe-Index 2556606 |
BGHSt 2005, 347 |
BGHSt |
EBE/BGH 2005, 6 |
NStZ 2005, 205 |
Nachschlagewerk BGH |
StV 2005, 124 |
StraFo 2005, 113 |