Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Anwalts zur Fristenprüfung
Leitsatz (amtlich)
Von einem Anwalt kann nicht verlangt werden, den Fristablauf oder die Erledigung von Fristnotierungen stets auch dann selbst zu prüfen, wenn ihm eine Sache ohne Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird oder ohne dass Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, die zur Fristwahrung getroffenen Maßnahmen könnten versagt haben (im Anschluss an BGH v. 25.11.1998 - XII ZB 204/96, FamRZ 1999, 649, 650 f.).
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des 13. Zivilsenats - 1. Senat für Familiensachen - des OLG Koblenz vom 23.4.2007 wird ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen den Beschluss des AG - FamG - Lahnstein vom 21.11.2006 bewilligt.
Gerichtskosten werden für das Rechtsbeschwerdeverfahren nicht erhoben. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des OLG vorbehalten.
Beschwerdewert: 3.000 EUR
Gründe
I.
[1] Der Antragsteller (Vater) und die Antragsgegnerin (Mutter) sind die nicht miteinander verheirateten Eltern des Kindes L.D. Sie streiten über das Sorgerecht für das Kind, nachdem sie nach ihrer Trennung vor dem Jugendamt erklärt hatten, die elterliche Sorge gemeinsam übernehmen zu wollen.
[2] Das AG hat u.a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater allein übertragen. Gegen den am 24.11.2006 zugestellten Beschluss richtet sich die am 29.11.2006 bei dem AG eingegangene Beschwerde der Mutter. Auf Anforderung ihres Verfahrensbevollmächtigten wurden die Gerichtsakten diesem am 29.11.2006 für die Dauer von fünf Tagen zur Einsicht überlassen. Am 6.12.2006 gingen die Akten wieder beim AG ein. Am 26.1.2007 wurden sie durch das AG an das OLG weitergeleitet, wo sie am 2.2.2007 eintrafen. Bereits am 26.1.2007 reichte der Verfahrensbevollmächtigte der Mutter seine Beschwerdeschrift beim OLG nochmals ein. Gleichzeitig beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist.
[3] Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Mutter.
II.
[4] 1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 621e Abs. 3 Satz 2, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig, weil die angefochtene Entscheidung die Mutter in ihren Verfahrensgrundrechten verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG), was eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
[5] 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der Mutter ist wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Damit ist die Entscheidung über die Verwerfung der Beschwerde gegenstandslos (vgl. BGH v. 9.2.2005 - XII ZB 225/04, FamRZ 2005, 791, 792).
[6] a) Die Beschwerde ist verspätet eingegangen, weil sie nicht an das richtige Gericht gerichtet war. Nach § 621e Abs. 3 Satz 1 ZPO muss die befristete Beschwerde bei dem Beschwerdegericht eingelegt werden; sie kann nicht wirksam bei dem Gericht eingelegt werden, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Da die Beschwerde bei dem OLG erst am 26.1.2007 eingegangen ist, war die - bis zum 27.12.2006 währende - einmonatige Frist (§ 621e Abs. 3 Satz 2, 517 ZPO) nicht gewahrt.
[7] b) Das Berufungsgericht hat der Mutter jedoch zu Unrecht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Es ist davon auszugehen, dass die Beschwerdefrist nicht durch ein Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten der Mutter, das dieser zuzurechnen wäre (§ 85 Abs. 2 ZPO), versäumt worden ist (§ 233 ZPO), so dass ihr auf ihren rechtzeitig gestellten Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen ist.
[8] aa) Eine Verzögerung des Eingangs einer Rechtsmittelschrift, die an das falsche Gericht gerichtet ist, hat die Partei zwar grundsätzlich zu vertreten (vgl. z.B. BGH v. 6.5.1992 - XII ZB 39/92, VersR 1993, 79; BGH Beschl. v. 12.10.1995 - VII ZB 14/95, NJW 1996, 393). Dennoch ist in solchen Fällen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Schriftsatz so rechtzeitig eingegangen ist, dass eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht ohne Weiteres erwartet werden konnte; die Weiterleitung obliegt dem Ausgangsgericht aufgrund einer nachwirkenden Fürsorgepflicht (BGH, Urt. v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, NJW 1998, 908; BGH v. 24.9.1997 - XII ZB 144/96, FamRZ 1998, 285, 286; BGH Beschl. v. 3.9.1998 - IX ZB 46/98, VersR 1999, 1170, 1171).
[9] bb) Das OLG hat gleichwohl ein für die Versäumung der Beschwerdefrist ursächliches Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten der Mutter bejaht. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Mutter könne sich nicht darauf berufen, dass das AG die Beschwerdeschrift an das OLG hätte weiterleiten müssen und dass bei pflichtgemäßer Weiterleitung eine Fristversäumung vermieden worden wäre. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass die Akten dem Verfahrensbevollmächtigten der Mutter antragsgemäß übersandt worden seien und ihm vom 1. bis zum 4.12. vorgelegen hätten. Bei dieser Gelegenheit hätte er den Fehler erkennen und dafür Sorge tragen müssen, dass die Beschwerdeschrift an das zuständige OLG weitergeleitet oder dort erneut eine Beschwerde eingelegt wird. Angesichts dieses Fehlverhaltens des Anwalts, das die Mutter sich zurechnen lassen müsse, könne sie sich nicht auf die pflichtwidrige Nichtweiterleitung der Beschwerdeschrift durch das AG berufen. Ursächlich für die Fristversäumung sei nicht mehr das für den Anwalt der Mutter erkennbare Versäumnis des AG, sondern dessen eigenes Versäumnis.
[10] Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
[11] cc) Dabei kann dahinstehen, ob dem Verfahrensbevollmächtigten der Mutter die Gerichtsakten überhaupt vorgelegt oder ob sie lediglich von seinem Büropersonal kopiert und alsdann wieder zurückgeschickt worden sind. Selbst wenn die Akten dem Anwalt vorgelegt worden wären, hätte für ihn nicht die Verpflichtung bestanden, den Fristablauf sowie die ordnungsgemäße Einreichung der Beschwerdeschrift zu überprüfen.
[12] Ein Rechtsanwalt ist zwar verpflichtet, etwa die Anbringung von Erledigungsvermerken über die Notierung von Rechtsmitteleinlegungs- und -begründungsfristen zu überprüfen, wenn ihm die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden (BGH v. 11.2.2004 - XII ZB 263/03, FamRZ 2004, 696; v. 21.4.2004 - XII ZB 243/03, FamRZ 2004, 1183 f.; v. 1.12.2004 - XII ZB 164/03, FamRZ 2005, 435 f.). Die an die Sorgfalt des Anwalts zu stellenden Anforderungen würden aber überspannt, wenn man von ihm verlangen würde, den Fristablauf oder die Erledigung von Fristnotierungen stets auch dann selbst zu prüfen, wenn ihm die Sache ohne Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird oder ohne dass Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, die zur Fristwahrung getroffenen Maßnahmen könnten versagt haben (BGH v. 25.11.1998 - XII ZB 204/96, FamRZ 1999, 649, 650 f.).
[13] Danach bestand für den Rechtsanwalt vor dem 22.1.2007, dem Tag der beabsichtigten Beschwerdebegründung, an dem ihm auffiel, dass die Beschwerdeschrift an das AG gerichtet worden war, kein Anlass zu prüfen, ob die Beschwerdefrist gewahrt worden war. In der Zeit vom Eingang der Gerichtsakten in seinem Büro bis zu deren Rücksendung am 4. oder 5.12.2006 war eine fristgebundene Prozesshandlung aus seiner Sicht nicht vorzunehmen. Die Vorlage der Akten erfolgte - falls überhaupt - auch nicht im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung, da die Frist für die Beschwerdebegründung erst am 24.1.2007 ablief und zuvor eine Besprechung mit der Mutter erfolgen sollte. Ein für die Fristversäumnis ursächliches Verschulden des Anwalts liegt deshalb nicht vor.
Fundstellen
NJW 2008, 854 |
BGHR 2008, 452 |
EBE/BGH 2008 |
FamRZ 2008, 503 |
FuR 2008, 143 |
JurBüro 2008, 391 |
ZAP 2008, 422 |
RENOpraxis 2008, 73 |
BRAK-Mitt. 2008, 60 |
Mitt. 2008, 186 |