Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsanwalt, der das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung zurückreicht, obwohl für ihn die vollständige Fristensicherung zumindest zweifelhaft sein mußte, trifft eine besondere Sorgfaltspflicht. Ihr ist nicht genügt, wenn der Rechtsanwalt die Handakten mit der Verfügung zur sofortigen Wiedervorlage in den Geschäftsgang seines Büros gibt, um erst anschließend zu überprüfen, ob die Frist notiert ist. Erfolgt die Wiedervorlage der Handakten rechtzeitig, vergißt der Rechtsanwalt aber die weitere Bearbeitung, so ist ihm auch in Situationen ungewöhnlichen Arbeitsanfalls als Verschulden vorzuwerfen, daß er nicht sofort die Fristensicherung klärte, oder – falls dies nicht möglich war – an seinem Arbeitsplatz für eine Erinnerung an die Dringlichkeit der Sache sorgte.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 19.09.2002) |
LG Bielefeld |
Tenor
Der Antrag der Klägerin und des Drittwiderbeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Die Beschwerde der Klägerin und des Drittwiderbeklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 19. September 2002 wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der Kosten der Streithelferin, tragen die Klägerin und der Drittwiderbeklagte.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 59.258,73 EUR festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagte – auch aus abgetretenem Recht ihres Ehemanns – wegen angeblich falscher Informationen beim Kauf einer Eigentumswohnung auf Rückabwicklung dieses Geschäfts in Anspruch. Mit ihrer Widerklage verlangt die Beklagte die Feststellung, daß dem Drittwiderbeklagten – dem Ehemann der Klägerin – keine Schadensersatzansprüche aus dem Kauf der Eigentumswohnung zustehen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin und des Drittwiderbeklagten hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen.
Ihrem zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten ist das Berufungsurteil am 18. Oktober 2002 zugestellt worden. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Berufungsurteil haben die Klägerin und der Drittwiderbeklagte mit am 13. Dezember 2002 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt und gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde beantragt.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags tragen sie unter Glaubhaftmachung vor, auf Grund eines Büroversehens, das nach der Organisation des Büros ihres zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten an sich ausgeschlossen sei, sei die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht notiert worden. Dies sei erst am 29. November 2002 bemerkt worden. Das Büro sei so organisiert, daß jedes eingehende Schriftstück vom Personal auf Fristen durchgesehen werden müsse. Fristen müßten in einem computergestützten Fristenkalender erfaßt werden. Danach werde das Schriftstück mit einem vorgehefteten Ausdruck der erfaßten Frist dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt vorgelegt. Dieser müsse die Frist kontrollieren und abzeichnen. Die Einhaltung der Büroanweisungen werde regelmäßig kontrolliert. Im vorliegenden Fall sei eine Auszubildende im dritten Lehrjahr, die sich als sehr zuverlässig erwiesen habe, mit der Posteingangsbearbeitung betraut gewesen. Sie habe es aus nicht mehr aufklärbaren Gründen am 18. Oktober 2002 unterlassen, eine Frist vorzunotieren und dem Berufungsurteil einen Fristausdruck beizuheften. Dies sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt aufgefallen. Er habe verfügt, daß eine Abschrift des Urteils für die Partei gefertigt und ihm die Akte sofort wieder vorgelegt werde. Nach der Wiedervorlage habe er kontrollieren wollen, ob die Frist überhaupt und ggf. richtig eingetragen sei. Ob die sofortige Wiedervorlage der Akte unterblieben oder die Akte von dem Rechtsanwalt wegen seiner starken Arbeitsbelastung zunächst nicht beachtet worden sei, lasse sich nicht mehr aufklären. In der fraglichen Zeit sei die Arbeitsbelastung des Rechtsanwalts sehr hoch gewesen, weil sich herausgestellt habe, daß einer der von ihm als Rechtsanwalt beschäftigten Mitarbeiter tatsächlich nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassen gewesen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig.
Nach § 544 Abs. 1 Satz 2 ZPO muß die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung des Berufungsurteils eingelegt werden. Die Frist ist vorliegend nicht gewahrt, weil das Berufungsurteil bereits am 18. Oktober 2002 zugestellt wurde, die Beschwerde jedoch erst am 13. Dezember 2002 bei dem Revisionsgericht eingegangen ist. Gegen die Versäumung dieser Notfrist kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden. Der hierauf gerichtete Antrag der Klägerin und des Drittwiderbeklagten ist zwar zulässig, bleibt aber in der Sache selbst ohne Erfolg.
1. Nach § 233 ZPO ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur bei unverschuldeter Fristversäumung eröffnet. An dieser Voraussetzung fehlt es hier, weil ihren zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten, dessen Verhalten sich die Klägerin und der Drittwiderbeklagte zurechnen lassen müssen (§ 85 Abs. 2 ZPO), ein Verschulden an der Versäumung der Beschwerdefrist trifft. Er hat den verspäteten Rechtsmittelauftrag an die beim Revisionsgericht zugelassene Rechtsanwältin und damit auch die verspätete Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde zu verantworten.
a) Ein Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn neben dem Zustellungsdatum (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 26. März 1996, VI ZB 1, 2/96, NJW 1996, 1900, 1901; Beschl. v. 2. Juni 1999, XII ZB 63/99, NJW-RR 1999, 1585, 1586; Beschl. v. 17. September 2002, VI ZR 419/01, NJW 2002, 3782) auch die Eintragung des Fristendes in den Fristenkalender und in die Handakten sichergestellt ist (BGH, Beschl. v. 12. Juni 1985, IVb ZR 23/85, VersR 1985, 962, 963). Hiernach ist es zwar nicht erforderlich, daß das Empfangsbekenntnis erst nach vollständiger Fristensicherung in den allgemeinen Geschäftsbetrieb des Rechtsanwalts und von dort an das zustellende Gericht zurückgegeben wird. Entschließt sich ein Rechtsanwalt aber, das Empfangsbekenntnis vor vollständiger Fristensicherung zurückzugeben, so trifft ihn eine besondere Sorgfaltspflicht (BGH, Beschl. v. 12. Juni 1985, aaO). Um ihr gerecht zu werden, genügen allgemeine Weisungen des Rechtsanwalts an sein Personal grundsätzlich nicht (BGH, Beschl. v. 12. Juni 1985, aaO).
b) Im vorliegenden Fall hat der zweitinstanzliche Prozeßbevollmächtigte die besondere Sorgfaltspflicht nicht beachtet. Er bemerkte zwar bei der ihm aus Anlaß der Vorlage obliegenden Prüfung (vgl. BGH, Beschl. v. 19. Dezember 2000, VIII ZB 35/00, NJW-RR 2001, 782), daß eine Fristensicherung zumindest zweifelhaft war. Wie der bei den Gerichtsakten befindliche Zustellungsnachweis mit Datum vom 18. Oktober 2002 belegt, unterzeichnete er gleichwohl noch vor Aufklärung der Angelegenheit das Empfangsbekenntnis und gab dieses offensichtlich auch in den Geschäftsgang seines Büros. Von dort aus ging das Empfangsbekenntnis noch am selben Tag durch Telekopie bei dem Berufungsgericht ein. Es war mithin eine Situation gegeben, bei der der Rechtsanwalt angesichts der unzulänglichen Fristensicherung zu besonderer Sorgfalt gehalten war. Den hieraus folgenden Anforderungen hat er nicht entsprochen, wobei sein Verschulden für die Fristversäumung in beiden hier möglichen Sachverhaltsvarianten ursächlich geworden ist.
aa) Nach dem glaubhaft gemachten Geschehen ist es zunächst möglich, daß die Nichtzulassungsbeschwerde deshalb verspätet eingelegt wurde, weil dem zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten die Handakten – entgegen seiner Verfügung – nicht sofort, sondern erst nach Fristablauf wieder vorgelegt wurden. Dies hätte der Rechtsanwalt zumindest – was ausreicht (Senat, Beschl. v. 8. März 2001, V ZB 5/01, NJW-RR 2001, 1072) – mitverschuldet. Die von ihm verfügte sofortige Wiedervorlage der Handakten stellt keine ausreichend konkrete Einzelanweisung dar, wie sie regelmäßig für die Beachtung der hier geschuldeten besonderen Sorgfalt zu fordern ist. Es handelt sich lediglich um eine Anordnung im Rahmen des allgemeinen Geschäftsgangs und nicht um einen Auftrag zur sofortigen Aktenvorlage an eine bestimmte Mitarbeiterin (vgl. BGH, Beschl. v. 3. Juli 1991, XII ZB 39/91, VersR 1992, 516). In Ausnahmefällen kann zwar auch eine allgemeine Weisung genügen, dies setzt aber voraus, daß sich der Rechtsanwalt nicht lediglich auf deren Einhaltung verläßt, sondern daneben noch Vorkehrungen trifft, um die notwendigen Maßnahmen zur Fristensicherung noch persönlich veranlassen zu können (vgl. BGH, Beschl. v. 12. Juni 1985, aaO). Für solche Vorkehrungen hat der zweitinstanzliche Prozeßbevollmächtigte nicht gesorgt, sondern mit der Verfügung an sein Personal namentlich die Urteilsausfertigung aus der Hand gegeben und sich damit jede Möglichkeit genommen, auch bei unterbliebener Wiedervorlage eine Fristensicherung herbeizuführen.
bb) Vor dem Hintergrund des glaubhaft gemachten Sachverhalts ist als Ursache der Fristversäumung ferner möglich, daß dem zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten zwar die Handakten noch rechtzeitig vorgelegt wurden, er aber die schleunige Klärung der Angelegenheit auf Grund starken Arbeitsanfalls vergaß. Auch in diesem Fall hätte der Rechtsanwalt seiner Sorgfaltspflicht nicht genügt.
(1) Es bedarf keiner Entscheidung darüber, ob hier – wie im Regelfall (vgl. BGH, Beschl. v. 2. Oktober 1974, VIII ZB 26/74, VersR 1975, 40) – bereits das Vergessen der Vornahme einer fristwahrenden Handlung als schuldhaftes Verhalten des Rechtsanwalts anzusehen ist. Die vorliegende Situation ist durch gesteigerten Arbeitsanfall wegen der – erst nachträglich erkannten – fehlenden Anwaltszulassung eines als Rechtsanwalt tätig gewordenen Angestellten gekennzeichnet. Selbst wenn hier von einer außergewöhnlichen Inanspruchnahme des Prozeßbevollmächtigten ausgegangen wird, bei der ihm das Vergessen ausnahmsweise nicht als Verschulden zur Last gelegt werden kann, ist dieser Vorwurf doch wegen einer vorausgegangenen Nachlässigkeit gerechtfertigt.
(2) Auch ein Rechtsanwalt, der nicht – wie hier – zu besonderer Sorgfalt verpflichtet ist, hat sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Fristen auszuschließen (BGH, Beschl. v. 10. Oktober 1991, VII ZB 4/91, NJW 1992, 574 m.w.N.). Dies hat der zweit- instanzliche Prozeßbevollmächtigte nicht beachtet, als er der von ihm als klärungsbedürftig erkannten Frage der Fristensicherung nicht sogleich nachging, sondern durch die Verfügung der Übersendung einer Urteilskopie an die Mandanten und anschließender Wiedervorlage der Handakten die Überprüfung auf einen späteren Zeitpunkt verschob. Gerade in der gegebenen Situation eines ungewöhnlichen Arbeitsanfalls schuf der Rechtsanwalt auf diese Weise die naheliegende Gefahr, daß ihm selbst bei einer alsbaldigen Wiedervorlage die Dringlichkeit der Angelegenheit entfallen war und daher die gebotenen Maßnahmen zur Fristensicherung unterblieben. Vernünftige Gründe für ein solches Vorgehen sind nicht ersichtlich und werden auch mit dem Wiedereinsetzungsantrag nicht geltend gemacht. Sie liegen auch völlig fern. Nachdem der Rechtsanwalt erkannt hatte, daß eine Notierung der Beschwerdefrist möglicherweise unterblieben war, hätte er sogleich durch Rückfrage bei seiner zuständigen Mitarbeiterin den Sachverhalt klären und durch eine konkrete Einzelweisung das Notieren der Beschwerdefrist veranlassen können. All dies wäre binnen weniger Minuten zu erledigen gewesen, so daß auch andere dringende Arbeiten den Rechtsanwalt nicht ernsthaft von einem sofortigen Handeln abhalten konnten. Selbst wenn der Rechtsanwalt, etwa nach Dienstende seines Personals, durch von ihm nicht zu beeinflussende Umstände gehindert war, der Angelegenheit auf der Stelle nachzugehen, durfte er nicht – wie geschehen – sämtliche Unterlagen aus der Hand geben, ohne dafür zu sorgen, daß er an seinem Arbeitsplatz – etwa durch eine nicht zu übersehende Notiz – an die Dringlichkeit der Sache erinnert wurde. Ohne eine solche Vorsorge war es naheliegend, daß ihm – zumal bei starkem Arbeitsanfall – nach einer erneuten Vorlage der Handakten im normalen Geschäftsgang die Notwendigkeit einer schleunigen Klärung der Fristensicherung entfallen war.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 101 Abs. 1, 238 Abs. 4 ZPO.
Unterschriften
Wenzel, Tropf, Krüger, Lemke Gaier
Fundstellen
BB 2003, 1036 |
BGHR |
EBE/BGH 2003, 90 |
FamRZ 2003, 1091 |
EWiR 2003, 663 |
ZAP 2003, 800 |
EzFamR aktuell 2003, 181 |
MDR 2003, 708 |
VersR 2004, 397 |
RENOpraxis 2003, 130 |
KammerForum 2003, 163 |
Mitt. 2003, 239 |