Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 26.06.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle/Saale vom 26. Juni 2002 mit den Feststellungen, ausgenommen denjenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt aufgrund der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache. Auf die – zudem verspätet eingelegte und deshalb unzulässige – Verfahrensbeschwerde kommt es danach nicht mehr an.
1. Die Jugendkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte war ebenso wie Thomas E. und der später geschädigte Benjamin G. Schüler der Sekundarschule in Gutenberg. Am Vormittag des Tattages kam es zunächst im Schulgebäude zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und E.. Auslöser des Streits war, daß E. sich an der lauten „Hip Hop-Musik”, die die Schülergruppe um den Angeklagten anhörte, störte und statt dessen eine Kassette mit „rechter” Musik abspielen wollte, womit der Angeklagte nicht einverstanden war. Nachdem sich die Streitenden zunächst getrennt und sich zur „Klärung” der Angelegenheit für den nächsten Tag verabredet hatten, setzten sie ihre Auseinandersetzung auf Betreiben des E. alsbald auf dem Schulgelände fort, bis sich Benjamin G. einmischte und den Angeklagten von E. wegzog. Sie waren bereits auseinander gegangen, als G. wegen einer Bemerkung des Angeklagten umkehrte und zusammen mit seinen Freunden auf den Angeklagten zulief. Dieser bekam daraufhin Angst und wandte sich seinerseits „hilfesuchend” an seine „Kumpel”, von denen einer ihm ein Klappmesser mit ca. 6 cm langer und extrem spitz zulaufender Klinge „zuspielte” (UA 6, 10). Der Angeklagte blieb, mit dem Messer in der Hosentasche, stehen, bis G. ihn erreicht hatte, „weil er vor seinen Klassen- und Schulkameraden nicht als Feigling gelten wollte” (UA 6). Um die Situation jedoch zu entschärfen, schlug er G. vor, den Streit, wie mit E. verabredet, am nächsten Tag auszutragen, und reichte dabei G. die Hand, die dieser aber mit den Worten: „Deine Krüppelpfoten fasse ich nicht an” zurückwies. Darauf geriet der Angeklagte in große Wut, holte das Messer aus seiner Hosentasche und stieß G. mit beiden Händen, das Messer mit der Spitze nach vorn in einer Hand, vor die Brust. Beide schlugen nunmehr gegenseitig aufeinander ein, wobei der Angeklagte das Messer weiter in der Hand hielt und G. mehrere Stiche und Schnittwunden zufügte. Als G., der von beiden größere und kräftigere Gegner, den Angeklagten schließlich umklammerte, „rammte” ihm der Angeklagte, der sich aus der Umklammerung befreien wollte, „das Messer mit voller Wucht in den Rücken und in die linke Seite”. Schließlich ließen beide voneinander ab, ohne daß einer der umstehenden mindestens 15 bis 20 Mitschüler, die die Kämpfenden lautstark angefeuert hatten, eingegriffen hatte. G. bemerkte, daß er verletzt war, erst, als er sich bereits umgedreht hatte, um zur Turnhalle zurückzugehen. Im Krankenhaus wurden bei ihm mindestens neun insolierte Schnitt- und Stichverletzungen festgestellt, von denen eine sechs Zentimeter tiefe Stichverletzung in Höhe der elften Rippe einen lebensbedrohenden Zugang zur linken Brusthöhle eröffnet und zu einem Pneumothorax geführt hatte. Die Verletzungen sind folgenlos ausgeheilt.
2. Das Urteil kann schon deshalb keinen Bestand haben, weil die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
Das Landgericht meint, „ein solch heftiger Stich in die obere seitliche Körperregion eines anderen Menschen (lasse) bei verständiger Würdigung eines jeden Normaldenkenden ohne weiteres den Schluß zu, daß dadurch tödliche Verletzungen verursacht werden können”. Und weiter: „Wer wie der Angeklagte dennoch in derart gefährlicher Weise einen Stich gegen einen anderen Menschen führt, nimmt das Risiko des Todeserfolges zumindest billigend in Kauf” (UA 12).
Diese Begründung genügt für die Annahme eines Tötungsvorsatzes nicht. Ein Rechtssatz des Inhalts, daß, wer wie der Angeklagte vorgeht, deshalb zugleich grundsätzlich auch mit tödlichen Folgen für das Opfer rechnet und diese um den Preis der Fortsetzung seines gefährlichen Tuns innerlich billigt, besteht nicht. Vorsätzlich hätte der Angeklagte nur gehandelt, wenn er den bei objektiver Betrachtung sich aufdrängenden Schluß auch tatsächlich gezogen hätte. Demgegenüber hat das Landgericht ausdrücklich festgestellt, daß der Angeklagte in der Tatsituation darüber, den Geschädigten eventuell sogar tödlich verletzen zu können, „nicht näher nach(dachte)” (UA 7). Dieser auf die Einlassung des Angeklagten gestützten Feststellung, die schon das Wissenselement des Tötungsvorsatzes in Frage stellt, hat das Landgericht mit der Erwägung keine Bedeutung beigemessen, „das Unterlassen von sich aufdrängenden Überlegungen hinsichtlich der für das Opfer bestehenden Todesgefahr (sei) ausreichend, um einen bedingten Tötungsvorsatz des Täters zu begründen” (UA 13). Damit hat das Landgericht allein aus der objektiven Gefährlichkeit der Handlung sowohl das Wissens-, als auch das Wollenselement des Tötungsvorsatzes zu Lasten des Angeklagten unterstellt. Demgegenüber hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, daß der Angeklagte nach dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten psychiatrischen Sachverständigen die Tatsituation als extrem bedrohend und beängstigend empfunden habe, wodurch es zu einer „Einengung seiner Bewußtseinswahrnehmung” gekommen sei, bei der der Angeklagte „röhrenförmig” nur noch sein Gegenüber und dessen Reaktion wahrgenommen habe (UA 10). Auch wenn das Landgericht entgegen der Auffassung des Sachverständigen eine affektbedingte erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei dem Angeklagten gemeint hat ausschließen zu können, durfte es die zum Bewußtseinszustand des Angeklagten getroffenen Feststellungen bei der Prüfung des Tötungsvorsatzes nicht unberücksichtigt lassen (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 6). Im übrigen hat das Landgericht selbst festgestellt, dem Angeklagten sei erst später, nachdem er von den Verletzungen des G. erfahren habe, „bewußt (geworden), was er getan hatte” (UA 8). Schließlich legt auch die Motivation des Angeklagten einen einsichtigen Beweggrund für eine – auch nur bedingt – vorsätzliche Tötung des Geschädigten nicht nahe. Das Landgericht hätte insoweit bedenken müssen, daß der Angeklagte die Situation zunächst zu entschärfen versucht hatte und erst auf die provozierende und beleidigende Bemerkung des G. zum Messer griff. Zudem handelte es sich um eine Auseinandersetzung unter Schülern in Anwesenheit einer größeren Anzahl von Mitschülern, denen gegenüber der körperlich unterlegene Angeklagte nicht als Feigling dastehen wollte (vgl. BGHR aaO Vorsatz, bedingter 8).
3. Im übrigen hat es das Landgericht von seiner Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes aus gesehen auch rechtsfehlerhaft unterlassen, die Frage eines freiwilligen Rücktritts vom Tötungsversuch zu erörtern, obwohl der Sachverhalt eine Auseinandersetzung hiermit erforderte. Dabei hätte das Landgericht sich mit den Vorstellungen des Angeklagten nach Abschluß der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung befassen müssen (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 31, 170; 39, 221, 227). Daß der Angeklagte nach der Zufügung des letzten Messerstichs mit der Möglichkeit gerechnet hat, die dem Tatopfer beigebrachten Verletzungen könnten zu dessen Tod führen, läßt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, da sie sich nicht dazu verhalten, welche – von dem Angeklagten wahrgenommenen – Wirkungen die Messerstiche bei dem Geschädigten hinterlassen hatten. Rechnet der Täter noch nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs und ist die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich, so liegt ein unbeendeter Versuch vor, bei dem das bloße (freiwillige) Aufgeben der weiteren Tatausführung zur Strafbefreiung nach § 24 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StGB führt. Angesichts dessen, daß der Geschädigte selbst zunächst seine Verletzungen nicht bemerkt hatte und auch dem Angeklagten erst später, nachdem er von den Verletzungen des Geschädigten erfahren hatte, bewußt wurde, was er getan hatte, drängte sich hier die Annahme eines unbeendeten Versuchs auf.
4. Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Von den aufgezeigten Rechtsfehlern unberührt sind die vom Geständnis des Angeklagten getragenen Feststellungen zum äußeren Sachverhalt, die deshalb bestehen bleiben können.
Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich darauf hin, daß auch die Erwägungen zur Bemessung der Jugendstrafe im angefochtenen Urteil in mehrfacher Hinsicht rechtlichen Bedenken begegnen. Dies betrifft namentlich die Begründung für die Annahme schädlicher Neigungen bei dem Angeklagten. So ist durch nichts belegt, daß bei dem Angeklagten „die grundsätzliche Bereitschaft” bestehen soll, „sich unter Verwendung einer Waffe über hochrangige Rechtsgüter zur Verfolgung und Durchsetzung seiner persönlichen Interessen hinwegzusetzen” (UA 14). Ein vergleichbares oder auch sonst nur aggressives früheres Verhalten des Angeklagten kann dem Urteil nicht entnommen werden. Soweit das Landgericht dem Angeklagten anlastet, er habe die „von ihm erkannte Möglichkeit des kampflosen Rückzuges” nicht genutzt (UA 14), hat die Jugendkammer gegen den Angeklagten gewertet, daß er die Tat überhaupt begangen hat, ohne dabei zu berücksichtigen, daß er sich zuvor um eine Entschärfung der Situation bemüht hatte und ihm das Tatmesser durch einen Mitschüler „zugespielt” worden war. Die durch Besonderheiten gekennzeichnete Tatsituation macht jedenfalls nicht ohne weiteres plausibel, daß das Verhalten des Angeklagten auf „gravierende Erziehungsdefizite” zurückzuführen ist. Schließlich hat das Landgericht den erheblichen Erziehungsbedarf damit begründet, bislang sei „keine ernsthafte Aufarbeitung der Tat zur Vermeidung von möglichen Wiederholungstaten erfolgt” (UA 16), ohne deutlich zu machen, wie der Angeklagte dies hätte tun sollen.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2559115 |
NStZ 2003, 369 |
StV 2004, 76 |