Leitsatz (amtlich)
In Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche können die Berufung und die Revision auch darauf gestützt werden, daß das Gericht mit Unrecht seine internationale Zuständigkeit angenommen hat.
Normenkette
ZPO §§ 512a, 549 Abs. 2
Tenor
In Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche können die Berufung und die Revision auch darauf gestützt werden, daß das Gericht mit Unrecht seine internationale Zuständigkeit angenommen hat.
Gründe
1. Nach §§ 512 a, 549 Abs. 2 ZPO können in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche Berufung und Revision nicht darauf gestützt werden, daß das untere Gericht seine örtliche Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat. Das Reichsgericht hat wiederholt ausgesprochen, diese Bestimmungen seien nicht nur anzuwenden, wenn zu entscheiden sei, welches von mehreren deutschen Gerichten Örtlich, sondern auch wenn in Frage stehe, ob überhaupt ein deutsches, oder nicht ein ausländisches Gericht zuständig sei (WarnRspr Ergänzungsband 1915 Nr. 247; RGZ 126, 196, 199; LZ 1930, 1502 Nr. 6; RGZ 150, 265, 268). Der Bundesgerichtshof hat sich – wie auch das Bundesarbeitsgericht (Urt. I AZR 258/57 vom 13. Mai 1959 = AP Internat. Privatrecht Nr. 4) – dieser Rechtsprechung angeschlossen (LM ZPO § 549 Nr. 13 = NJW 1953, 222, 223; JZ 1956, 535; GRUR 1960, 372, 377; WM 1960, 441 und I b ZR 100/62 vom 22. Januar 1964). Der VIII. Zivilsenat will von ihr abweichen und hat durch den Beschluß VIII ZR 304/62 vom 9. Dezember 1964 gemäß § 136 GVG dem Großen Senat für Zivilsachen die Frage vorgelegt:
„Können die Berufung und die Revision darauf gestützt werden, das untere Gericht habe zu Unrecht seine internationale Zuständigkeit angenommen?”
Der Große Senat bejaht diese Frage.
2. Die Zivilprozeßordnung regelt die internationale Zuständigkeit, d.h. die Grenzziehung zwischen der Zuständigkeit deutscher Gerichte und der Zuständigkeit ausländischer Gerichte nicht ausdrücklich und unmittelbar (Ausnahme: § 606 b ZPO), sondern grundsätzlich nur mittelbar durch stillschweigende Verweisung auf die Vorschriften der §§ 12 ff ZPO über den Gerichtsstand: Soweit nach diesen Vorschriften ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist, ist es nach deutschem Recht auch international, d.h. im Verhältnis zu ausländischen Gerichten zuständig. Auf dieser Verknüpfung von örtlicher und internationaler Zuständigkeit im deutschen Zivilprozeßrecht beruht die bisherige Rechtsprechung zu §§ 512 a, 549 Abs. 2 ZPO. Sie folgert, diese Bestimmungen müßten auch für die internationale Zuständigkeit gelten, „weil die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die örtliche Zuständigkeit die Gerichtsgewalt der deutschen Gerichte nicht nur im Verhältnis zueinander regelten, sondern zugleich mittelbar dem Ausland gegenüber die Grenze für die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit zögen” (so: RGZ 126, 196 ff; 150, 265, 268).
Dabei wird aber verkannt, daß diese positiv-rechtliche Regelung – andere Rechtsordnungen stellen für die internationale Zuständigkeit selbständige Voraussetzungen auf (vgl. Riezler, Internationales Zivilprozeßrecht S. 210 f) – die örtliche und die internationale Zuständigkeit nur in ihren Voraussetzungen (§§ 12 ff ZPO) miteinander verknüpft. Trotz dieser Verknüpfung bleiben örtliche Zuständigkeit und internationale Zuständigkeit etwas Verschiedenes: Die örtliche Zuständigkeit verteilt die Streitsachen unter die deutschen erstinstanzlichen Gerichte, die internationale Zuständigkeit dagegen regelt, ob eine Streitsache mit Auslandsbeziehungen von deutschen oder von ausländischen Gerichten entschieden werden soll. Es kann dahinstehen, ob mit Rücksicht auf diese funktionelle Verschiedenheit die internationale Zuständigkeit eine selbständige Prozeßvoraussetzung neben der örtlichen Zuständigkeit bildet, wie im internationalen Zivilprozeßrecht überwiegend angenommen wird (Neuner, Internationale Zuständigkeit, 1929 S. 45 Anm. 189; Pagenstecher, RabelsZ 1937, 346 ff; Reu, Die staatliche Zuständigkeit im internationalen Privatrecht, 1938 S. 89; Riezler, Internationales Zivilprozeßrecht 1949 S. 318; Matthies, Deutsche internationale Zuständigkeit 1955, S. 63; a.A. Kralik ZZP 1961, 26 ff). In jedem Fall stellt sich die Frage, ob die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung, die sich außerhalb des Titels „Gerichtsstand” mit der örtlichen Zuständigkeit befassen, also nicht deren Voraussetzungen regeln, auch für die internationale Zuständigkeit gelten. Die Antwort auf sie ist nicht schon aus der positiv-rechtlichen Verknüpfung der Voraussetzungen der beiden Zuständigkeiten logisch zu erschließen, sie ist vielmehr nur durch eine Auslegung dieser Bestimmungen, im vorliegenden Fall also der §§ 512 a, 549 Abs. 2 ZPO, zu gewinnen.
3. Sinn und Zweck der §§ 512 a, 549 Abs. 2 ZPO ergeben sich vornehmlich aus ihrer Entstehungsgeschichte. § 549 Abs. 2 ZPO ist im Rahmen der Novelle vom 5. Juni 1905 (RGBl I, 536), die eine Entlastung des Reichsgerichts bezweckte, in die Zivilprozeßordnung eingefügt worden. Die Bestimmung wurde erst aufgrund der Beratungen der Reichstagskommission in den Entwurf aufgenommen und sollte, wie es in der Begründung heißt, „noch in verstärktem Maße das Reichsgericht von Zuständigkeitsstreitigkeiten befreien” (zitiert nach: Materialien zu dem Gesetz vom 5. Juni 1905, betreffend die Änderungen der Zivilprozeßordnung, Erstes Heft der Beihefte zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in Zivilsachen, Leipzig 1905 S. 114). § 512 a ZPO entstammt der Zivilprozeßnovelle vom 13. Februar 1924 (RGBl I, 135, 143). Sie schnitt im Interesse der Entlastung der Rechtsmittelgerichte und der Beschleunigung des Verfahrens dem Beklagten die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit schon in der Berufungsinstanz ab. Das Gesetz hat demnach das Interesse der beklagten Partei, nur vor dem für sie örtlich zuständigen Gericht in einen Rechtsstreit hineingezogen zu werden, dem allgemeinen Interesse nachgesetzt, die oberen Instanzen von Zuständigkeitsstreitigkeiten zu entlasten und das Vorfahren zu beschleunigen. Nach der gesetzlichen Interessenbewertung kommt danach einem Streit über die örtliche Zuständigkeit nur noch eine mindere Bedeutung zu, wenn ein unteres Gericht sich einmal für zuständig erklärt und den Instanzenzug eröffnet hat.
Geht man von diesem Sinn und Zweck des Gesetzes aus, so ist es in der Tat zureichend gerechtfertigt, bei einmal bejahter örtlicher Zuständigkeit diese der Nachprüfung durch die übergeordneten Instanzen zu entziehen.
a) Bei der – zu unterstellenden – Gleichwertigkeit der deutschen erstinstanzlichen Gerichte (vgl. RG LZ 1930, 1502 Nr. 6) kann die beklagte Partei, weder im Hinblick auf die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens noch auf die Entscheidung ein sachliches Interesse daran haben, daß statt des Amtsgerichts oder des Landgerichts, das seine örtliche Zuständigkeit bejaht hat, ein anderes Amtsgericht oder Landgericht den Rechtsstreit entscheide. Welches deutsche Gericht auch immer entscheiden mag, es wird dasselbe Verfahrensrecht und dasselbe materielle Recht anwenden. Ein Interesse, das Verfahren vor ein anderes Gericht zu ziehen, kann deshalb die beklagte Partei nur im Hinblick auf solche Umstände haben, die sich nicht auf Verfahren und Rechtsanwendung, sondern lediglich auf die örtliche Lage des erstinstanzlichen Gerichts beziehen. Insbesondere ist die beklagte Partei in der Regel daran interessiert, nicht in einem vom Kläger angenommenen besonderen Gerichtsstand, sondern in ihrem durch Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt bestimmten allgemeinen Gerichtsstand verklagt zu werden.
Andererseits werden die Belange der staatlichen Rechtspflege überhaupt nicht dadurch berührt, von welchem erstinstanzlichen Gericht ein bestimmter Rechtsstreit entschieden wird. Das Gesetz konnte deshalb mit gutem Grund den weiteren Streit über die örtliche Zuständigkeit, wenn das untere Gericht seine örtliche Zuständigkeit bejaht hatte, als unbedeutend ansehen und von den höheren Instanzen ausschließen. Die gesetzliche Regelung entspricht also voll ihrem Sinn und Zweck, wenn man sie (nur) auf den Streit über die örtliche Zuständigkeit anwendet.
b) Die Interessenlage ist aber eine wesentlich andere, wenn die beklagte Partei sich darauf beruft, das untere Gericht habe zu Unrecht seine internationale Zuständigkeit angenommen. Dabei ist von dem für die Problemlage typischen Fall auszugehen, daß die beklagte Partei Ausländer oder eine Person mit Auslandsbeziehungen ist.
Der beklagten Partei kommt es in diesem Fall darauf an, daß nicht ein deutsches Gericht, sondern ihr Heimatgericht die Rechtssache entscheidet. Dieses Interesse erschöpft sich nicht darin, daß ein für die beklagte Partei günstiger gelegenes Gericht mit dem Prozeß befaßt wird – dieser Gesichtspunkt ist hier nur von untergeordneter Bedeutung –. Die beklagte Partei hat an einer Entscheidung durch ihr Heimatgericht das natürliche Interesse jedes Staatsangehörigen, daß sein Staat, dessen Organisation und Funktionsweise er kennt, dessen Sprache er spricht und dem er auf mannigfache Weise verbunden ist, auch seiner Rechtssache sich annimmt, und nicht ein fremder Staat. Das Gewicht dieses Interesses ist mit dem Interesse eines Beklagten, der seine Rechtssache statt von dem einen von einem anderen gleichgeordneten Gericht seines Heimatstaates entschieden wissen will, nicht zu vergleichen.
Es kommt hinzu, daß die internationale Zuständigkeit – anders als die örtliche – auch über das Verfahrensrecht entscheidet, nach dem der Rechtsstreit abgewickelt wird. Denn nur das deutsche Gericht wendet deutsches Prozeßrecht, das ausländische Gericht aber sein eigenes Verfahrensrecht an. Darüber hinaus hängt von der internationalen Zuständigkeit nicht selben auch ab, nach welchem materiellen Recht die Rechtssache entschieden wird. Wird die deutsche internationale Zuständigkeit bejaht, so bestimmt das deutsche internationale Privatrecht, nach welchem materiellen Recht das streitige Rechtsverhältnis zu beurteilen ist; wird aber die deutsche internationale Zuständigkeit verneint (und ruft deshalb der Kläger ein ausländisches Gericht an), so entscheidet dieses nach dem internationalen Privatrecht seines Landes über die anzuwendende Rechtsnorm. Demgemäß kann die Entscheidung über die internationale Zuständigkeit – im Gegensatz zur Entscheidung über die örtliche – schon die sächliche Entscheidung des Prozesses vorwegnehmen. Dies kann ferner – abgesehen von der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung des internationalen Privatrechts – auch schon dann zutreffen, wenn die Rechtsordnung des anderen Staates von einer ganz anderen Auffassung vom Wesen und Zweck des Rechts oder von einer von der deutschen wesentlich verschiedenen Methode der Rechtsanwendung ausgeht.
In dieselbe Richtung weisen für die internationale Zuständigkeit die Belange der staatlichen Rechtspflege. Diese werden nicht berührt, wenn die Parteien darüber streiten, ob ein Rechtsstreit vom Landgericht A oder ob er vom Landgericht B zu entscheiden ist, wohl aber, wenn in Frage steht, ob eine Rechtssache mit Auslandsbeziehungen überhaupt von einem deutschen Gericht oder von einem ausländischen Gericht entschieden werden soll. Es handelt sich dann darum, wieweit die deutschen Gerichte in Rechtssachen mit Auslandsbeziehungen eine Entscheidungsbefugnis in Anspruch nehmen. Diese Frage hat, aus dem Blickpunkt der staatlichen Rechtspflege gesehen, den gleichen Rang, wie die Entscheidung über die Grenzen der deutschen Gerichtsbarkeit im engeren Sinne, also etwa in den Fällen der Immunität (für die auch das Reichsgericht die Anwendbarkeit der §§ 512 a, 549 Abs. 2 ZPO verneint; RGZ 157, 389, 392).
Da mithin bei einem Streit über die internationale Zuständigkeit – anders als bei einem Streit über die örtliche Zuständigkeit – sowohl die Interessen der beteiligten Einzelnen als auch die Belange der staatlichen Rechtspflege in hohem Maße betroffen werden, kann nicht angenommen werden, das Gesetz, das nur Streitpunkte minderer Bedeutung von den höheren Instanzen ausschließen wollte, meine hier auch die internationale Zuständigkeit, wo es nur von der örtlichen Zuständigkeit spricht (im Ergebnis ebenso: Neuner a.a.O. S. 45 Anm. 189; Pagenstecher a.a.O. S. 337 442 ff; Reu, Die staatliche Zuständigkeit im international Privatrecht, 1938, S. 200 Anm.; Kallmann, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilurteile und gerichtlicher Vergleiche, 1946 S. 23 Anm. 6; Riezler a.a.O. S. 318; Matthies a.a.O. S. 81 ff, derselbe NJW 1953, 546, 547; Gamillscheg, Anm. zu BAG AP Internat. Privatrecht Nr. 4; Stein/Jonas/Pohle, ZPO 19. Aufl. vor § 12 Bemerkung V 3).
4. Nur eine solche Auslegung steht auch im Einklang mit der Behandlung der übrigen Prozeßvoraussetzungen in den Rechtsmittelinstanzen. So ist die Frage der sachlichen Zuständigkeit, unter die auch die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen ordentlichen Gerichten und Arbeitsgerichten fällt, in allen Instanzen nachprüfbar, obgleich sie von ungleich geringerem Gewicht ist als die Frage der Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts. Die Frage des innerdeutschen Gerichtsweges ist in allen Instanzen sogar von Amts wegen nachzuprüfen. Es wäre widerspruchsvoll, könnten Berufung und Revision darauf gestützt worden, daß statt der deutschen ordentlichen Gerichte die deutschen Arbeitsgerichte oder Verwaltungsgerichte oder Sozialgerichte oder Finanzgerichte zuständig seien, nicht aber darauf, daß statt des deutschen ein ausländisches Gericht zur Entscheidung berufen war.
Die Frage des Vorlagebeschlusses war deshalb zu bejahen. Die zu erwartende Mehrbelastung der Rechtsmittelgerichte, insbesondere des Bundesgerichtshofes, muß wegen des Gewichts der eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung nahelegenden Gründe in Kauf genommen werden.
Unterschriften
Heusinger, Dr. Haidinger, Dr. Fischer, Dr. Augustin, Krüger-Nieland, Johannsen, Dr. Heimann-Trosien, Dr. Kreft, Dr. Hauß, Mormann
Fundstellen
Haufe-Index 1502332 |
BGHZ, 46 |
NJW 1965, 1665 |
Nachschlagewerk BGH |
JZ 1966, 237 |
MDR 1965, 723 |
ZZP 1967, 311 |