Tenor
1. Der Antrag des Beschuldigten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird als unzulässig
2. Der Antrag des Beschuldigten auf Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwalt L. und Bestellung von Rechtsanwältin G.
zur Pflichtverteidigerin wird
Tatbestand
I.
Rz. 1
1. Der Beschuldigte G. ist in dem vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof geführten Ermittlungsverfahren dringend verdächtig,
sich von … bis …
in N. und andernorts
an einer terroristischen Vereinigung im Ausland („Islamischer Staat”, [„IS”]) als Mitglied beteiligt zu haben, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 und 12 VStGB) zu begehen, indem er gemeinsam mit den weiteren Mitbeschuldigten … – geleitet von einer sie einenden radikal-fundamentalistischen Überzeugung – im Bundesgebiet eine Zelle gründete, um im Namen des „…” im Sinne eines bewaffneten Kampfes gegen „Ungläubige” in Deutschland und/oder im Ausland aufzunehmen und Anschläge, auch unter Einsatz von Schusswaffen und Sprengstoff, in Deutschland oder … zu begehen.
Rz. 2
2. Wegen der Einzelheiten zum Tatvorwurf, zur Würdigung der Beweistatsachen sowie zur rechtlichen Würdigung und zur Verfolgungszuständigkeit des Generalbundesanwalts wird Bezug genommen auf den Haftbefehl vom 9. April 2020 – 2 BGs …
Rz. 3
3. Der Beschuldigte wurde aufgrund des vorstehend benannten Haftbefehls am 15. April 2020 verhaftet und am selben Tag dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof vorgeführt. Die vom Beschuldigten im Zuge seiner Verhaftung benannte Rechtsanwältin H. aus B. konnte weder von den eingesetzten Polizeikräften noch von der Geschäftsstelle des Gerichts fernmündlich erreicht werden. Dem Beschuldigten wurde deshalb auf seinen Wunsch hin der zuvor vom Gericht aus der Liste der in Karlsruhe ansässigen Strafverteidiger benachrichtigte Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht L. zum Pflichtverteidiger bestellt (vgl. Beschluss vom 15. April 2020 – 2 BGs …). Ein Hinweis auf die Frist aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO erfolgte zu keinem Zeitpunkt; auf Nachfrage des bestellten Verteidigers im Nachgang zur gerichtlichen Vorführung erklärte Rechtsanwältin H., den Beschuldigten allein in seinen aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten, nicht aber im Strafverfahren zu vertreten.
Rz. 4
4. Mit Schriftsatz vom 7. August 2020 übermittelte Rechtsanwältin G. dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof die Anträge des Beschuldigten, ihm Wiedereinsetzung in „die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 StPO zu gewähren” und ihm Rechtsanwältin G. „beizuordnen und den bisherigen Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt L. aus Karlsruhe, zu entpflichten.” Beim Generalbundesanwalt ging der Schriftsatz am 11. August 2020 ein. Zu Begründung führt Rechtsanwältin G. für den Beschuldigten insbesondere aus, dass der Beschuldigte am Tage seiner Verhaftung keine eigene Anwaltsauswahl habe treffen können, sondern Rechtsanwalt L. – durch das Gericht verständigt – schon vor Ort gewesen sei; eine Liste für die Anwaltsauswahl sei ihm ebenfalls nicht vorgelegt worden. Auch habe er darauf hingewiesen, dass Rechtsanwältin H. ihn nur in aufenthaltsrechtlichen Fragen vertrete. Schließlich sei er über die Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO erst am 6. August 2020 durch Rechtsanwältin G. „belehrt” worden.
Rz. 5
5. Der Schriftsatz und die Stellungnahme des Generalbundesanwalts hierzu vom 14. August 2020 gingen am 18. August 2020 beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs ein. Der Generalbundesanwalt führt namentlich aus, dass bereits die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs wegen unzureichender Glaubhaftmachung zweifelhaft sei; jedenfalls aber sei der Antrag unbegründet, weil der Beschuldigte die Drei-Wochen-Frist nicht unverschuldet versäumt habe.
Rz. 6
6. Rechtsanwalt L. sowie der weitere – nach § 144 Abs.1 StPO bestellte (vgl. Beschluss vom 14. Mai 2020 – 2 BGs …) – Pflichtverteidiger Dr. B. haben zu dem Antrag des Beschuldigten Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 7
Den Anträgen des Beschuldigten bleibt der Erfolg versagt.
Rz. 8
1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bereits unstatthaft. Dabei kann dahin stehen, ob das Wiedereinsetzungsgesuch fristgerecht gestellt wurde (§ 45 Abs. 1 StPO) und – wie der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof meint – die vorgetragenen Tatsachen unzureichend glaubhaft gemacht worden sind (§ 45 Abs. 2 StPO). Denn in die Erklärungsfrist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO findet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 44 Satz 1 StPO nicht statt.
Rz. 9
a) Voraussetzung für die Statthaftigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs ist, dass innerhalb eines gesetzlich bestimmten Zeitraums eine erforderliche Prozesshandlung von einem Verfahrensbeteiligten nicht vorgenommen worden ist und späterhin als Folge der Säumnis durch ihn auch nicht mehr nachgeholt werden kann. Das Wiedereinsetzungsgesuch vermag diesen mit der Säumnis gesetzlich verbundenen Rechtsnachteil zu beseitigen und das Verfahren in einen Abschnitt vor der Versäumung der Frist zurückzuversetzen und ihm einen anderen Verlauf zu geben, als den, den es infolge der Säumnis vor ihm genommen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1972 – 1 StR 267/12, BGHSt 25, 89, 91; vgl. bereits RG, Beschluss vom 4. Juli 1919 – IV 44/19, RGSt 53, 286, 287 f., und BVerfG, vom 8. Dezember 1993 – 2 BvR 1173/93). Es wird hierdurch also eine prozessuale Lage geschaffen, die eine Nachholung der versäumten Prozesshandlung ermöglicht (vgl. nur Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II, § 44 Rn. 1). Wird allerdings durch den Ablauf einer Frist keine neue Prozesssituation geschaffen und ist eine Prozesshandlung trotz Fristablauf noch immer wirksam bei Gericht anzubringen, so bedarf es des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten nicht (vgl. etwa MünchKomm-StPO/Valerius, § 44 Rn. 5). Es fehlt in diesen Konstellationen an der infolge Fristsäumnis entstandenen neuen, für den Verfahrensbeteiligten nachteiligen Prozesssituation.
Rz. 10
b) Gemessen hieran erweist sich ein Wiedereinsetzungsgesuch in die Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO als unstatthaft (a.A. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 143a Rn. 10; KMR/Staudinger, 98. EL, § 143a Rn. 4).
Rz. 11
Hierzu im Einzelnen:
Rz. 12
aa) Der Ablauf der Drei-Wochen-Frist aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO ist für die Wirksamkeit eines Antrags des Beschuldigten auf Entpflichtung des bestellten Verteidigers und Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts bedeutungslos. Der Beschuldigte kann im Strafverfahren bis zum Zeitpunkt des § 143 Abs. 1 StPO durch seinen Antrag jederzeit die gerichtliche Entscheidung über die Auswechselung seines Pflichtverteidigers erwirken. Hierdurch werden ihm zugleich rechtliches Gehör und Rechtsschutz im Hinblick auf sein Recht auf effektive Verteidigung unabhängig vom Antragszeitpunkt zuteil. Aus diesem Grund bewirkt der Ablauf der Drei-Wochen-Frist auch keine neue prozessrechtliche Lage, die den für ein statthaftes Wiedereinsetzungsgesuch notwendigen Rechtsnachteil begründen könnte (vgl. RG, Beschluss vom 4. Juli 1919 – IV 44/19, RGSt 53, 286, 288; ferner bereits Kalthoener, Probleme aus dem strafprozessualen Recht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, 1957, S. 44).
Rz. 13
bb) Für die fehlende Statthaftigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs spricht auch eine regelungssystematische Betrachtung. Das strafprozessuale Vorverfahren erweist sich als einheitlicher Verfahrensabschnitt, dem zäsurbildende oder gar präkludierende Regelungen grundsätzlich fremd sind. Eingedenk dessen wird daher mit Recht eine Anwendung der Maßgaben des § 44 StPO auf Erklärungsfristen im Ermittlungsverfahren grundsätzlich abgelehnt (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 44 Rn. 3; BeckOK-StPO/Cirener, 37. Ed., § 44 Rn. 5; KK-StPO/Maul, 8. Aufl., § 44 Rn. 1; SSW-StPO/Tsambikakis, 4. Aufl., § 44 Rn. 5).
Rz. 14
cc) An der zeitlich uneingeschränkten prozessualen Befugnis, einen Verteidigerwechsel zu erwirken, ändern auch die Maßgaben des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128) nichts. Allein eine auf § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO gestützte Auswechselung ist nach dem gesetzgeberischen Willen zeitlich beschränkt möglich (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 47); alle anderen – namentlich bereits nach früherer Rechtslage anerkannten und nunmehr gesetzlich – geregelten Gründe für den Verteidigerwechsel bestehen unbeschadet dessen fort. Hätte der Gesetzgeber dem Fristablauf hingegen eine das Antragsrecht insgesamt berührende Wirkung beimessen wollen, wäre im Übrigen eine Aufnahme dieser Rechtsfolgen in den besonders ausdifferenzierten Belehrungskatalog des § 114b StPO naheliegend gewesen.
Rz. 15
dd) Eine andere rechtliche Bewertung ist auch im Lichte von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie EU/2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. L 297 vom 4.11.2016, S. 1 ff.) nicht geboten. Hiernach ist sicherzustellen, dass beschuldigte und gesuchte Personen auf entsprechenden Antrag hin das Recht haben, den Rechtsbeistand, der ihnen für die Erbringung der Dienstleistungen im Rahmen von Prozesskostenhilfe zugewiesen wurde, auswechseln zu lassen, sofern die konkreten Umstände es rechtfertigen. Dem entsprechen die vom Gesetzgeber mit § 143a Abs. 2 StPO eingeführten Fallgruppen und die diese Rechte des Beschuldigten weiter absichernde Beschwerdebefugnis aus § 142 Abs. 7 StPO (vgl. LR/Jahn, 27. Aufl., § 143a Rn. 21 m.w.N., im Erscheinen). Überdies steht es dem Beschuldigten auch nach der Neuregelung frei, eine Auswechselung des Pflichtverteidigers durch konsensuale und zeit- sowie kostenaufwandsneutrale Weise zu erreichen (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 47).
Rz. 16
ee) Schließlich wäre ein hier statthaftes Wiedereinsetzungsgesuch unvereinbar mit einer vom Gesetzgeber gerade auch bei der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung erkennbar erstrebten zügigen Verfahrensführung (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 46).
Rz. 17
ff) Dass der verspätete Antrag eine gerichtliche Entscheidung erwirkt, für die nicht mehr die gesetzliche Vermutung aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO streitet, ändert an dieser rechtlichen Bewertung nichts. Nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist greift zwar die gesetzliche Fiktion, dass die ursprüngliche Verteidigerauswahl des Beschuldigten im Zusammenhang mit der defizitären Entscheidungssituation im Zuge seiner Verhaftung stand, nicht mehr zu Gunsten des Beschuldigten. Hierbei handelt es sich aber nur um abweichende materielle Maßgaben für die Verbescheidung des Antrags und nicht um prozessualen Nachteil in der Gestalt eines Ausschlusses der Prozesserklärung insgesamt.
Rz. 18
2. Die Auswechselung des Pflichtverteidigers kommt hier auch aus anderen Gründen nicht in Betracht; insoweit ist der Antrag unbegründet. Es ist weder ersichtlich noch tatsachengestützt vorgetragen worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2020 – StB 4/20, BeckRS 2020, 3078, vom 5. März 2020 – StB 6/20, NStZ 2020, 434, und vom 29. Juni 2020 – 4 StR 654/19, BeckRS 2020, 15343), dass die Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO vorliegen. Der Hinweis darauf, dass die Wahlverteidigerin die „Verteidigerin des Vertrauens” sei, ist unzureichend. Ein kostenneutraler Austausch der Pflichtverteidiger wird erkennbar nicht begehrt.
Unterschriften
Wenske, Richter am Bundesgerichtshof
Fundstellen
Haufe-Index 14686389 |
NStZ-RR 2021, 290 |
NJW-Spezial 2021, 569 |
StV-S 2021, 152 |