Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiheitsentziehende Unterbringung. Erforderlichkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist nicht erforderlich, wenn die Gefahr der Selbsttötung oder der Zufügung eines erheblichen gesundheitlichen Schadens oder einer völligen Verwahrlosung durch andere Mittel als durch die freiheitsentziehede Unterbringung abgewendet werden kann.
2. Die Voraussetzungen einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sind durch eine förmliche Beweisaufnahme festzustellen.
Normenkette
FamFG § 70 Abs. 3 Nrn. 1-2; BGB § 1906 Abs. 1 Nrn. 1-2
Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 11.03.2011; Aktenzeichen 301 T 91/11) |
AG Hamburg-Wandsbek (Beschluss vom 25.01.2011; Aktenzeichen 707a XVII M 1819) |
Tenor
1. Der Betroffenen wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des LG Hamburg - Zivilkammer 1 - vom 11.3.2011 aufgehoben, soweit darin die Beschwerde des Verfahrenspflegers gegen den Beschluss des AG Hamburg-Wandsbek vom 25.1.2011 bezogen auf die Genehmigung der Unterbringung zurückgewiesen worden ist. Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Wert: 6.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Für die Betroffene besteht seit Oktober 2009 eine rechtliche Betreuung. Sie leidet an einer organischen psychotischen Störung und ist an Multipler Sklerose erkrankt. Sie hat sechs Kinder von vier Vätern.
Rz. 2
Durch die angefochtenen Beschlüsse hat das AG die Unterbringung der Betroffenen genehmigt, die sich seit Januar 2011 in einer Klinik befindet. Außerdem hat es die Betreuung um die Aufgabenkreise "Wohnungsangelegenheiten" und "Entgegennahme und Öffnen der Post" erweitert. Dagegen hat der Verfahrenspfleger Beschwerde eingelegt, die vom LG nach einer vom beauftragten Richter durchgeführten Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen worden ist. Mit der von ihr eingelegten Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene die Aufhebung der amtsgerichtlichen Beschlüsse.
II.
Rz. 3
Die gem. § 70 Abs. 3 Nr. 1 und 2 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet und führt insoweit zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung.
Rz. 4
1. a) Das LG hat die Voraussetzungen der Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB als gegeben erachtet. Die Erkrankung der Betroffenen mache auch eine "fach(pflege)psychiatrische Behandlung" erforderlich. Die Behandlung im Krankenhaus habe bereits eine signifikante Verbesserung erreichen können. Die Behandlung mit einem Depotmedikament sei weiterhin notwendig, was nur geschlossen-stationär möglich sei, weil die Betroffene mutmaßlich damit überfordert wäre, die Medikation ambulant fortzusetzen. Ein Absetzen der Medikation und eine weniger strukturierte Umgebung bzw. das Fehlen eines engen therapeutischen Rahmens würde alsbald eine Verschlechterung bewirken. Daneben sei die Maßnahme auch im Sinne einer beschützenden Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zur Abwehr einer erheblichen Eigengefährdung gerechtfertigt. Die Betroffene sei nicht wohnfähig und wäre alsbald akut von Obdachlosigkeit bedroht. Die Unterbringung sei auch verhältnismäßig. Da die Betroffene ihre Medikamente mittlerweile freiwillig nehme, bedürfe es keiner Entscheidung über die aus Rechtsgründen ohnehin nicht erforderliche ausdrückliche Genehmigung der Zwangsmedikation.
Rz. 5
b) Die Betroffene sei wegen ihrer psychischen Krankheit auch nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten in den Aufgabenkreisen "Entgegennahme und Öffnen der Post" sowie "Wohnungsangelegenheiten" selbständig zu besorgen. Die Notwendigkeit der Betreuung in Wohnungsangelegenheiten ergebe sich daraus, dass die Betroffene nach Lage der Dinge nicht in ihre Wohnung zurückkehren könne und die Suche nach einer neuen Unterkunft für die Zeit nach der geschlossenen Unterbringung anstehe. Der Aufgabenkreis "Entgegennahme und Öffnen der Post" sei notwendig, weil die Betroffene ihre Mitwirkung nahezu vollständig verweigere und die Betreuerin nicht über den laufenden Schriftverkehr informiere.
Rz. 6
2. Das hält hinsichtlich der Genehmigung der Unterbringung den von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrügen nicht stand. Die vom LG durchgeführte Sachaufklärung genügt insoweit nicht den Anforderungen nach § 26 FamFG.
Rz. 7
a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB nicht hinreichend festgestellt sind.
Rz. 8
aa) Eine Unterbringung ist nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Senats auch die Gefahr einer völligen Verwahrlosung des Betroffenen die Unterbringung rechtfertigen, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist (BGH v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 14 m.w.N.). Die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB muss aber auch erforderlich sein. Das ist zu verneinen, wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann (BGH v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 14 m.w.N.).
Rz. 9
Im vorliegenden Fall ist die Erforderlichkeit nicht festgestellt. Die Rechtsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, dass nach dem Sachverständigen-Gutachten anstelle der Unterbringung für die Betroffene auch eine betreute Wohneinrichtung in Frage kommt, die - ggf. als mildere Maßnahme - gegenüber der Unterbringung vorrangig ist. Warum von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht worden ist, lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen. Damit fehlt es im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer Unterbringung an einer hinreichenden Aufklärung.
Rz. 10
bb) Auch die Voraussetzungen einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sind nicht hinreichend festgestellt worden.
Rz. 11
Vor einer Unterbringungsmaßnahme hat nach § 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Der vom AG beauftragte Sachverständige hat in seinem Gutachten die Voraussetzungen der Unterbringung zur Heilbehandlung jedoch als nicht gegeben erachtet. Das LG hat die geschlossen-stationäre Behandlung dennoch für erforderlich gehalten, weil die Betroffene mutmaßlich damit überfordert würde, die Medikation ambulant fortzusetzen. Dafür hat es sich auf die Angaben des behandelnden Arztes gestützt.
Rz. 12
Nach der Rechtsprechung des Senats vermag die Anhörung des behandelnden Arztes eine förmliche Beweisaufnahme indessen nicht zu ersetzen (BGH v. 15.9.2010 - XII ZB 383/10, FamRZ 2010, 1726 Rz. 17). Das gilt nicht nur, wenn das Gericht von der Beauftragung eines geeigneten Gutachters absieht, sondern auch, wenn es zwar ein Sachverständigen-Gutachten einholt, im Ergebnis aber - wie hier - davon abweicht, ohne die Abweichung zu begründen und sich mit der abweichenden Einschätzung des Gutachters auseinanderzusetzen. Von dem Mangel ist auch die vom AG ausdrücklich ausgesprochene Genehmigung der Zwangsmedikation mit einem Depotmedikament erfasst, weil schon ein hinreichender Grund für die Unterbringung zur Heilbehandlung demnach nicht festgestellt ist.
Rz. 13
cc) Dass die Anhörung der Betroffenen vor dem beauftragten Richter und nicht vor der gesamten Kammer stattgefunden hat, ist schließlich nicht zu beanstanden. Den persönlichen Eindruck hat das LG in der Beschwerdeentscheidung nur zur Stützung der vom Gutachter angestellten Diagnose verwertet, die schon für sich genommen eine hinreichende Grundlage für die Feststellung einer psychischen Krankheit i.S.v. § 1906 Abs. 1 BGB bietet.
Rz. 14
b) Im Hinblick auf die Erweiterung der Aufgabenkreise der Betreuung greifen die von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrügen nicht durch. Von der weiteren Begründung wird insoweit gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Rz. 15
3. Die Entscheidung zur Unterbringung beruht auf den aufgezeigten Verfahrensfehlern. Eine abschließende Sachentscheidung ist dem Senat insoweit nicht möglich, weil entsprechend den Vorgaben des Senats weitere tatrichterliche Feststellungen erforderlich sind.
Fundstellen
FamRZ 2012, 441 |
NJW-RR 2012, 385 |
BtPrax 2012, 63 |