Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag. Minderschwerer Fall. Finanzielle Lage. Familiäre Lage. Vertypter Milderungsgrund
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Prüfung des Vorliegens eines minderschweren Falls eines Totschlagversuchs sind durch das Gericht Besonderheiten der Tat in die Prüfung miteinzubeziehen.
Normenkette
StGB § 213
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 13. September 2001 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Der Angeklagte wurde wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil von S. (Einzelstrafe sieben Jahre) sowie zwei (weiteren) Fällen der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil seiner Ehefrau (Einzelstrafe jeweils zwei Jahre), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Seine auf die Sachrüge gestützte Revision bleibt zum Schuldspruch erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO), hat aber zum Strafausspruch Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
1. Folgendes ist festgestellt:
Im Rahmen des von der Ehefrau des Angeklagten eingeleiteten Scheidungsverfahrens kam es unter den Eheleuten zu Streitigkeiten vor allem über das Sorgerecht für die 1990 und 1992 geborenen Söhne und die Tilgung von Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend DM. Diese rührten wesentlich von einem Hausbau her sowie von einem Darlehen über 80.000 DM, das für ein „Ayurveda-Studio” der Ehefrau aufgenommen worden war. Ein nennenswertes Einkommen erzielte diese nicht.
Nach der Trennung der Eheleute verblieben dem Angeklagten, der in einem Zimmer zur Miete wohnte, von seinem Nettoverdienst von etwa 4.400 DM noch etwa 460 DM. Als die Zwangsversteigerung des Hauses anstand, verweigerte die Ehefrau ihre für einen freihändigen Verkauf erforderliche Zustimmung, ohne daß ein Grund hierfür festgestellt wäre, obwohl bei einer Zwangsversteigerung ein wesentlich geringerer Erlös zu erwarten war als bei einem freihändigen Verkauf. In dem nunmehr von der Ehefrau und den Söhnen bewohnten Haus hielt sich zumindest zeitweite S., der Freund der Ehefrau, auf, dem diese auch den vom Angeklagten für sie und die Kinder geleasten Pkw – für den der Angeklagte monatliche Leasingraten bezahlte – zur Nutzung überlassen hatte.
Als der Angeklagte erfuhr, daß die Söhne gegenüber dem Familiengericht erklärt hatten, im Fall einer Scheidung bei der Mutter bleiben zu wollen, war er enttäuscht und verzweifelt, nachdem diese bis zuletzt immer wieder versichert hatten, bei einer Scheidung bei ihm leben zu wollen. Wie es zu diesem Sinneswandel gekommen war, ist nicht mitgeteilt. Der Angeklagte vermutete „gleichfalls eine Intrige seiner Frau und ihres Freundes”.
Der Angeklagte geriet über die ganze Situation so in Wut, daß er noch in derselben Nacht zu seinem früheren Wohnhaus und zu seiner Ehefrau fuhr, „um sie notfalls auch mit Schlägen zu zwingen, dem Verkauf des Hauses zuzustimmen”; er nahm ein Küchenmesser mit, „um seiner Forderung Nachdruck verleihen zu können”. Vor dem Haus steigerte sich seine Wut weiter, als er dort den von ihm geleasten und von S. benutzten Pkw stehen sah. Es ging ihm jetzt nicht mehr nur um den Hausverkauf, sondern er wollte „die Situation auf der Stelle unter Einsatz von Gewalt bereinigen” und dabei seine Ehefrau und S. „angreifen”. Er betrat über die Garage die Waschküche, nachdem er zuvor einen aufgefundenen Radmutterschlüssel als Schlagwerkzeug an sich genommen hatte. In der Waschküche trat ihm seine Ehefrau entgegen, der er mit den Worten: „Jetzt hast Du erreicht, was Du wolltest, Du Drecksau!” den Radmutterschlüssel zweimal auf den Kopf schlug. Einen Tötungsvorsatz konnte die Strafkammer nicht feststellen. Als die Ehefrau S. um Hilfe rief, wandte sich der Angeklagte von ihr ab und lief in das Wohnzimmer, wo er mit den Worten: „Ich bring Dich um, Du Drecksau!” mit dem mitgebrachten Messer mehrfach auf S. einstach. Es kam zu einem Kampf, bei dem sich S. zwar letztlich erfolgreich wehren, tiefe Schnitt- und weniger tiefe Stichverletzungen aber nicht verhindern konnte. Am Ende konnte S. trotz Verfolgung durch den Angeklagten fliehen.
Der Angeklagte kehrte zum Haus zurück und wandte sich wieder, diesmal auch mit dem Messer, gegen die Ehefrau, der er, noch immer ohne Tötungsvorsatz, trotz ihrer Gegenwehr Verletzungen am Ellenbogen und am Unterarm zufügte. Das Eingreifen der durch den Lärm aufgewachten Kinder ermöglichte dann auch der Ehefrau die Flucht.
2. Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei. Der näheren Ausführung bedarf nur folgendes:
Die Annahme, es liege nicht Tateinheit (natürliche Handlungseinheit), sondern Tatmehrheit hinsichtlich der drei Tatkomplexe vor, ist entgegen der Auffassung der Revision nicht zu beanstanden.
Höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen sind einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zu Grunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich. Greift der Täter daher einzelne Menschen nacheinander an, so besteht selbst bei einheitlichem Tatentschluß und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlaß, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen (BGH StV 1999, 351, 352, StV 1994, 537, 538 jew. m.w.N.). Besonderheiten, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten (vgl. BGH StV 1994 aaO), sind nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt sich dies auch nicht daraus, daß der Angeklagte zweimal seine Ehefrau angriff, da der zwischenzeitliche Angriff gegen S. insoweit eine Zäsur bildet.
3. Der Strafausspruch kann dagegen keinen Bestand haben.
a) Hinsichtlich des Totschlagsversuchs ist ausgeführt, ein minder schwerer Fall (§ 213 StGB) liege nicht vor. Ein Anlaß, der den in § 213 StGB genannten Umständen auch nur annähernd vergleichbar sei, sei nicht ersichtlich. S. habe dem Angeklagten „keinerlei Anlaß” zur Tat gegeben, der Strafrahmen sei jedoch wegen Versuchs gemäß §§ 23, 49 StGB zu mildern.
Dabei geht die Strafkammer von einem unzutreffenden Ansatz aus, da bei der Frage, ob ein sonstiger minder schwerer Fall im Sinne von § 213 StGB, zweite Alternative, vorliegt, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auf die Vergleichbarkeit mit den Fällen einer Provokation abzustellen ist. Entscheidend hierfür ist vielmehr, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, daß die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten ist (BGH, Beschluß vom 21. Dezember 1992 – 5 StR 645/92 –; NStZ 1985, 310 m.w.N.). In diesem Zusammenhang können auch die Vorgeschichte der Tat und die gesamten Beziehungen zwischen den Beteiligten von Bedeutung sein (Eser in Schönke/Schröder StGB, 26. Aufl. § 213 Rdn. 13 m.w.N.). Bereits bei Vorliegen eines „vertypten Milderungsgrundes” (hier: Versuch) kann die Annahme eines minder schweren Falles in Betracht kommen (st. Rspr., vgl. die Nachw. bei Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl. § 50 Rdn. 2).
b) Nach diesen Grundsätzen hätte die Strafkammer bei der Prüfung des minder schweren Falles die dazu aufgezeigten Besonderheiten der Vorgeschichte der Tat in die Erörterung einbeziehen müssen. Die Strafkammer sieht zwar die finanzielle und familiäre Lage des Angeklagten als wesentlich zu Gunsten des Angeklagten sprechenden Gesichtspunkt an, erörtert diesen Umstand aber nicht – wie geboten – bereits bei der Prüfung des Strafrahmens sondern erst bei der Strafzumessung innerhalb des bereits gefundenen Strafrahmens. Schließlich hat S. selbst, für das Opfer eines Tötungsversuchs ungewöhnlich, „ein gewisses Verständnis” für die Gesamtsituation des Angeklagten gezeigt.
c) Allerdings gebietet der hohe Rang des durch § 212 StGB geschützten Rechtsguts die Schwelle des § 213 StGB – auch nach der Strafrahmenverschärfung durch das 6. StrRG – nicht zu niedrig anzusetzen (Tröndle/Fischer aaO § 213 Rdn. 13 m.w.N.). Gleichwohl kann der Senat unter den hier gegebenen Umständen nicht ausschließen, daß es sich im Ergebnis zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt hätte, wenn die Strafkammer die genannten Gesichtspunkte schon bei der Strafrahmenbestimmung erwogen hätte.
d) Die überwiegend auf dieselben Erwägungen wie die Strafe wegen versuchten Totschlags gestützten Einzelstrafen wegen der gefährlichen Körperverletzungen zum Nachteil der Ehefrau können schon im Hinblick auf den engen inneren Zusammenhang des gesamten Tatgeschehens keinen Bestand haben.
Unterschriften
Schäfer, Nack, Wahl, Schluckebier, Kolz
Fundstellen
Haufe-Index 706765 |
NStZ-RR 2002, 140 |
StV 2003, 72 |