Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Hinweispflicht, wenn Berufungsgericht in einem entscheidungserheblichen Punkt der Berurteilung der Vorinstanz nicht folgen will. Hinweispflicht erstreckt sich auch auf von Amts wegen zu berücksichtigende Punkte. Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs
Leitsatz (amtlich)
Zur Notwendigkeit eines rechtzeitigen Hinweises auf das Fehlen einer Prozessvoraussetzung (hier: ordnungsgemäße Vertretung einer Partei) bei von der Vorinstanz abweichender Beurteilung der Rechtslage durch das Rechtsmittelgericht.
Die Hinweispflicht entfällt grundsätzlich auch dann nicht, wenn sich aus einem Vorprozess eine bestimmte Rechtsauffassung des Rechtsmittelgerichts erschließen lässt.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; BGB § 1795 Abs. 1 Nrn. 3, 1, § 1908i Abs. 1; ZPO § 139 Abs. 3
Verfahrensgang
OLG Celle (Urteil vom 29.12.2004; Aktenzeichen 3 U 246/04) |
LG Lüneburg (Entscheidung vom 17.06.2004; Aktenzeichen 4 O 53/04) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des OLG Celle vom 29.12.2004 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gem. § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 76.693,78 EUR
Gründe
[1]I. 1. Die Klägerin ist die Schwiegermutter der Beklagten. Der Ehemann der Beklagten ist der Sohn der Klägerin und seit Juni 2001 - u.a. für den Bereich der Vermögenssorge - auch ihr Betreuer. Im Jahre 1989 gewährte die Klägerin der Beklagten und ihrem Ehemann ein Darlehen über 150.000 DM. Im Mai 2000 kündigte sie das Darlehen. Die Klage auf Rückzahlung der Darlehensvaluta wurde von demselben Senat des Berufungsgerichts, dessen Entscheidung die Klägerin im vorliegenden Beschwerdeverfahren angreift, mangels Fälligkeit des Rückzahlungsanspruchs abgewiesen. Nach einem Hinweis des Berichterstatters des Berufungsgerichts auf den Ausschluss der Vertretungsmacht des Betreuers wegen einer möglichen Interessenkollision hatte das zuständige Vormundschaftsgericht für die Klägerin noch vor der Entscheidung des Berufungsgerichts einen Ergänzungsbetreuer bestellt.
[2]2. Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin, zunächst erneut vertreten durch ihren Sohn als Betreuer, wiederum Rückzahlung des Darlehens verlangt. Sie hat im Verfahren vor dem LG einen rechtlichen Hinweis für den Fall erbeten, dass Bedenken gegen ihre ordnungsgemäße Vertretung im Prozess bestünden, um ggf. einen Ergänzungsbetreuer bestellen lassen zu können. Das LG hat die Klage als zulässig behandelt und ihr stattgegeben. In der Entscheidung wird näher ausgeführt, es sei nicht von einer Interessenkollision derart auszugehen, die den Ehemann der Beklagten von der Vertretung seiner Mutter ausschließen würde. Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Betreuungsakten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Im Hinblick auf die Rechtsausführungen des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, das Verfahren auszusetzen, um einen Ergänzungsbetreuer bestellen zu lassen. Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Berufungsgericht das Urteil des LG geändert und die Klage als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei im vorliegenden Verfahren von Anfang an gem. § 1908i Abs. 1 i.V.m. § 1795 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 1 BGB nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Der Sohn der Klägerin sei als deren Betreuer und Ehemann der Beklagten gehindert, einen Rechtsstreit zwischen diesen Personen zu führen. Ein Grund für die Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Bestellung eines Ergänzungsbetreuers liege nicht vor. Den Parteien sei die Rechtsauffassung des Senats aus dem Vorprozess bekannt gewesen, in dem auf dessen Anregung hin ein Betreuer für die Prozessführung und die ordnungsgemäße Kündigung des Darlehens bestellt worden sei. Unter diesen Umständen sei ein rechtlicher Hinweis entbehrlich gewesen, zumal sich dem Betreuer der Klägerin und insb. ihrer Prozessbevollmächtigten der hier ohne Zweifel vorliegende Interessenkonflikt habe aufdrängen müssen. Dass das LG die Klage für zulässig gehalten habe, ändere daran nichts.
[3]II. Die zulässige Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Zu Recht rügt die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, indem es einen rechtzeitigen Hinweis auf ihre nicht ordnungsgemäße Vertretung im Rechtsstreit unterlassen hat.
[4]1. Gerichtliche Hinweispflichten dienen der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör (BVerfG v. 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188 [189 f.]). Diese in Art. 103 Abs. 1 GG normierte Gewährleistung stellt eine Ausprägung des Rechtsstaatsgedankens für das gerichtliche Verfahren dar (BVerfG v. 7.10.1980 - 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79, BVerfGE 55, 72 [93 f.] = MDR 1981, 290; v. 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95, NJW 1996, 3202). Rechtliche Hinweise müssen danach unter Berücksichtigung der Parteien in ihrer konkreten Situation so erteilt werden, dass es diesen auch tatsächlich möglich ist, vor einer Entscheidung zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können, sie also nicht gehindert werden, rechtzeitig ihren Sachvortrag zu ergänzen (BVerfG v. 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188 [190]; v. 19.5.1992 - 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133 [144]; Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 139 Rz. 14). Dem Gewährleistungsgehalt von Art. 103 Abs. 1 GG entnimmt der BGH in ständiger Rechtsprechung daher, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält (BGH, Urt. v. 27.4.1994 - XII ZR 16/93, MDR 1994, 684 = VersR 1994, 1351; v. 16.5.2002 - VII ZR 197/01, BGHReport 2002, 1009 = MDR 2002, 1139 = NJW-RR 2002, 1436 unter II 1; Urt. v. 15.1.1981 - VII ZR 147/80, NJW 1981, 1378, unter 2c und 3). Das gilt auch für von Amts wegen zu berücksichtigende Punkte, für die § 139 Abs. 3 ZPO ausdrücklich eine Hinweispflicht vorsieht. In den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen auch Bedenken gegen die ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung einer Partei im Prozess (OLG Schleswig SchlHA 1978, 108).
[5]2. Da das LG im vorliegenden Fall gegen die Zulässigkeit der Klage keine Bedenken hatte, durfte die Klägerin darauf vertrauen, dass sie von der gegenteiligen und entscheidungserheblichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts durch einen Hinweis gem. § 139 Abs. 3 ZPO rechtzeitig unterrichtet werden würde. Das gilt umso mehr, als sie selbst schon im Verfahren vor dem LG um einen rechtlichen Hinweis für den Fall gebeten hatte, dass Bedenken gegen ihre ordnungsgemäße Vertretung bestünden. Zu Unrecht vertritt das Berufungsgericht die Auffassung, die Klägerin sei wegen der auf Anregung des Senats erfolgten Bestellung eines Ergänzungsbetreuers im Vorprozess bereits hinreichend über die Rechtsauffassung des Senats unterrichtet gewesen. Zweifelhaft ist schon, ob die aus Anlass eines früheren Verfahrens bekannt gewordene Rechtsauffassung eines Gerichts generell geeignet sein kann, einen rechtlichen Hinweis in einem weiteren Verfahren, wenn auch mit identischen Parteirollen und vergleichbarem Streitgegenstand, entbehrlich zu machen. Denn die Auffassung des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers kann sich geändert, der Spruchkörper kann in seiner personellen Zusammensetzung Änderungen erfahren haben. Jedenfalls musste die Klägerin allein dem Umstand, dass hier im Vorprozess der Berichterstatter des Berufungssenats die Akten dem zuständigen Vormundschaftsgericht mit der Anfrage zugeleitet hatte, ob nicht im Hinblick auf eine mögliche Interessenkollision die Bestellung eines Ergänzungsbetreuers angezeigt sei, nicht entnehmen, dass sich das Berufungsgericht in dieser - danach nicht mehr entscheidungserheblich gewordenen - Frage auch für einen zukünftigen Rechtsstreit bereits endgültig festgelegt hatte.
[6]War demgemäß ein rechtlicher Hinweis des Berufungsgerichts geboten, musste ihn das Berufungsgericht so rechtzeitig erteilen, dass der Klägerin Gelegenheit blieb, der Rechtsauffassung des Gerichts ggf. Rechnung zu tragen. Dazu gehörte im Falle eines - hier in Rede stehenden - Vertretungsmangels nicht nur die Gelegenheit zu ergänzendem rechtlichen Vortrag, sondern auch die Heilung des Vertretungsmangels durch Bestellung eines Ergänzungsbetreuers. Der in der mündlichen Verhandlung vor der Verkündung einer Entscheidung erteilte Hinweis ist deshalb nicht mehr rechtzeitig erfolgt. Das Berufungsgericht hat auch keine geeigneten verfahrenslenkenden Maßnahmen - etwa die Bestimmung eines neuen Termins - ergriffen, um diesen Mangel auszugleichen. Sein Verfahren hat daher den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Fundstellen
Haufe-Index 1508414 |
BGHR 2006, 991 |
FamRZ 2006, 942 |
NJW-RR 2006, 937 |
JurBüro 2006, 502 |
AnwBl 2006, 199 |
BtPrax 2007, 169 |
MDR 2006, 1250 |
VersR 2007, 225 |
PA 2006, 117 |