Leitsatz (amtlich)

Stellen sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen, dürfen weder an den klagebegründenden Sachvortrag einer Partei noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 9

 

Verfahrensgang

OLG München (Urteil vom 18.06.2020; Aktenzeichen 6 U 75/20)

LG München I (Entscheidung vom 06.12.2019; Aktenzeichen 26 O 9657/17)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des OLG München vom 18.6.2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 30.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen behaupteter Fehlerhaftigkeit einer Hüftprothese geltend.

Rz. 2

Der Klägerin wurde 2007 rechtsseitig eine Durom-Oberflächenersatzprothese, deren Herstellerin die Beklagte ist, implantiert. Ab 2014 ließ sie regelmäßig Blutuntersuchungen zur Ermittlung der Chrom- und Kobaltwerte durchführen. Sie ist der Auffassung, die Prothese weise einen Produktfehler auf, weil sie zu einem ausgeprägten Metallabrieb führe; die zu erwartende Abriebmenge werde bei dem Produkt der Beklagten deutlich überschritten. Es müsse schon vor Ablauf der durchschnittlichen 15 bis 20-jährigen Standzeit einer Hüftendoprothese von der Notwendigkeit einer Revisionsoperation mit Prothesenwechsel ausgegangen werden. Die Klägerin hat daher die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für (künftige) materielle und immaterielle Schäden beantragt.

Rz. 3

Das LG hat die Klage nach Einholung eines toxikologischen Gutachtens der Sachverständigen F. abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das OLG zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Rz. 4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Rz. 5

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Hüftprothese könne nicht als fehlerhaft i.S.v. § 3 ProdHaftG angesehen werden. Das LG sei auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen F. zu dem Schluss gekommen, dass die im Serum der Klägerin nachgewiesenen Metallbelastungen für Chrom und Kobalt unterhalb eines Referenzwertes für Endoprothesenträger lägen. Auch eine Metallose, die auf ungewöhnlich hohen Metallabrieb zurückgeführt werden könne, habe bei der Klägerin nicht festgestellt werden können. Dem Einwand der Klägerin in der Berufung, das Gericht habe weiteren Beweis durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens erheben müssen, da sich aus dem von der Klägerin mit Schriftsatz vom 28.10.2019 eingereichten Attest des R. ergebe, dass "typische Symptome eines Pseudotumors" bestünden, folge das Berufungsgericht nicht. Dass sich bei der Klägerin lokale Gewebeneubildungen als Reaktion auf ungewöhnlich hohe Metallpartikelbelastungen (Metallosen) gebildet hätten, sei schon nicht substantiiert behauptet worden. Auch das Attest des R. stelle lediglich fest, die Klägerin habe "immer wieder" rezidivierende typische Symptome eines Pseudotumors mit Spannungsgefühlen, ohne näher darzulegen, worauf sich diese Feststellungen gründeten und wie sich diese Symptome konkret darstellten. Da die Sachverständige F. angesichts der weit außerhalb des Belastungswerts liegenden Metallkonzentration im Serum der Klägerin zu der Beurteilung gekommen sei, dass es an der Prothese der Klägerin nicht zu einem erhöhten Metallabrieb gekommen sei, bestehe kein Grund für die Annahme einer Metallose. Dies habe die Klägerin, wie ausgeführt, auch nicht substantiiert behauptet, etwa unter Darstellung eines entsprechenden MRT-Untersuchungsergebnisses oder eines sonstigen belastbaren Befundes. Daher habe das LG ungeachtet der Frage, ob das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 28.10.2019 rechtzeitig gewesen sei, ein orthopädisches Sachverständigengutachten nicht einholen müssen.

Rz. 6

2. Mit diesen Ausführungen hat das OLG offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.

Rz. 7

a) Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 19, 32, 36; 49, 325, 328; 55, 1, 6; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f.). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BGH, Beschl. v. 29.5.2018 - VI ZR 370/17 VersR 2018, 1001 Rz. 8; BVerfGE 60, 1, 5; 65, 227, 234; 84, 188, 190; 86, 133, 144 ff.; BVerfG NJW 2017, 3218 Rz. 47). Dabei darf das Gericht die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist (BGH v. 7.7.2020 - VI ZR 212/19, BeckRS 2020, 17823 Rz. 10; v. 2.7.2019 - VI ZR 42/18, VersR 2019, 1385 Rz. 5 m.w.N.).

Rz. 8

b) Im Arzthaftungsprozess dürfen an die Substantiierungspflicht des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden, weil vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und er nicht verpflichtet ist, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen (st. Senatsrechtsprechung, vgl. nur BGH, Beschl. v. 12.3.2019 - VI ZR 278/18 VersR 2019, 1450 Rz. 8 m.w.N.). Dies gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Insbesondere ist die Partei berechtigt, ihre Einwendungen gegen das Gutachten zunächst ohne sachverständige Hilfe vorzubringen (BGH, Urt. v. 8.6.2004 - VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 253, juris Rz. 27 m.w.N.). Da diese Grundsätze auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses in Fallgestaltungen Anwendung finden, in denen ein Erfolg versprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen betrifft und besondere Sachkunde erfordert (BGH, Urt. v. 18.10.2005 - VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335, juris Rz. 15), gelten sie auch, wenn sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen stellen. Hat eine Partei nur geringe Sachkunde, dürfen somit weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden (BGH, Urt. v. 18.10.2005 - VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335, juris Rz. 15; BGH, Urt. v. 19.2.2003 - IV ZR 321/02 NJW 2003, 1400, juris Rz. 10). Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken (BGH, Urt. v. 19.2.2003 - IV ZR 321/02 NJW 2003, 1400, juris Rz. 10).

Rz. 9

c) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht hier offensichtlich verkannt, indem es den Vortrag der Klägerin zum Vorliegen eines Pseudotumors als unsubstantiiert erachtet hat.

Rz. 10

aa) Dem vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Gutachten der Sachverständigen F. zufolge sind Zeichen einer Metallose lokale Gewebereaktionen und -neubildungen wie z.B. solide Zellmassen und Pseudotumore (Gutachten S. 2, 6, 7). Bei der Klägerin lägen - so das Gutachten - Zeichen einer derartigen lokalen Gewebeneubildung nicht vor und daher könne eine Metallose "alleinig aufgrund der gemessenen Metall-Serumwerte toxikologisch nicht bestätigt werden" (S. 2, 7).

Rz. 11

Auf dieses Gutachten hin hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28.10.2019 das ärztliche Attest des R. vorgelegt, wonach die Klägerin "immer wieder rezidivierende typische Symptome eines Pseudotumors mit Spannungsgefühlen" habe. Hierzu hat die Klägerin, wie im Berufungsurteil festgestellt, vorgetragen, dass es möglich sei, dass der Körper Metalldepots bilde, die nicht in Blutuntersuchungen zu erkennen seien. Unter Verweis auf die laut ärztlichem Attest bestehenden typischen Symptome eines Pseudotumors hat sie in einem weiteren Schriftsatz geltend gemacht, dass es unzulässig sei, bezüglich etwaiger orthopädischer Fragestellungen (ob ein Pseudotumor vorliege oder nicht) auf ein toxikologisches Gutachten abzustellen, weshalb Beweis durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens erhoben werden müsse. Damit hat die Klägerin geltend gemacht, dass bei ihr entgegen dem Gutachten der Sachverständigen F. durchaus Anzeichen für eine Metallose in Form von Pseudotumoren vorlägen, auch wenn die Sachverständige diese aus toxikologischer Sicht nicht habe bestätigen können.

Rz. 12

bb) Gemessen an den Anforderungen, die an den Vortrag der Klägerin zu medizinischen Vorgängen gestellt werden dürfen, war dieser Vortrag hinreichend substantiiert und verpflichtete das Gericht zur weiteren Sachaufklärung dazu, ob bei der Klägerin ein Pseudotumor vorliegt. Dies durfte nicht, wie geschehen, mit der Begründung verweigert werden, dass die Klägerin schon nicht substantiiert - etwa unter Darstellung eines entsprechenden MRT-Untersuchungsergebnisses oder eines sonstigen belastbaren Befundes - behauptet habe, dass sich bei ihr als Reaktion auf eine Metallose lokales Gewebe neu gebildet habe, und dass das Attest des R. nicht näher darlege, worauf sich seine Feststellungen gründeten und wie sich die dort erwähnten Symptome des Pseudotumors konkret darstellten.

Rz. 13

cc) Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass nach dem ärztlichen Bericht des K. in einer MRT-Untersuchung Pseudotumore bei der Klägerin nicht festgestellt werden konnten, übergeht es, dass sich dieser Bericht auf eine MRT-Untersuchung aus dem Oktober 2014 stützt, die das aktuelle Vorliegen eines Pseudotumors nicht ausschließen kann.

Rz. 14

d) Die vom Berufungsgericht offen gelassene Frage der Rechtzeitigkeit des Vorbringens der Klägerin im Schriftsatz vom 28.10.2019 führt schon deshalb zu keiner anderen Entscheidung, da dieses Vorbringen - ungeachtet der Frage, ob dies zulässig gewesen wäre - weder vom LG noch vom Berufungsgericht als verspätet zurückgewiesen worden ist.

Rz. 15

3. Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich ggf. mit dem weiteren Vorbringen der Parteien im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14413476

NJW 2021, 10

NJW 2021, 1398

IBR 2021, 333

ArztR 2021, 215

JZ 2021, 279

MDR 2021, 678

MedR 2021, 903

MedR 2024, 241

VersR 2021, 1261

PharmaR 2021, 353

MPJ 2021, 325

MPJ 2023, 222

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge