Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 03.07.2009) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 3. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben,
- soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe und die Adhäsionsentscheidung.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es zu Gunsten einer der Geschädigten eine Adhäsionsentscheidung getroffen.
Rz. 2
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 3
Ohne Erfolg wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung wegen Vergewaltigung im Fall II. 1 der Urteilsgründe.
Rz. 4
1. Die insoweit erhobenen Verfahrensrügen greifen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 21. Januar 2010 nicht durch. Soweit der Angeklagte die Verletzung von § 261 StPO darin sieht, dass sich das Landgericht in den Urteilsgründen nicht mit dem Inhalt des in der Hauptverhandlung verlesenen Schreibens der Vertreterin der früheren Nebenklägerin P. vom 1. September 2008 auseinandergesetzt habe, bemerkt der Senat ergänzend:
Rz. 5
Zwar ist der Tatrichter zur erschöpfenden Würdigung der Beweise verpflichtet. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Gericht Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zugunsten oder zu ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Erwägungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29, 18, 20; BGH, Beschluss vom 18. August 1987 – 1 StR 366/87, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 7). Eine Verletzung von § 261 StPO kommt daher grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Tatrichter den Inhalt einer Urkunde, die durch Verlesung zum Inbegriff der Hauptverhandlung geworden ist, bei seiner Beweiswürdigung nicht berücksichtigt hat, obwohl deren Bedeutsamkeit auf der Hand lag (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 13. Februar 2008 – 3 StR 481/07, NStZ 2008, 475). Dem bereits mehrere Monate vor Beginn der Hauptverhandlung zu den Sachakten gelangten und allen Verfahrensbeteiligten bekannten Schriftsatz der ehemaligen Nebenklägervertreterin kann jedoch im vorliegenden Fall durch den Gang der Hauptverhandlung, insbesondere durch die Vernehmung der Nebenklägerin selbst, jegliche erörterungsbedürftige Bedeutung genommen worden sein, zumal das Landgericht in deren Aussage „deutliches Entlastungsstreben” erkannt hat.
Rz. 6
2. Auch die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der Sachrüge hat insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 7
Soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Geschädigten E. verurteilt wurde, hat seine Revision mit der Rüge der Verletzung von § 247 Satz 4 StPO Erfolg.
Rz. 8
1. Der Senat schließt sich dem Generalbundesanwalt an, der in seiner Antragsschrift vom 21. Januar 2010 insoweit u.a. ausgeführt hat:
„Das Landgericht hat – wie die Revision richtig und vollständig vorträgt – am zweiten Verhandlungstag, dem 27. Januar 2009, für die Dauer der Vernehmung der Geschädigten E. gemäß § 247 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal angeordnet (RB S. 21). Die Vernehmung der Geschädigten E., die etwa drei Stunden dauerte, wurde an diesem Sitzungstag nicht abgeschlossen (RB S. 23). Am nächsten Verhandlungstag, dem 30. Januar 2009, hat das Landgericht neun andere Zeugen in Anwesenheit des Angeklagten vernommen (RB S. 53-59). Am vierten Verhandlungstag, dem 9. Februar 2009, hat es nach Vernehmung eines weiteren Zeugen – und nunmehr wiederum unter Entfernung des Angeklagten – die Vernehmung der Geschädigten fortgesetzt und beendet (RB S. 79-81). Erst danach unterrichtete der Vorsitzende den Angeklagten über den Inhalt der von der Geschädigten E. in beiden Vernehmungen gemachten Bekundungen (RB S. 81).
Dieses Verfahren verstößt – wie die Revision zu Recht rügt – gegen die Vorschrift des § 247 Satz 4 StPO. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wiederum anwesend ist, vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die durch § 247 StPO ermöglichte Verhandlung ohne den Angeklagten und seine dadurch behinderte Verteidigung sind, soweit unvermeidbar, hinzunehmen in Verbindung mit seiner Unterrichtung über das in seiner Abwesenheit Geschehene bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Damit soll er weitgehend so gestellt werden, wie er ohne Zwangsentfernung gestanden hätte (vgl. BGHSt 3, 384, 385; BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 2). Auch wenn die während der Entfernung des Angeklagten durchgeführte Zeugenvernehmung noch nicht abgeschlossen, sondern nur unterbrochen war, muss der Angeklagte von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Nur so ist sichergestellt, dass der Informationsstand des Angeklagten im Wesentlichen dem der anderen Prozessbeteiligten entspricht und er seine Verteidigung, etwa durch Fragen an weitere Zeugen, sachgerecht auszuüben vermag (st. Rspr.; vgl. BGHSt 38, 260; Senat NStZ-RR 2005, 259; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 247 Rdn. 15).
Vor diesem Hintergrund hätte am 3. Verhandlungstag die weitere Beweisaufnahme erst fortgesetzt werden dürfen, nachdem der jetzt wieder zugelassene Angeklagte vom wesentlichen Inhalt der (bisherigen) Aussage der Geschädigten E. unterrichtet worden war. Dass eine solche unterblieben ist, belegt die fehlende Eintragung im Sitzungsprotokoll. Denn die Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten, die nach § 273 Abs. 1 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll zu beurkunden sind (vgl. BGHSt 1, 346, 350; Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 17). Für eine etwaige Berichtigung des Protokolls bestand nach der dienstlichen Stellungnahme der Kammervorsitzenden vom 04. November 2009 (Bd. VIII, Bl. 12 d.A.) insoweit keine Veranlassung”.
Rz. 9
Auf dem gerügten Verfahrensverstoß kann das Urteil hinsichtlich der Tat zum Nachteil der Geschädigten E. auch beruhen.
Rz. 10
Da sich für den Angeklagten aus § 240 Abs. 1 StPO kein Anspruch auf Befragung unmittelbar im Anschluss an einen bestimmten Teil einer Zeugenaussage ergibt, verlangt § 247 Satz 4 StPO regelmäßig auch keine abschnittsweise Unterrichtung (BGH, Beschluss vom 11. Juni 2002 – 3 StR 484/01, BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 9). Jedoch wurde dem Angeklagten im vorliegenden Fall die Möglichkeit genommen, den nach der Vernehmung der Geschädigten und vor seiner Unterrichtung über deren (Teil-)Aussage vernommenen weiteren Zeugen Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen, wenn Widersprüche zu den Angaben der Geschädigten aufgetreten waren. Dies betrifft die Angaben der Zeugen W., H. und L., die das Landgericht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten herangezogen hat, ebenso wie die der Zeugen Ha., Sch., S. und B., auf die es sich zur Widerlegung der bestreitenden Einlassung des Angeklagten gestützt hat.
Rz. 11
2. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils in Fall II. 2. Die Teilaufhebung des Urteils zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich.
Unterschriften
Tepperwien, Solin-Stojanović, Ernemann, Franke, Mutzbauer
Fundstellen
Haufe-Index 2420038 |
NStZ 2010, 465 |
NStZ-RR 2013, 102 |
StV 2010, 469 |
StraFo 2010, 248 |