Verfahrensgang

LG Hanau (Entscheidung vom 27.07.2023; Aktenzeichen 2 KLs - 2635 Js 2430/23)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten I.    wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 27. Juli 2023, auch soweit es den Mitangeklagten S.    betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe

Rz. 1

Das Landgericht ‒ Jugendkammer ‒ hat den Angeklagten I.    wegen „gemeinschaftlich begangener“ besonders schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, wovon es in einem Fall beim Versuch blieb, und wegen eines weiteren Falls der besonders schweren räuberischen Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Den nicht revidierenden Mitangeklagten S.     hat es wegen „gemeinschaftlich begangener“ besonders schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, wovon es in einem Fall beim Versuch blieb, unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Es hat zudem gegen beide Angeklagte, teilweise gesamtschuldnerisch, die „Einziehung von Wertersatz“ angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten I.    führt - auch zugunsten des nicht revidierenden Mitangeklagten S.      - zur Aufhebung des Urteils und zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 206a Abs. 1 StPO.

Rz. 2

1. Es besteht ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis, weil es an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.

Rz. 3

a) Der Eröffnungsbeschluss vom 10. Mai 2023, den lediglich zwei statt nach § 199 Abs. 1 StPO, § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG, § 33b Abs. 1 und 7, § 33a Abs. 2, § 107 JGG richtig drei zur Mitwirkung berufene Berufsrichter unterschrieben haben, ist mangels einer Entscheidung in der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Besetzung unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 ‒ 2 StR 45/14, BGHSt 60, 248, 250).

Rz. 4

Zwar ist die Unterzeichnung eines Eröffnungsbeschlusses durch die erlassenden Richter als solche keine Wirksamkeitsvoraussetzung (BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2013 ‒ 3 StR 167/13, NStZ 2014, 400 f. mwN; vom 14. Juli 2016 ‒ 2 StR 514/15, NStZ 2017, 55, 56; vom 21. Oktober 2020 ‒ 4 StR 290/20, NStZ 2021, 179, 180; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, NStZ-RR 2023, 253). Vielmehr kann auch anderweit nachgewiesen werden, dass der Beschluss tatsächlich von allen hierzu berufenen Richtern gefasst worden ist. Das setzt jedoch eine mündliche Beschlussfassung oder eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung voraus (BGH, Beschlüsse vom 13. März 2014 ‒ 2 StR 516/13, juris Rn. 3; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, aaO).

Rz. 5

Eine Beschlussfassung durch alle hierzu berufenen Richter lässt sich nicht feststellen. Die seinerzeit der Jugendkammer als weiteres berufsrichterliches Mitglied zugewiesene Richterin am Landgericht, die den Eröffnungsbeschluss nicht unterschrieben hat, hat in ihrer dienstlichen Erklärung vom 18. März 2024 bekundet, der Eröffnungsbeschluss sei von ihr weder vorbereitet worden noch habe er ihr vorgelegen. Eine eigene Mitwirkung an der Beschlussfassung sei ihr nicht erinnerlich. Die beiden anderen berufsrichterlichen Mitglieder der Jugendkammer, die den Eröffnungsbeschluss unterzeichnet haben, haben jeweils dienstlich erklärt, keine Erinnerung an das Zustandekommen des Beschlusses vom 10. Mai 2023 zu haben. Eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens konnte die Jugendkammer, die in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern verhandelt hat, in der Hauptverhandlung nicht nachholen (BGH, Urteil vom 25. Februar 2010 ‒ 4 StR 596/09, juris Rn. 11 f.; Beschluss vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225, 226).

Rz. 6

b) Das Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses stellt ein in der Revisionsinstanz nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis dar, das die Einstellung des gerichtlichen Verfahrens, gemäß § 467 Abs. 1 StPO auf Kosten der Staatskasse, zur Folge hat (BGH, Urteil vom 14. Mai 1957 ‒ 5 StR 145/57, BGHSt 10, 278, 279; Beschlüsse vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225, 226; vom 18. Juli 2019 ‒ 4 StR 310/19, juris Rn. 3). Zur Klarstellung hebt der Senat das angegriffene Urteil mit den Feststellungen auf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, aaO; vom 13. März 2014 ‒ 2 StR 516/13, juris Rn. 4; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, NStZ-RR 2023, 253, 254).

Rz. 7

2. Die Einstellung des Verfahrens und die Aufhebung des Urteils sind gemäß § 357 StPO auf den Mitangeklagten S.    zu erstrecken. Diese Vorschrift ist auch dann anzuwenden, wenn ein Urteil wegen Fehlens einer von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensvorschrift aufgehoben wird (BGH, Beschlüsse vom 16. September 1971 ‒ 1 StR 284/71, BGHSt 24, 208, 210 f.; vom 11. Januar 2011 ‒ 3 StR 484/10, NStZ-RR 2011, 150, 151; vom 14. Juli 2016 ‒ 2 StR 514/15, NStZ 2017, 55, 56; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 357 Rn. 2 und 7).

Rz. 8

3. Die Einstellung des Verfahrens zieht nicht die Aufhebung des Haftbefehls gegen den Angeklagten I.    durch den Senat gemäß § 126 Abs. 3, § 120 Abs. 1 Satz 1 und 2 Var. 3 StPO nach sich. Sie hat ihrer sachlichen Bedeutung nach nur vorläufigen Charakter (BGH, Beschlüsse vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, juris Rn. 11; vom 18. Juli 2019 ‒ 4 StR 310/19, juris Rn. 5). Insoweit erforderliche richterliche Entscheidungen bleiben dem Tatrichter überlassen.

Rz. 9

4. Da keine das gesamte Verfahren endgültig abschließende Entscheidung im Sinne des § 2 Abs. 1 StrEG vorliegt, bedarf es derzeit auch keiner Entscheidung über eine etwaige Entschädigung für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 1994 ‒ 3 StR 457/93, NJW 1994, 2966; vom 29. September 2011 - 3 StR 280/11, juris Rn. 12; MüKo-StPO/Kunz, § 2 StrEG Rn. 22).

Menges     

Zeng     

Meyberg

Zimmermann     

Herold     

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16325889

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