Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Arztes zur Einweisung eines Patienten ins Krankenhaus zur Befunderhebung. Anschlussdiagnostik. Differentialdiagnostische Anzeichen für coronare Herzerkrankung. Symptome, die auf Herzinfarkt hindeuten können
Leitsatz (amtlich)
Ein Arzt im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst kann bei differentialdiagnostischen Anzeichen für eine coronare Herzerkrankung (hier: einen akuten Herzinfarkt) zur Befunderhebung (Ausschlussdiagnostik) und damit zur Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus verpflichtet sein.
Normenkette
BGB § 823
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des OLG München vom 19.10.2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 597.670,58 EUR
Gründe
I.
[1] Der Beklagte untersuchte den damals 34 Jahre alten Kläger im Rahmen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes der kassenärztlichen Vereinigung am Mittwoch, den 6.3.1996, gegen 8.00 Uhr in dessen Wohnung. Der Kläger litt an Durchfall, Erbrechen, Schwindel und Übelkeit. Dem Beklagten wurde über Schmerzen im Brustbereich des Klägers berichtet. Die Ehefrau des Klägers wies den Beklagten darauf hin, dass in der Familie des Klägers eine Herzinfarktgefährdung bestehe. Eine Messung ergab bei bekanntem Hochdruck einen Blutdruck von 200/130. Der Beklagte verabreichte dem Kläger eine Tablette Gelonida sowie 5 mg Nifedipin. Der Kläger erbrach sich nach etwa 15 Minuten. Der Beklagte spritzte dem Kläger deshalb intramuskulär Dolantin. Er diagnostizierte beim Kläger, der während der Anwesenheit des Beklagten zweimal wegen Durchfalls und Erbrechens die Toilette aufsuchte, einen grippalen Infekt, eine Intercostalneuralgie und Diarrhoe. Die Frage des Beklagten, ob er ins Krankenhaus gehen wolle, verneinte der Kläger.
[2] Kurz vor 12.00 Uhr desselben Tages fand die Ehefrau den leblos auf dem Boden liegenden Kläger. Ein herbeigerufener anderer Notarzt führte beim Kläger, bei dem er einen Atem- und Kreislaufstillstand befundet hatte, erfolgreich Reanimationsmaßnahmen durch. Ein generalisierter hypoxischer Hirnschaden hinterließ jedoch bleibende Beeinträchtigungen. Im Krankenhaus stellten die Ärzte einen akuten Hinterwandinfarkt fest.
[3] Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die Möglichkeit eines Herzinfarkts abklären müssen. Dann wäre der Infarkt vermieden worden und der Hirnschaden nicht eingetreten oder deutlich geringer ausgefallen. Der Kläger verlangt vom Beklagten über den von dessen Haftpflichtversicherung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bezahlten Betrag von 60.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 122.710,05 EUR, Verdienstausfall für Vergangenheit und Zukunft bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung des Klägers für sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die aufgrund der fehlerhaften Behandlung entstanden seien.
[4] Die Klage hatte keinen Erfolg. Die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden. Das Berufungsurteil ist u.a. veröffentlicht in MedR 2007, 203. Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat dagegen form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.
II.
[5] Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg; sie führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
[6] 1. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
[7] a) Das Berufungsgericht durfte das Gutachten E. und das Privatgutachten N. nicht zur Grundlage seines Urteils machen. Diese Gutachten berücksichtigten Symptome, die der Kläger am 6.3.1996 nach seinem Prozessvortrag aufwies, nicht erkennbar in der erforderlichen Weise.
[8] Nach dem Inhalt des Beweisbeschlusses vom 12.4.2000 hatte der Sachverständige die Schilderungen der Ehefrau des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29.3.2000 zu berücksichtigen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass das kardiologisch-pneumologische Gutachten E./B. und der Privatsachverständige N. bei Erstellung ihrer Gutachten davon ausgegangen wären, der Kläger sei am Morgen des 6.3.1996 schweißgebadet gewesen und habe unter Schwindel gelitten, über starke Schmerzen im Nacken- und Brustbereich sowie darüber geklagt, dass er fast keine Luft bekomme. Sie berücksichtigen die Schwindelgefühle und die Atemnot des Klägers nicht in nachvollziehbarer Weise. Schließlich ist der Sachverständige B. im Ergänzungsgutachten vom 8.7.2004 trotz des Antrags des Klägers im Schriftsatz vom 13.5.2003 (Frage 49) nicht darauf eingegangen, ob die genannten Symptome in Übereinstimmung mit dem Gutachten D. typisch für einen Herzinfarkt sind.
[9] Dadurch, dass das Berufungsgericht diese Gutachten dennoch ausführlich selbst gewürdigt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt und die Auslassungen und die - in erster Instanz ausdrücklich gerügten - Widersprüche zu den Gutachten D. (vgl. BGH, Urt. v. 3.12.1996 - VI ZR 309/95, VersR 1997, 191, 192; v. 16.1.2001 - VI ZR 498/99, VersR 2001, 783, 784) nicht geklärt hat, hat es seinerseits den Kern des entscheidungserheblichen Klägervortrags nicht berücksichtigt (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 Alt. 1 ZPO) und damit den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fortgesetzt. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache (§ 544 Abs. 7 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben der Ehefrau des Klägers durch die Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre. Insbesondere kann die Kausalität der Behandlung für den Schaden des Klägers nach den derzeitigen Feststellungen nicht verneint werden. Hätte der Beklagte die differentialdiagnostische Möglichkeit eines akuten Herzinfarkts als naheliegend berücksichtigen müssen, hätte er sie entweder selbst ausschließen oder den Kläger umgehend in ein Krankenhaus einweisen müssen, damit die für einen Ausschluss erforderlichen Befunde erhoben worden wären. Dann wären möglicherweise der Eintritt eines Herz- und Kreislaufstillstands oder doch die Folge einer hypoxischen Schädigung bei der zu unterstellenden ordnungsgemäßen Behandlung vermieden worden (vgl. BGH BGHZ 159, 48, 56 f. m.w.N.).
[10] Seine Würdigung der Gutachten im zu entscheidenden Einzelfall wird das Berufungsgericht daher - ggf. nach weiterem Vortrag der Parteien - überprüfen und dabei auch die Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde berücksichtigen können, wonach bislang Feststellungen zu der Frage fehlten, ob die geklagten Schmerzen bewegungsabhängig waren oder nicht. Auch dem Vortrag, dass die Ehefrau des Klägers hierzu vor der Polizei von dauernden Schmerzen berichtet habe, die sich bei einer bestimmten Haltung des Klägers besserten, wird es nachgehen können. Eine grundlegende Verkennung der Beweislast ist in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich.
[11] 2. Das Berufungsurteil hat nicht aus einem anderen Grund Bestand (§ 561 ZPO). Entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung kann nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht davon ausgegangen werden, dass ein akuter Herzinfarkt des Klägers im Zeitpunkt des Arztbesuchs des Beklagten unwahrscheinlich oder äußerst unwahrscheinlich gewesen sei. Eine solche Wertung würde eine sachkundige Stellungnahme unter Berücksichtigung auch des Schweißausbruchs des Klägers, seiner Atemnot, der Schwindelgefühle sowie des Schmerzbildes voraussetzen, an der es bislang fehlt.
[12] 3. Ob darüber hinaus weitere Gründe für eine Zulassung der Revision gegeben sind, bedarf keiner abschließenden Erörterung.
[13] In der Revision könnte die gerichtliche Entscheidung, ob ein Arzt bei Symptomen, welche u.a. auch auf einen Herzinfarkt hindeuten können, diese mögliche Ursache ausschließen muss, lediglich darauf überprüft werden, ob der Tatrichter die dem Arzt obliegende Pflichtenstellung rechtlich zutreffend erfasst und die für die Beurteilung erforderlichen Umstände vollständig und richtig berücksichtigt hat. Die Entscheidung über die Verletzung einer berufsspezifischen Sorgfaltspflicht durch einen Arzt, ist im Übrigen in erster Linie eine Tatfrage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet (vgl. BGH, Urt. v. 29.11.1994 - VI ZR 189/93, VersR 1995, 659, 660; RGR-Kommentar/Nüßgens, BGB 12. Aufl., § 823 Anh. II Rz. 181; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 99 Rz. 6; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rz. 150 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rz. B 2).
[14] Das Berufungsgericht wird ferner seine Ansicht überprüfen können, der Kläger sei beweisbelastet dafür, dass der Hirnschaden durch einen dringlichen Rat des Beklagten, eine Abklärung im Krankenhaus zu suchen, habe verhindert werden können. Ist Primärschädigung der behauptete Schaden in seiner konkreten Ausprägung (vgl. BGH, Urt. v. 21.7.1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153, 1154) und damit hier der Herz- und Kreislaufstillstand, ist für die behaupteten Folgen des Stillstands das Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO ausreichend. Soweit des Berufungsgericht dem Kläger die Beweislast auferlegt dafür, dass die Schädigung in gleicher Weise bei pflichtgemäßem Verhalten des Beklagten erfolgt wäre, begegnet das rechtlichen Bedenken. In einem Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens muss der Arzt beweisen, dass der gleiche Schaden auch bei rechtmäßigem Vorgehen eingetreten wäre (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.1968 - VI ZR 115/67, VersR 1968, 558, 559; v. 15.3.2005 - VI ZR 313/03, VersR 2005, 836, 837; v. 5.4.2005 - VI ZR 216/03, VersR 2005, 942; BGH BGHZ 120, 281, 287).
[15] Ein mögliches Infarktrisiko des Klägers aus der Familienanamnese wird das Berufungsgericht nicht gegen die Ansicht der Sachverständigen verneinen können, ohne eigene Sachkunde darzutun.
[16] 4. Nach allem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 7 ZPO), das auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen