Leitsatz (amtlich)
Zu den anwaltlichen Organisationspflichten hinsichtlich der Kontrolle von Eingaben von Fristen in einen EDV-Kalender.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 18.07.2011; Aktenzeichen 5 U 57/11) |
LG Osnabrück (Urteil vom 09.03.2011; Aktenzeichen 2 O 120/10) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 5. Zivilsenats des OLG Oldenburg vom 18.7.2011 wird auf Kosten der Klägerin als unzulässig verworfen.
Beschwerdewert: 10.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer behaupteten fehlerhaften ärztlichen und pflegerischen Behandlung auf Schadensersatz in Anspruch. Das LG hat die Klage mit Urteil vom 9.3.2011, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 15.3.2011, abgewiesen. Die Klägerin hat fristgerecht Berufung gegen das Urteil eingelegt. Nach einem Hinweis des Berufungsgerichts vom 19.5.2011 hat sie die Berufung mit einem am 1.6.2011 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Zugleich hat sie fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt.
Rz. 2
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags trägt die Klägerin vor, ihr Prozessbevollmächtigter habe sich nach dem Absenden der Berufungsschrift die Handakte vorlegen lassen. Er habe auf einem gelben Merkzettel die Berufungsbegründungsfrist sowie die dazugehörige Vorfrist mit der Bitte um sofortige Eintragung notiert. Die Handakte mit dieser Weisung habe er einer Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten übergeben. Diese sei aufgrund einer schmerzhaften Sehnenscheidenentzündung sowie eines Streits mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten nicht so konzentriert gewesen wie gewohnt. Sie müsse beim Eintragen der Frist in die Maske des computergestützten Fristenkalenders des Prozessbevollmächtigten versehentlich "Abbrechen" statt "OK" angewählt haben. Daher sei die Frist nicht in den Fristenkalender eingetragen worden. In der Handakte habe die Mitarbeiterin dennoch ihr Namenskürzel hinter die Fristen gesetzt. Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrags hat die Klägerin eidesstattliche Versicherungen des Klägervertreters und seiner Mitarbeiterin vorgelegt.
Rz. 3
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das OLG den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen. Die Klägerin habe nicht hinreichend dargelegt, dass die Fristversäumnis ohne ein ihr zuzurechnendes Verschulden erfolgt sei. Der Vortrag der Klägerin vermöge ein Organisationsverschulden ihres Prozessbevollmächtigten nicht auszuschließen. Die Fristenkontrolle im Wege der elektronischen Datenverarbeitung verlange spezielle Kontrollmaßnahmen, die gewährleisteten, dass eine fehlerhafte Eingabe rechtzeitig erkannt werde. Die Klägerin habe derartige Maßnahmen ihres Prozessbevollmächtigten nicht dargetan. Mit solchen Maßnahmen wäre aber der Fehler seiner Mitarbeiterin aufgefallen.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist jedoch im Übrigen nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen, nicht erfüllt sind.
Rz. 5
1. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO) erfordert keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin weder in ihrem rechtlichen Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch in ihrem verfahrensrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BGH v. 5.11.2002 - VI ZB 40/02, NJW 2003, 437; v. 12.4.2011 - VI ZB 6/10, NJW 2011, 2051 Rz. 5 m.w.N.; v. 17.1.2012 - VI ZB 11/11, juris Rz. 6).
Rz. 6
2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde entspricht die angefochtene Entscheidung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfaltspflicht bei Fristsachen nicht überspannt.
Rz. 7
a) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Überlässt er die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft, hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden (vgl. BGH, Beschl. v. 5.2.2003 - VIII ZB 115/02, NJW 2003, 1815, 1816; v. 8.2.2010 - II ZB 10/09, MDR 2010, 533 f.).
Rz. 8
Die elektronische Kalenderführung eines Prozessbevollmächtigten darf nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als die eines herkömmlichen Fristenkalenders. Werden die Eingaben in den EDV-Kalender nicht durch Ausgabe der eingegebenen Einzelvorgänge über den Drucker oder durch Ausgabe eines Fehlerprotokolls durch das Programm kontrolliert, ist darin ein anwaltliches Organisationsverschulden zu sehen. Denn bei der Eingabe der Datensätze bestehen spezifische Fehlermöglichkeiten. Die Fertigung eines Kontrollausdrucks ist erforderlich, um nicht nur Datenverarbeitungsfehler des EDV-Programms, sondern auch Eingabefehler oder -versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig zu erkennen und zu beseitigen (vgl. BGH, Beschl. v. 23.3.1995 - VII ZB 3/95, NJW 1995, 1756, 1757; v. 20.2.1997 - IX ZB 111/96, NJW-RR 1997, 698; v. 12.10.1998 - II ZB 11/98, NJW 1999, 582, 583; v. 12.12.2005 - II ZB 33/04, NJW-RR 2006, 500 Rz. 4; v. 2.2.2010 - XI ZB 23/08 und 24/08, NJW 2010, 1363 Rz. 12; Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 70. Aufl., § 233 Rz. 126 "EDV", "Elektronischer Kalender"; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl., § 233 Rz. 16d, 44; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 233 Rz. 64; Musielak/Grandel, ZPO, 9. Aufl., § 233 Rz. 21; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 233 Rz. 23 "Fristenbehandlung"; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 233 Rz. 37 "Fristeneinhaltung" unter g bb).
Rz. 9
b) Die Anforderungen des Berufungsgerichts an die Sorgfaltspflichten eines Prozessbevollmächtigten stehen in Einklang mit diesen Grundsätzen. Nach den - auf den Vortrag der Klägerin gestützten - Feststellungen des Berufungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten eine organisatorische Anweisung bestand, Eingaben in den EDV-Kalender zu kontrollieren. Daher hat das Berufungsgericht zu Recht ein Organisationsverschulden angenommen. Dieses war auch für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächlich. Hätte die Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte einen Kontrollausdruck fertigen müssen, so wäre ihr nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die fehlende Fristeneintragung in den EDV-Kalender aufgefallen. Die Kontrolle ihres Handaktenvermerks durch den Klägervertreter war hingegen nicht geeignet, Eingabefehler oder -versäumnisse aufzudecken.
Rz. 10
c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kann die Klägerin sich nicht damit entlasten, dass ihr Prozessbevollmächtigter der Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten eine konkrete Anweisung zur Eintragung der Fristen erteilt habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kommt es zwar für den Ausschluss des einer Partei zuzurechnenden Verschuldens ihres Anwalts (§§ 85 Abs. 2, 233 ZPO) an der Fristversäumung auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen für die Fristwahrung in einer Anwaltskanzlei nicht mehr an, wenn der Rechtsanwalt einer Kanzleiangestellten, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte (vgl. BGH v. 15.4.2008 - VI ZB 29/07, juris Rz. 7; v. 13.4.2010 - VI ZB 65/08, MDR 2010, 899; v. 20.9.2011 - VI ZB 23/11, VersR 2011, 1544 Rz. 8; v. 17.1.2012 - VI ZB 11/11, juris Rz. 8; BGH, Beschl. v. 25.6.2009 - V ZB 191/08, NJW 2009, 3036 Rz. 6; Musielak/Grandel, ZPO, 9. Aufl., § 233 Rz. 25; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 233 Rz. 23 "Büropersonal und -organisation").
Rz. 11
Eine konkrete Einzelanweisung entlastet den Rechtsanwalt aber dann nicht von einer unzureichenden Büroorganisation, wenn diese die bestehende Organisation nicht außer Kraft setzt, sondern sich darin einfügt und nur einzelne Elemente ersetzt (vgl. BGH v. 12.1.2010 - VI ZB 64/09, NJW-RR 2010, 417 Rz. 7; BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 369; v. 25.6.2009 - V ZB 191/08, NJW 2009, 3036 Rz. 9; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 233 Rz. 75; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl., § 233 Rz. 43; BeckOK ZPO/Wendtland, § 233 Rz. 28 [Stand: 1.1.2012]). So hebt beispielsweise die Weisung, die fertiggestellte und unterschriebene Berufungsbegründungsschrift an das Gericht per Telefax zu übersenden, nicht die Notwendigkeit auf, für eine Kontrolle der Durchführung der Übermittlung zu sorgen (vgl. Senatsbeschluss v. 4.7.2006 - VI ZB 48/05, juris Rz. 5; BGH, Beschl. v. 14.5.2008 - XII ZB 34/07, NJW 2008, 2508 Rz. 12; v. 7.7.2010 - XII ZB 59/10, NJW-RR 2010, 1648 Rz. 15 ff.; v. 15.6.2011 - XII ZB 572/10, NJW 2011, 2367 Rz. 13; Musielak/Grandel, ZPO, 9. Aufl., § 233 Rz. 25; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 233 Rz. 23 "Büropersonal und -organisation"; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 233 Rz. 34 "Büroverschulden" unter e).
Rz. 12
Danach sind die Anforderungen der Rechtsprechung an die Führung eines EDV-Kalenders grundsätzlich auch zu beachten, wenn gemäß einer konkreten Einzelanweisung eine Eintragung in einen EDV-Kalender vorzunehmen ist. Im Streitfall musste der Prozessbevollmächtigte der Klägerin also auch bei der vorgetragenen Weisung, die Fristen sofort einzutragen, für eine Kontrolle der Dateneingabe in den EDV-Kalender sorgen. Die fehlenden Kontrollmaßnahmen, die sein Organisationsverschulden begründen, sind daher unabhängig von dem Vorliegen der vorgetragenen Einzelanweisung für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächlich geworden (vgl. auch BGH v. 17.1.2012 - VI ZB 11/11, juris Rz. 9). Das Berufungsgericht hat auch insoweit keinen entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin übergangen.
Rz. 13
d) Die angefochtene Entscheidung weicht nicht von dem von der Rechtsbeschwerde angeführten Beschluss des BGH vom 21.2.2011 (X ZR 111/10, juris) ab. Danach soll es zwar ausreichen, dass ein Rechtsanwalt nach der Versendung der Berufungsschrift in den Handakten die Berufungsbegründungsfrist und eine Vorfrist verfügt, die Akten der zuständigen Mitarbeiterin übergibt und diese mündlich anweist, die Fristen im Fristenkalender einzutragen; dem Rechtsanwalt soll kein Verschulden zur Last fallen, wenn es dann zu einer Fristversäumung infolge des Versagens der Mitarbeiterin aufgrund einer innerlich stark belastenden Ausnahmesituation kommt (juris Rz. 6). Der Beschluss vom 21.2.2011 ist jedoch nicht auf den Streitfall übertragbar, weil er sich nicht zu den anwaltlichen Organisationspflichten beim Führen eines EDV-Kalenders verhält. Auf die Anforderungen der Rechtsprechung an die Führung eines solchen Kalenders kam es dort nicht an. Die Angestellte hatte nicht einen Eingabefehler begangen, sondern, statt die Frist zu notieren, die Akte ohne Weiteres in die Ablage gegeben.
Fundstellen
Haufe-Index 2991504 |
EBE/BGH 2012, 181 |
FamRZ 2012, 1133 |
NJW-RR 2012, 1085 |
JurBüro 2012, 671 |
MDR 2012, 1057 |
VersR 2013, 1285 |
RENOpraxis 2012, 177 |
BRAK-Mitt. 2012, 156 |
Mitt. 2012, 425 |