Verfahrensgang
LG Arnsberg (Urteil vom 29.05.2019; Aktenzeichen 450 Js 1016/17 II 2 KLs 15/18) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 29. Mai 2019 wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- soweit der Angeklagte im Fall II. 2 Fall 11 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen und wegen Geiselnahme zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Seine hiergegen gerichtete Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
Rz. 2
1. Soweit der Angeklagte im Fall II. 2 Fall 11 der Urteilsgründe wegen Geiselnahme verurteilt worden ist, hält das angegriffene Urteil revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 3
a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen lieh der Angeklagte dem Zeugen S. im Frühjahr und Sommer 2016 insgesamt mindestens 10.000 Euro, die der Zeuge drei bis vier Monate später zuzüglich 3.000 Euro Zinsen zurückzahlen sollte. Am Morgen des für die Rückzahlung vorgesehenen Tages teilte S. dem Angeklagten mit, dass er das Geld habe, obgleich ihm tatsächlich nur 3.000 Euro zur Verfügung standen. Am Nachmittag desselben Tages erzählte er seinem Bruder, dem Zeugen Si., von seinen Schulden, dass er mit deren Rückzahlung in Verzug sei und 12.000 Euro benötige. Kurz nach 18 Uhr suchte S. den Angeklagten in seiner Wohnung auf, in der sich zu dieser Zeit unter anderem auch F. befand. Dort eröffnete er dem Angeklagten, dass er lediglich 3.000 Euro habe. Dieser wurde daraufhin wütend, schlug S. mit der flachen Hand ins Gesicht und drohte ihm an, dass er eine Strafe bekommen werde. Darüber hinaus sagte der Angeklagte wiederholt, dass „Leute kommen” und ihn „abholen” würden. Dabei schlug er ihn noch mehrmals. S. rief daraufhin den Zeugen Si. an. Dabei sprach auch F. kurz mit dem Zeugen und erklärte ihm, dass „die Lage ernst sei”, S. in etwas Schlimmes hineingeraten sei und der Zeuge das Geld auftreiben müsse, weil sein Bruder sonst „ein Problem habe”. S. teilte seinem Bruder sodann mit, dass er 12.000 Euro benötige und er ihn längere Zeit nicht mehr sehen werde, wenn er das Geld nicht auftreiben würde. Der Zeuge hatte, wie von dem Angeklagten beabsichtigt, aufgrund dieser Aussagen Angst um das Leben seines Bruders und begann bei Verwandten und Freunden den Betrag von 12.000 Euro zu sammeln. Einige Zeit später führte der Angeklagte den sich weigernden S. zu seinem Pkw, in dem bereits zwei unbekannte Personen saßen. S. nahm hinter dem Fahrer Platz und wurde von dem auf dem Beifahrersitz sitzenden Angeklagten angewiesen, die neben ihm sitzende Person nicht anzusehen. Nachdem der Angeklagte zwischenzeitlich wieder aus dem Fahrzeug ausgestiegen war, wurde S. zu einem Mehrfamilienhaus gefahren. Dort wurde er in den Keller verbracht und musste auf einer Hantelbank Platz nehmen, während eine der ihn begleitenden Personen die ganze Zeit hinter ihm saß. Währenddessen rief der Angeklagte den Zeugen Si. an, der ihm mitteilte, dass er das Geld beigebracht habe, aber eine Sicherheit haben wolle, dass sein Bruder zurückkomme. Beide handelten aus, dass S. erst freigelassen würde und der Angeklagte dann sein Geld erhalte. S. wurde in der Folge auf Anweisung des Angeklagten mit einem Taxi zu dem Zeugen Si. gefahren, der ihm 12.000 Euro übergab. Die Geldsumme brachte S. sodann mit demselben Taxi zu dem wartenden Angeklagten. Das Geschehen dauerte insgesamt drei bis vier Stunden.
Rz. 4
b) Diese Feststellungen belegen eine – von der Strafkammer ohne Bezeichnung der herangezogenen Tatbestandsvariante und ohne Subsumtion angenommene – Geiselnahme nicht.
Rz. 5
aa) Eine Geiselnahme nach § 239b Abs. 1 StGB begeht, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Nötigung ausnutzt. Dabei muss zwischen der Entführung oder Bemächtigung und der qualifizierten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang in der Weise bestehen, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Zwangslage nötigen will und die abgenötigte Handlung während der Dauer der Zwangslage vorgenommen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2017 – 1 StR 532/16, NStZ-RR 2017, 176; Urteil vom 20. September 2005 – 1 StR 86/05, NStZ 2006, 36, 37; weitere Nachweise bei Schluckebier in: SSW-StGB, 4. Aufl., § 239b Rn. 7). Ein solcher funktionaler Zusammenhang kann auch dann noch angenommen werden, wenn der Täter während der Bemächtigungslage einen Teilerfolg erreichen wollte, der aus seiner Sicht eine bedeutende eigenständige Vorstufe auf dem Weg zur Erreichung des Endzieles darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2017 – 1 StR 532/16, NStZ-RR 2017, 176, 177 mwN).
Rz. 6
bb) Diese tatbestandlichen Anforderungen füllen die von der Strafkammer getroffenen Feststellungen nicht aus. So lassen sie bereits nicht erkennen, ob schon in der Wohnung des Angeklagten eine den Tatbestand verwirklichende Bemächtigungslage in objektiver Hinsicht gegeben war. Zudem ist unklar, ab wann der Angeklagte die Absicht verfolgte, die Zeugen S. und/oder Si. in einer den Tatbestand erfüllenden Weise zu nötigen und ob er dabei davon ausgegangen ist, dass die abgenötigte Handlung während der Dauer der Zwangslage vorgenommen wird. Auch soweit eine bewusste Begründung von Herrschaftsgewalt über den Zeugen S. für den Zeitraum zwischen seiner Verbringung in den Pkw und der Freilassung aus dem Kellerraum festgestellt und belegt ist, ergeben die Urteilsgründe nicht, dass der Angeklagte (auch) hierbei (noch) davon ausging, ihn oder seinen Bruder unter Ausnutzung dieser Zwangslage durch Drohungen im Sinne des § 239b Abs. 1 StGB zu einer Handlung zu nötigen, die während der Zwangslage vorgenommen wird. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass die Geldbeschaffung durch die Zeugen S. und Si. erst nach der Freilassung des Zeugen S. und damit nicht während des Bestehens einer Bemächtigungslage erfolgte.
Rz. 7
Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
Rz. 8
2. Soweit der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen zu Einzelstrafen zwischen zwei Jahren und sechs Monaten und einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, weist das Urteil keinen ihn beschwerenden Rechtsfehler auf (§ 349 Abs. 2 StPO). Seine Rüge, das Landgericht habe bei der Ablehnung seines auf Inaugenscheinnahme (Abspielen) der Tonaufzeichnungen von neun Telefongesprächen gerichteten Antrags gegen § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 StPO verstoßen, ist bereits nicht zulässig erhoben, weil – wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat – die in Bezug genommenen Protokolle und Aktenbestandteile nicht vollzählig vorgelegt worden sind (§ 344 Abs. 2 StPO). Auch wird in Bezug auf die vier Gespräche, deren Niederschriften bereits Gegenstand des Urkundenbeweises waren (RB S. 7), nicht dargelegt, welche konkreten Tatsachen darüber hinaus durch die Inaugenscheinnahme bewiesen werden sollen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 1997 – 1 StR 168/97, NStZ 1997, 611; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 96 mit Fn. 4686).
Unterschriften
Sost-Scheible, Cierniak, Bender, Quentin, Bartel
Fundstellen
Haufe-Index 13702227 |
NStZ 2020, 667 |
NStZ-RR 2020, 5 |