Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 22. Juni 1999 mit den Feststellungen aufgehoben; von der Aufhebung ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Sachverhalt, die bestehen bleiben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten – nach Überleitung des Sicherungsverfahrens in das Strafverfahren (§ 416 StPO) – wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Trunkenheit im Verkehr sowie wegen schwerer Brandstiftung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und ferner wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 DM, „die neben der Freiheitsstrafe bestehen bleibt”, verurteilt. Ferner hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen und bestimmt, daß dem Angeklagten „auf Lebenszeit” keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge insoweit Erfolg, als die Schuldfähigkeitsbeurteilung des Angeklagten durch das Schwurgericht durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
1. Das – sachverständig beratene – Landgericht hat bei allen drei Taten eine alkoholbedingt erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (§ 21 StGB) angenommen, jedoch eine Aufhebung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) ausgeschlossen. Diese Bewertung hält rechtlicher Prüfung schon deshalb nicht stand, weil sich das Landgericht nur unzureichend mit den Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Angeklagten auseinandergesetzt und deshalb auch den zusammenwirkenden Einfluß von erheblicher Alkoholisierung (Tatzeit-Blutalkoholkonzentrationen von 3,08 [permil] bei dem Brandstiftungsdelikt und von 2,74 [permil] bei dem versuchten Tötungsdelikt, jeweils festgestellt auf Grund tatzeitnah entnommener Blutprobe), affektiver Belastung und der bei dem Angeklagten festgestellten Persönlichkeitsstörung auf dessen Zustand bei der Tatausführung nicht umfassend geprüft hat.
Nach Einschätzung der Sachverständigen, der das Landgericht folgt, besteht bei dem Angeklagten „aus psycho-dynamischer Sicht … eine narzißtische Persönlichkeitsentwicklung mit zwanghaften Zügen … Bei emotionalen Belastungen und Kränkungen kann es bei ihm zu krisenhaften Affektdurchbrüchen kommen”. Weiter heißt es im Urteil: „Differentialdiagnostisch könnte auch ein Borderline-Syndrom mit hysteriformen Zügen vorliegen, d.h. eine Ich-Schwäche mit der Unfähigkeit, Triebspannungen, Affektdruck und äußere Belastungen auszuhalten, wobei es zu Impuls- und Affektdurchbrüchen, Realitätsverkennung und Selbstbeschädigung kommen kann”. Sowohl die „narzißtische Persönlichkeitsentwicklung und Störung der Impulskontrolle als auch ein möglicherweise vorliegendes Borderline-Syndrom (seien) aber nicht so ausgeprägt, daß sie Krankheitswert haben oder einem solchen nahekommen” (UA 100/101).
Insoweit begegnet es schon methodischen Bedenken, daß das Landgericht sich die Beurteilung der Sachverständigen zu eigen macht und das Vorliegen einer schweren seelischen Abartigkeit aufgrund lediglich hypothetischer Erwägungen zur Borderline-Störung („könnte”, „möglicherweise”) ausgeschlossen hat, obwohl die Sachverständige ersichtlich selbst die Auffassung vertreten hat, „eine endgültige Einordnung dieser Diagnosen (sei) erst nach längerer Verlaufsbeobachtung möglich” (UA 101). Letzteres entspricht zwar dem Meinungsstand in der Psychiatrie (vgl. Kröber NStZ 1998, 80; ders. Nervenarzt 1995, 532, 539). Ohne eine abschließende Klärung der Art der bei dem Angeklagten festgestellten Persönlichkeitsstörung läßt sich aber grundsätzlich auch eine sichere Aussage darüber, ob diese alsschwere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu qualifizieren ist, nicht treffen (vgl. zu den Schwierigkeiten dieser Einordnung aus psychiatrischer Sicht: Foerster NStZ 1988, 444 ff.; Winckler/Foerster NStZ 1997, 334 f.). Das gleiche gilt, soweit das Landgericht meint, die Persönlichkeitsauffälligkeiten lägen „im Normbereich menschlichen Verhaltens” (UA 101). Welchen Maßstab das Landgericht dieser – pauschalen – Bewertung zugrundegelegt hat, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Das Landgericht durfte sich hierbei auch nicht einfach der Bewertung der Sachverständigen anschließen, ohne sie kritisch zu hinterfragen (BGHSt 42, 385, 388 f.; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17; zu der Aufgabe des Sachverständigen, dem Gericht seine Bewertung „verständlich, übersetzbar und plausibel” zu machen, Mauthe DRiZ 1999, 262, 268 f.). Hierzu bestand umso mehr Anlaß, da die Bewertung in auffälligem Gegensatz zu dem abgeurteilten Tatgeschehen und dem weiteren festgestellten Verhalten des Angeklagten steht. Im übrigen ist die für möglich gehaltene Borderline-Persönlichkeitsstörung nach Art, Entstehung, Ausmaß und Wirkungen im Urteil auch nicht hinreichend konkretisiert, um ihren möglichen Einfluß auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten beurteilen zu können und dem Revisionsgericht unter diesem Gesichtspunkt die rechtliche Prüfung zu ermöglichen (BGH NStZ 1999, 508 f. m.w.N.). Im Zusammenhang mit der gebotenen Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und ihrer Entwicklung (vgl. BGHSt 37, 397, 401; BGH, Beschluß vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99 – m.w.N.) hätten zudem die Gründe näherer Erörterung bedurft, die dazu geführt haben, daß der Angeklagte zwischen Oktober 1985 und April 1998 insgesamt siebenmal stationär psychiatrisch behandelt werden mußte.
Schon dieser Mangel der Grundlagen für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nötigt zur Aufhebung des Urteils; denn der Senat kann nicht ausschließen, daß eine abschließende psychiatrische Diagnose die Annahme des Vorliegens einer schweren seelischen Abartigkeit begründet, aufgrund derer zumindest im Zusammenwirken mit der erheblichen Alkoholisierung auch eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit in Betracht kommt. Dies gilt hier schon deshalb, weil die Alkoholisierung jeweils dem Grad nahekommt bzw. ihn erreicht hat, der nach der Rechtsprechung schon für sich genommen Anlaß gibt, eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit in Erwägung zu ziehen (BGHSt 34, 29, 31; Senatsbeschluß vom 9. November 1999 – 4 StR 521/99). Hinzu kommt, daß das Urteil nicht hinreichend erkennen läßt, ob das Landgericht bei der Beurteilung der psycho-diagnostischen Kriterien genügend bedacht hat, daß „eingeschliffenes” Verhalten und „schlichte Handlungsmuster” jedenfalls nicht ohne weiteres geeignet sind, die Indizwirkung einer hohen Blutalkoholkonzentration zu entkräften (BGHSt 43, 66, 70; BGH NStZ 1996, 227 = StV 1996, 224; BGH BA 1999, 179, 180). Soweit das Landgericht dabei auf das „situationsangepaßte” Verhalten abhebt, und dabei in bezug auf das Brandstiftungsdelikt insbesondere auch das Verhalten nach der Tat heranzieht, ist die Aussagekraft schon deshalb von geringerem Gewicht, weil es nach §§ 20, 21 StGB auf die Befindlichkeit des Täters „bei Begehung der Tat” ankommt (vgl. BGH NStZ 1999, 508 f.). Zudem hätte das Landgericht in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen müssen, daß der Angeklagte in der psychosozialen Kriseneneinrichtung zwar sogleich auf das Feuer in seiner Wohnung hingewiesen hatte, aber unmittelbar danach – „aggressiv und aufgebracht darüber, daß er … nicht aufgenommen wurde” – androhte, alles anzuzünden, und „demonstrativ … ein brennendes Feuerzeug an einen dort befindlichen Stoffsessel” hielt (UA 23 f.), was eher gegen die Fähigkeit spricht, sich noch kontrollieren zu können. Ebenso durfte das Landgericht in bezug auf das Tatgeschehen im Zusammenhang mit dem Führen des Taxis zwar die „motorische” Fähigkeit zum Lenken des Fahrzeugs über eine Strecke von 800 m berücksichtigen (UA 110). Doch verliert dieser Umstand dadurch an Gewicht, daß der Angeklagte mit dem Fahrzeug schließlich – und zwar nicht etwa absichtlich (UA 89) – gegen einen Baum prallte. Daß schließlich auch der Bewertung der Zeugen, die den Zustand des Angeklagten jeweils als „nicht volltrunken” bezeichnet haben, allenfalls eine geringe Beweisbedeutung für die Schuldfähigkeitsbeurteilung zukommt, bedarf keiner näheren Darlegung.
2. Der zur Aufhebung des Urteils führende Rechtsfehler entzieht auch der Entscheidung die Grundlage, soweit das Schwurgericht davon abgesehen hat, die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.
a) Hinsichtlich der Unterbringungsentscheidung nach § 63 StGB hat das Landgericht infolge der unzureichenden Schuldfähigkeitsbeurteilung den rechtlich bedeutsamen Zusammenhang von Alkoholisierung des Angeklagten und der bei ihm festgestellten Persönlichkeitsstörung außer Betracht gelassen.
Auch wenn mit der gehörten Sachverständigen davon auszugehen ist, daß die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten noch nicht so stark ist, daß sie bereits für sich genommen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit geführt hat, die festgestellte Verminderung der Schuldfähigkeit letztlich vielmehr erst durch die aktuelle Alkoholintoxikation herbeigeführt worden ist, schließt dies nicht von vornherein das Vorliegen der Voraussetzungen eines Zustands beim Angeklagten aus, der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB rechtfertigen kann. Allerdings war in diesen Fällen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach früherer Rechtsprechung nur dann Raum, wenn der Täter an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist (st. Rspr.; vgl. u.a. BGHSt 34, 313 ff.; dazu neuerdings BGHSt 44, 338). In neuerer Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof diese Voraussetzungen aber dahin präzisiert, daß auch dann ein die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigender Zustand anzunehmen sein kann, wenn zwar erst die aktuelle Alkoholintoxikation den Ausschluß der Schuldfähigkeit oder deren erhebliche Verminderung bewirkt hat, der Täter aber an einer länger dauernden krankhaften geistig-seelischen Störung leidet und als Auslösungsfaktor für den Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB alltägliche Ereignisse in Betracht kommen (BGH StV 1999, 486 = NJW 1999, 3422). So kann es sich hier verhalten.
Das Landgericht stellt ausdrücklich fest, der Angeklagte neige dazu, „in Konfliktsituationen Alkohol in größeren Mengen zu sich zu nehmen”; das Trinken von Alkohol stelle bei ihm „ein Verhaltensmuster zur Lebensbewältigung dar, wobei er sich in Belastungs- und Krisensituationen, um sich zu betäuben, in den Alkohol flüchtet” (UA 7, 102). Insoweit besteht aber ein unmittelbarer Bezug zu seiner Persönlichkeitsstörung, denn seine „Ich-Schwäche mit der Unfähigkeit, Triebspannungen, Affektdruck und äußere Belastungen auszuhalten”, äußert sich in „krisenhaften Affektdurchbrüchen” ebenfalls „bei emotionalen Belastungen und Kränkungen” (UA 100); sie bildet deshalb psychodynamisch dieselbe Ursache, die auch seine „Flucht in den Alkohol” begründet. Auch das Landgericht geht mit der Sachverständigen davon aus, daß „der Alkohol als Katalysator diente und aggressiven Tendenzen zum Durchbruch verhalf” (UA 105). Zumal angesichts des erheblichen Gewichts der dem Angeklagten angelasteten Taten einerseits und der geringfügigen, eher „alltäglichen” tatauslösenden Umstände andererseits kann dies in Anbetracht der – wie auch die bereits frühzeitige und wiederholte stationäre psychiatrische Behandlung des Angeklagten zeigt – dauerhaften und behandlungsbedürftigen Persönlichkeitsstörung als Anordnungsgrundlage für § 63 StGB ausreichen (vgl. BGH, Beschluß vom 14. April 1999 – 3 StR 36/99). Daß von dem Angeklagten auch die bestimmte Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten ausgeht, hat das Landgericht selbst angenommen; denn im Rahmen der Entscheidung über die Dauer der Sperrfrist nach § 69 a StGB ist es – überzeugend – davon ausgegangen, daß die „Wiederholungsgefahr groß” sei (UA 123).
b) Auch die Frage der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB (zur gleichzeitigen Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vgl. BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 3) bedarf neuer Entscheidung. Zwar setzt die Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB von Verfassungs wegen die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges voraus (BVerfGE 91, 1 = NStZ 1994, 578). Doch genügt entgegen der Aufassung des Landgerichts für die Annahme der Aussichtslosigkeit noch nicht, daß der Angeklagte „keine Einsicht in seine Mißbrauchsproblematik” hat (UA 122). Eine solche mangelnde Einsicht kann ebenso wie mangelnde Therapiemotivation zwar ein Indiz dafür sein, daß eine Entwöhnungsbehandlung keine Erfolgschancen hat. Andererseits bedarf es in solchen Fällen der Prüfung und Darlegung, daß auch mit therapeutischen Bemühungen eine positive Beeinflussung des Angeklagten nicht zu erreichen wäre (BGHR StGB § 64 Abs. 1 Erfolgsaussicht 7; BGH, Beschluß vom 25. Oktober 1995 – 2 StR 535/95).
3. Die Feststellungen zum äußeren Sachverhalt sind von den beanstandeten Rechtsfehlern nicht betroffen. Sie können deshalb bestehen bleiben. Auf die Aufklärungsrüge, die allein die Ursache des Fahrens in Schlangenlinien betrifft, nicht hingegen das Fahren in Schlangenlinien als solches, kommt es deshalb nicht an. Im übrigen hätte die Aufklärungsrüge, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 30. November 1999 näher ausgeführt hat, auch in der Sache keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
4. Für das weitere Verfahren wird es sich empfehlen, zur Schuldfähigkeitsprüfung einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen.
Sollte der neue Tatrichter wiederum zur Annahme – wenn auch erheblich verminderter – Schuldfähigkeit des Angeklagten gelangen, wird bei einem Schuldspruch wegen des Brandstiftungsdelikts nach § 306 a StGB insbesondere die Strafrahmenwahl mit Blick auf die Vielzahl gewichtiger Strafmilderungsgründe eingehenderer Prüfung als bisher bedürfen. Schließlich hat der Senat auch Bedenken, ob das Landgericht von dem ihm in § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat, wenn es die Entscheidung, die wegen der Beleidigung verhängte Geldstrafe neben der Gesamtfreiheitsstrafe bestehen zu lassen, allein auf „erzieherische Gründe” gestützt hat (UA 121), ohne darzulegen, worin die erzieherische Einwirkung bestehen soll, den – ersichtlich „verarmt(en)” (vgl. UA 6 und 7) – Angeklagten neben der hohen Gesamtfreiheitsstrafe noch zusätzlich am Vermögen zu bestrafen.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 556849 |
NZV 2000, 213 |
VRS 2000, 277 |