Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertretungsbefugnis. Kindschaftsverfahren. Minderjähriges Kind. Bestellung eines Ergänzungspflegers. Verfahrensbeistand. Elterliche Sorge. Rechtliches Gehör. Elternrecht. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Vertretung des minderjährigen Kindes im Kindschaftsverfahren (im Anschluss an BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788).
Normenkette
BGB §§ 1629, 1796, 1909; FamFG §§ 7, 9, 158
Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 08.02.2011; Aktenzeichen 11 UF 195/10) |
AG Osnabrück (Beschluss vom 30.11.2010; Aktenzeichen 72 F 191/10 SO) |
Tenor
1. Der Mutter wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde der Mutter wird der Beschluss des 11. Zivilsenats - 3. Senat für Familiensachen - des OLG Oldenburg vom 8.2.2011 aufgehoben.
Auf die Beschwerde der Mutter wird der Beschluss des AG - FamG - Osnabrück vom 30.11.2010 aufgehoben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Wert: 3.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Das Verfahren betrifft die Bestellung eines Ergänzungspflegers für das im September 2008 geborene Kind R. der Beteiligten zu 1) (Mutter) und 2) (Vater). Die elterliche Sorge steht der Mutter zu, weil die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet waren. In einem weiteren - inzwischen abgeschlossenen - Verfahren hat der Vater die Beteiligung an der elterlichen Sorge erstrebt. In jenem Verfahren hat das FamG für das Kind einen Verfahrensbeistand bestellt.
Rz. 2
Im vorliegenden Verfahren hat das FamG zur Vertretung des Kindes in jenem Verfahren eine Ergänzungspflegschaft angeordnet und die Beteiligte zu 3) zur Ergänzungspflegerin bestellt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter hat das OLG zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde der Mutter, mit welcher sie die Aufhebung der Ergänzungspflegschaft erstrebt.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 1 FamFG statthaft und auch sonst zulässig. Die Mutter ist nach § 59 FamFG beschwerdebefugt, weil die Anordnung der Ergänzungspflegschaft einen Eingriff in das ihr zustehende Sorgerecht darstellt (BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 Rz. 4; vgl. Staudinger/Peschel-Gutzeit BGB [2007] § 1629 Rz. 304 m.w.N.).
Rz. 5
2. Nach der Auffassung des OLG ist das minderjährige Kind Verfahrensbeteiligter. Da es nicht verfahrensfähig sei, bedürfe es eines gesetzlichen Vertreters. Die Mutter stehe in einem erheblichen Interessengegensatz, so dass ihr die Vertretungsbefugnis nach §§ 1629 Abs. 2 Satz 3, 1796 BGB zu entziehen sei. Abweichend von der Intention des Gesetzgebers könne daher in der Mehrzahl der gerichtlichen Kindschaftsverfahren nicht auf die Bestellung eines Ergänzungspflegers verzichtet werden. Die Bestellung eines Verfahrensbeistands reiche nicht aus, weil dieser nicht gesetzlicher Vertreter des Kindes sei. Der Eingriff in die grundgesetzlich geschützte elterliche Sorge sei als nur vorübergehend hinzunehmen, um dem rechtlichen Gehör des Kindes als Rechtssubjekt effektive Geltung zu verschaffen.
Rz. 6
3. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 7
a) Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, führt das Vorliegen eines erheblichen Interessengegensatzes zwischen Kind und Eltern nicht notwendigerweise zur Entziehung der elterlichen Vertretungsbefugnis. Da es sich bei der Entziehung der Vertretungsbefugnis um einen Eingriff in das Elternrecht handelt, ist vielmehr der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Daher hat das Gericht vor Entziehung der Vertretungsbefugnis in jedem Fall zu prüfen, ob dem Interessengegensatz nicht auf andere Weise Rechnung getragen werden kann. Wenn mildere Maßnahmen möglich sind, um dem Interessenkonflikt wirksam zu begegnen, ist die Entziehung der Vertretungsbefugnis übermäßig und daher rechtswidrig (BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 Rz. 18 mN).
Rz. 8
Die Wahrnehmung der Kindesinteressen ist hingegen in einem auf die Person bezogenen Kindschaftsverfahren die originäre Aufgabe des Verfahrensbeistands. Dass in Fällen des wesentlichen Interessengegensatzes von Eltern und Kind stets eine Entziehung der Vertretungsbefugnis angezeigt wäre, kann nicht als Wille des Gesetzgebers unterstellt werden, schon weil er sich damit zu seiner abgewogenen eigenen Entscheidung zur Reichweite der Interessenvertretung des Kindes im Verhältnis zum Elternrecht und zur Vermeidung von Verfahrensverzögerungen in Widerspruch gesetzt hätte (BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 Rz. 20, 25). Dass der Verfahrensbeistand nicht gesetzlicher Vertreter des Kindes ist, begründet nicht die Notwendigkeit, die elterliche Vertretungsbefugnis zu entziehen. Gerade die der Regelung in § 158 Abs. 4 Satz 6 FamFG zugrunde liegenden Erwägungen zeigen, dass es nach den Vorstellungen des Gesetzgebers mit der Bestellung des Verfahrensbeistands als Interessenvertreter des Kindes selbst bei Interessenkonflikten regelmäßig auch bewenden soll (BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 Rz. 22).
Rz. 9
§ 1796 BGB ist demnach im Zusammenhang mit Kindschaftsverfahren dahin zu verstehen, dass eine Entziehung der elterlichen Vertretungsbefugnis dann nicht angeordnet werden darf, wenn durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands bereits auf andere Weise für eine wirksame Interessenvertretung des Kindes Sorge getragen werden kann. Das ist in Verfahren, welche die Person des Kindes betreffen, der Fall. Die Bestellung eines Verfahrensbeistands ist dabei nicht auf Verfahren, die die Personensorge betreffen, beschränkt, sondern erfasst alle Verfahren, die sich nicht ausschließlich auf Vermögensangelegenheiten beziehen (BGH v. 7.9.2011 - XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 Rz. 29).
Rz. 10
b) Nach den vorstehenden Maßstäben war im vorliegenden Fall die Bestellung eines Verfahrensbeistands zulässig und ausreichend. Die Bestellung eines Ergänzungspflegers ist demnach wie die damit verbundene Entziehung der Vertretungsbefugnis nicht geboten und daher unzulässig. Der Senat kann in der Sache abschließend entscheiden, weil es weiterer Feststellungen nicht bedarf. Demnach ist der Beschluss des AG - ersatzlos - aufzuheben.
Fundstellen