Leitsatz (amtlich)
a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31.7.2015 geltenden Fassung war auch nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie) am 24.12.2011 weiter anzuwenden.
b) Verfahrensfehler bei der Durchführung der persönlichen Anhörung des Betroffenen verletzen § 420 FamFG und damit Art. 104 Abs. 1 GG nur, wenn sie nicht nur den formal ordnungsmäßigen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betreffen.
c) Die Grundlagen der Anhörung sind nicht schon betroffen, wenn dem Betroffenen eine Kopie des Haftantrags oder von dessen Übersetzung nicht ausgehändigt wird, sondern erst, wenn der Anhörung ein unzulässiger oder ein unvollständiger Haftantrag zugrunde liegt, oder wenn der zulässige Haftantrag bei der Anhörung nicht zumindest in den wesentlichen Grundzügen sinngemäß mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die der Betroffene beherrscht.
Normenkette
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 Fassung: 2015-07-31; EGRL 115/2008 Art. 3 Nr. 7; GG Art. 104; FamFG § 420
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 16.02.2015; Aktenzeichen 19 T 43/15) |
AG Stuttgart (Entscheidung vom 16.01.2015; Aktenzeichen 209 XIV 187/15) |
Nachgehend
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss der 19. Zivilkammer des LG Stuttgart vom 16.2.2015 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er wurde am 6.12.2014 in Deutschland bei einer Polizeikontrolle festgenommen, weil er keine gültigen Papiere bei sich führte, und am 12.12.2014 unter Befristung des Einreiseverbots auf zwei Jahre in den Kosovo abgeschoben. Am 15.1.2015 wurde er erneut in Deutschland bei einer Polizeikontrolle ohne gültige Einreise- und Aufenthaltspapiere angetroffen und festgenommen. Bei seiner Anhörung durch das AG erklärte er, er beabsichtige, Asyl zu beantragen.
Rz. 2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das AG am Folgetag gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung in den Kosovo bis zum 26.2.2015 angeordnet. Die mit einem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Haft verbundene Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Abschiebung in den Kosovo am 26.2.2015 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung festzustellen.
II.
Rz. 3
Das LG (LG Stuttgart, Beschluss vom 16.2.2015 - 19 T 43/15, juris) hält die Haftanordnung des AG im Ergebnis für rechtmäßig. Zwar könne sie mit Rücksicht auf den Asylantrag nicht mehr auf den Tatbestand der unerlaubten Einreise gestützt werden. Gegeben sei aber der von dem AG ebenfalls angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG a.F. Der Anwendung dieses Haftgrunds stehe die Richtlinie 2008/115/EG (des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EG Nr. L 348, 98 - sog. Rückführungsrichtlinie) nicht entgegen. Der BGH habe zwar entschieden, dass Haft zur Sicherung einer Rücküberstellung nach Maßgabe der Dublin-III-Verordnung nicht mehr auf diesen Haftgrund gestützt werden könne, weil er durch nationale gesetzliche Vorschriften näher ausgeformt werden müsse. Für die Abschiebungshaft gelte diese Rechtsfolge aber nicht. Zwar sehe die Rückführungsrichtlinie eine ähnliche Regelung für den dort bestimmten Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Dieser sei aber, anders als der Haftgrund der Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung, nicht abschließend, sondern nur einer von mehreren möglichen Haftgründen.
III.
Rz. 4
Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung stand.
Rz. 5
1. Gegen die Anordnung der Haft durch das AG wendet der Betroffene zu Unrecht ein, sie habe wegen der unmittelbaren Wirkung der Rückführungsrichtlinie nicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach dem hier noch maßgeblichen § 62 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 AufenthG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.7.2015 (BGBl. I, 1386) am 1.8.2015 geltenden Fassung gestützt werden können. Dieser Haftgrund war auch nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie am 24.12.2011 weiter anzuwenden.
Rz. 6
a) Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Betroffenen.
Rz. 7
aa) § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG genügte in der bis zum 31.7.2015 geltenden Fassung nicht den Anforderungen der Rückführungsrichtlinie. Diese Richtlinie lässt in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a unter näheren Voraussetzungen eine Inhaftierung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung u.a. wegen Fluchtgefahr zu. Zur Umsetzung dieses Haftgrunds reichte es allerdings nicht aus, in den deutschen Umsetzungsvorschriften lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr zu wiederholen.
Rz. 8
bb) Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie bestimmt nämlich, dass unter Fluchtgefahr im Sinne der Richtlinie "das Vorliegen von Gründen im Einzelfall [zu verstehen ist], die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten". Die Vorschrift verlangt somit gesetzlich festgelegte Kriterien zur Konkretisierung der im Gemeinschaftsrecht bestimmten Voraussetzung der "Fluchtgefahr". Solche Kriterien sah das Aufenthaltsgesetz in der bis zum 31.7.2015 geltenden Fassung nicht vor. Es genügte deshalb in diesem Punkt nicht den Umsetzungsverpflichtungen der Richtlinie. Der Senat hat das für die wortgleiche Regelungsverpflichtung der Mitgliedstaaten zur Ausfüllung des Begriffs der Fluchtgefahr in Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gemäß deren Art. 2 Buchst. n entschieden (Beschl. v. 26.6.2014 - V ZB 31/14 NVwZ 2014, 1397 Rz. 14 und Beschl. v. 22.10.2014 - V ZB 124/14, NVwZ 2015, 607 Rz. 10). Für Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie gilt nichts anderes.
Rz. 9
cc) Es trifft schließlich auch zu, dass sich Betroffene in Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die die Rückkehrrichtlinie nicht bis zum Ablauf der in Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie geregelten Umsetzungsfrist am 24.12.2011 fristgemäß und vollständig umgesetzt haben, auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen dieser Richtlinie berufen können, und dass Art. 15 (und 16) der Rückführungsrichtlinie solche unbedingten und hinreichend genauen Vorschriften enthält (EuGH, Urt. v. 28.4.2011 - Rs. C-61/11 PPU - El Dridi, ECLI:EU:C:2011:268 Rz. 46 f.).
Rz. 10
b) Folge dessen ist aber nicht, dass die Anordnung von Abschiebungshaft in dem Zeitraum von dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Rückkehrrichtlinie bis zur Behebung des Umsetzungsdefizits mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.7.2015 (BGBl. I, 1386) am 1.8.2015 nicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in der bis dahin geltenden Fassung gestützt werden durfte.
Rz. 11
aa) Das ergibt sich entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts (ebenso LG Hannover, Beschl. v. 30.4.2015 - 8 T 16/15, juris Rz. 15) allerdings nicht schon daraus, dass Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung auch aus anderen Gründen als der Fluchtgefahr zulässt. Dadurch wird der nationale Gesetzgeber der Mitgliedstaaten nur dazu ermächtigt, neben der Fluchtgefahr noch andere Haftgründe vorzusehen. An der Verpflichtung, den an sich zulässigen Haftgrund der Fluchtgefahr durch Kriterien gesetzlich näher auszuformen, anhand derer eben diese Fluchtgefahr festgestellt werden soll, ändert diese Ermächtigung indessen nichts.
Rz. 12
bb) Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31.7.2015 geltenden Fassung war vielmehr deshalb nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist weiterhin anwendbar, weil der deutsche Gesetzgeber eine Vorschrift der Richtlinie unzureichend umgesetzt hat, die keine unmittelbare Wirkung entfaltet.
Rz. 13
(1) Die Kriterien, anhand derer Fluchtgefahr festzustellen ist, müssen zwar sowohl für die Rücküberstellungs- als auch für die Abschiebungshaft gesetzlich festgelegt werden. Insofern besteht zwischen den Regelungspflichten nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung einerseits und nach Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie andererseits kein Unterschied. Unterschiedlich sind aber die Folgen, die das Versäumnis des deutschen Gesetzgebers hatte.
Rz. 14
(a) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach der Dublin-III-Verordnung sind in deren Art. 28 abschließend und mit unmittelbarer Geltung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ausgenommen Dänemark, geregelt. Diese unionsrechtliche Regelung sperrt den Rückgriff auf die nationalen Haftgründe. Der unionsrechtliche Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr kann dessen ungeachtet erst angewendet werden, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Konkretisierungspflicht nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung nachgekommen sind. Ohne diese Konkretisierung kann daher Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach dieser Verordnung nicht angeordnet werden. Das war in Deutschland in dem Zeitraum vom 1.1.2014 bis zum 31.7.2015 der Fall.
Rz. 15
(b) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung bestimmen sich demgegenüber nicht nach unmittelbar geltenden Unionsvorschriften, sondern nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, in Deutschland nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in der hier noch maßgeblichen bis zum 31.7.2015 geltenden Fassung. Allerdings dürfen sich Betroffene nach dem Ende der Frist zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie am 24.12.2011 auf inhaltlich unbedingte und hinreichende genaue Bestimmungen der Richtlinie berufen, wenn sie in dem betreffenden Mitgliedstaat noch nicht umgesetzt worden sind. Nur insofern kommt der die Rückführungsrichtlinie in Deutschland unmittelbare Wirkung zu, die bei der Anordnung von Abschiebungshaft zur berücksichtigen war.
Rz. 16
(1) Solche unmittelbare Wirkungen entfalten zwar, wie ausgeführt, die Regelungen in Art. 15 bis 17 der Rückführungsrichtlinie über die Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft und für ihre Durchführung (EuGH, Urt. v. 28.4.2011 - Rs. C-61/11 PPU - El Dridi, ECLI:EU:C:2011:268 Rz. 40, 47 für Art. 15, 16 und BGH, Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318 Rz. 27 für Art. 17). Der deutsche Gesetzgeber hatte aber mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) nicht Art. 15 der Rückführungsrichtlinie unzureichend umgesetzt. Denn diese Vorschrift sieht gerade vor, dass Abschiebungshaft u.a. wegen Fluchtgefahr angeordnet werden darf. Nicht umgesetzt hatte der deutsche Gesetzgeber vielmehr Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie, wonach Kriterien zur Feststellung von Fluchtgefahr nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a dieser Richtlinie gesetzlich festzulegen sind.
Rz. 17
(2) Diese Vorschrift der Richtlinie enthält keine hinreichend genaue Bestimmung, auf die sich ein Betroffener gegenüber dem Mitgliedsstaat berufen könnte, der sie nicht zulänglich umgesetzt hat. Dem nationalen Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten wird nämlich mit Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie nur vorgeschrieben, Kriterien zur Feststellung der Fluchtgefahr i.S.v. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie festzulegen. Im Unterschied zu dieser Vorschrift legt Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie keine inhaltlichen Vorgaben für solche Kriterien fest, auf die sich ein Betroffener berufen könnte. Damit fehlt dieser Vorschrift der Richtlinie das entscheidende Element, das dem Einzelnen eine Berufung auf die Vorschrift der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist ermöglicht. Sie entfaltet keine unmittelbare Wirkung (übersehen von AG Hannover, InfAuslR 2015, 149; AG Wennigsen, InfAuslR 2015, 150).
Rz. 18
(3) Diese Frage kann der Senat ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden, weil sie sich anhand der Begründung klar und eindeutig beantworten lässt, die der Gerichtshof für die Annahme einer unmittelbaren Wirkung von Art. 15 derselben Richtlinie gegeben hat (sog. acte claire, EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - Rs. 283/81 C.I.L.FI.T., ECLI:EU:C:1982:335 Rz. 14-16; Einzelheiten bei: Schmidt-Räntsch in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl., § 23 Rz. 27, 29). In seinem oben angesprochenen Urteil vom 28.4.2011 (Rs. C-61/11 PPU - El Dridi, ECLI:EU:C:2011:268 Rz. 40, 47) hat der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Art. 15 der Rückführungsrichtlinie mit den konkreten Anforderungen begründet, die diese Vorschrift an die Ausgestaltung des nationalen Rechts stellt und die auch zur Änderung des § 62 AufenthG etwa durch die Einführung des heutigen Abs. 1 dieser Vorschrift geführt haben. Solche konkreten Vorgaben enthält Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie, wie ausgeführt, nicht. Der Mangel an inhaltlichen Vorgaben zur Ausformung des Haftgrunds der Fluchtgefahr legt, anders als der Betroffene meint, eine Vorlage an den Gerichtshof zur Klärung der Frage nach der unmittelbaren Wirkung auch nicht nahe, zumal der deutsche Gesetzgeber das Umsetzungsdefizit inzwischen erkannt und durch Erlass der erforderlichen Bestimmungen auch für die Abschiebungshaft vollständig behoben hat.
Rz. 19
2. Auch die Beschwerdeentscheidung ist nicht zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des Betroffenen musste ihn das Beschwerdegericht nicht erneut anhören.
Rz. 20
a) Die Aufrechterhaltung der angeordneten Haft durch das Beschwerdegericht wäre nur rechtsfehlerhaft, wenn das Beschwerdegericht den Betroffenen selbst persönlich anzuhören gehabt hätte. Denn in diesem Fall verletzte die Entscheidung des Beschwerdegerichts dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG (Senat, Beschl. v. 29.10.2015 - V ZB 67/15, InfAuslR 2016, 54 Rz. 6). Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG kann das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH v. 17.6.2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261 Rz. 8; v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rz. 13; v. 29.10.2015 - V ZB 67/15, juris Rz. 6 f.). Diese Voraussetzungen hat das Beschwerdegericht ohne Rechtsfehler angenommen.
Rz. 21
b) Das Beschwerdegericht musste den Betroffenen auch nicht deshalb erneut anhören, weil ihm der Haftantrag der beteiligten Behörde bei der Anhörung durch den Haftrichter nicht ausgehändigt worden ist.
Rz. 22
aa) Richtig ist allerdings, dass der Haftantrag der beteiligten Behörde einem Betroffenen bei der Anhörung durch den Haftrichter nicht nur "bekannt zu machen", sondern in Ablichtung auszuhändigen ist und dass dieser Vorgang im Protokoll festgehalten werden muss (Senat, Beschl. v. 5.12.2013 - V ZB 71/13, InfAuslR 2014, 150 Rz. 7). Fehlt es an einer entsprechenden Dokumentation im Protokoll über die persönliche Anhörung, ist für das Rechtsbeschwerdeverfahren davon auszugehen, dass der Haftantrag nicht ausgehändigt worden ist. Die fehlende Aushändigung des Haftantrags führte nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats dazu, dass die Haftanordnung ohne Weiteres rechtswidrig war (vgl. etwa BGH v. 30.3.2012 - V ZB 59/12, juris Rz. 10; v. 30.10.2013 - V ZB 9/13, FGPrax 2014, 43 Rz. 10). Der Senat hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass sich ohne eine Aushändigung des Haftantrags die persönliche Anhörung des Betroffenen nicht ordnungsgemäß durchführen lasse (Beschluss vom 11.10.2012 - V ZB 274/11, FGPrax 2013, 40 Rz. 7; ähnlich schon BGH v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rz. 16).
Rz. 23
bb) (1) An dieser Rechtsprechung hält der Senat, was der Betroffene nicht verkennt, im Hinblick auf die abweichende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 10.9.2013 - Rs. C-383/13 - PPU - G. and R., EGLI:EU:C:2013:533 Rz. 44 f.) nicht mehr uneingeschränkt fest. Die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags führt nur dann zu einer Aufhebung der Haftanordnung oder der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Senat, Beschl. v. 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 9). Die Verpflichtung, dem Betroffenen eine Ablichtung des Haftantrages auszuhändigen, ist nicht Teil der persönlichen Anhörung des Betroffenen, die als Verfahrensgarantie nach Art. 104 Abs. 1 GG unbedingt einzuhalten ist und deren Verletzung ohne Rücksicht auf die inhaltliche Richtigkeit der Haftanordnung zu ihrer Rechtswidrigkeit führt. Die Aushändigung des Haftantrags ist vielmehr Ausfluss der Verpflichtung, dem Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 103 GG). Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs führt nur dann zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung, wenn das Verfahren ohne den Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (zum Ganzen: Senat, Beschl. v. 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 8).
Rz. 24
(2) Die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags erforderte keine erneute Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz.
Rz. 25
(a) Verfahrensfehler bei der Durchführung der erstinstanzlichen Anhörung können zwar den Betroffenen nicht nur in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Ein solcher Fehler kann - mit Wirkung für die Zukunft - nicht schon dadurch geheilt werden, dass dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird, sondern nur durch eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen nach § 420 FamFG (Senat, Beschl. v. 18.12.2014 - V ZB 192/13, juris Rz. 9 m.w.N.). Daran hat sich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nichts geändert. Denn die persönliche Anhörung des Betroffenen ist ebenso wie der zulässige Haftantrag eine Voraussetzung für die Anordnung von Sicherungshaft i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG, an deren Einführung der deutsche Gesetzgeber unionsrechtlich nicht gehindert ist.
Rz. 26
(b) Nicht jeder Verfahrensfehler führt aber dazu, dass die durchgeführte Anhörung gewissermaßen als "Nichtanhörung" anzusehen ist (BGH, Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261 Rz. 22). Verfahrensfehler bei der Durchführung der persönlichen Anhörung des Betroffenen verletzen § 420 FamFG und damit Art. 104 Abs. 1 GG nur, wenn sie nicht nur den formal ordnungsmäßigen Ablauf der Anhörung, sondern deren Grundlagen betreffen (Senat, Beschl. v. 18.12.2014 - V ZB 192/13, juris Rz. 9 m.w.N.; ähnlich BGH, Beschl. v. 2.3.2011 - XII ZB 346/10, NJW 2011, 2365 Rz. 14 "zwingende Vorschriften", in casu die nach § 317 FamFG gebotene, aber unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers für die Anhörung im Unterbringungsverfahren, und diese Entscheidung aufgreifend: BGH, Beschl. v. 10.10.2013 - V ZB 127/12, FGPrax 2014, 39 Rz. 9 a.E.). Die Grundlagen der Anhörung sind im Zusammenhang mit einem Haftantrag nicht schon betroffen, wenn dem Betroffenen eine Kopie des Haftantrags oder von dessen Übersetzung nicht ausgehändigt wird, sondern erst, wenn der Anhörung ein unzulässiger (Senat, Beschl. v. 16.7.2014 - V ZB 80/13 InfAuslR 2014, 384 Rz. 19, 22) oder ein unvollständiger (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210 Rz. 16 f.) Haftantrag zugrunde liegt, oder wenn der zulässige Haftantrag bei der Anhörung nicht zumindest in den wesentlichen Grundzügen sinngemäß mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die der Betroffene beherrscht (vgl. Senat, Beschluss vom 12.3.2015 - V ZB 187/14, InfAuslR 2015, 301 Rz. 5 a.E.). Das Beschwerdegericht muss deshalb einen Betroffenen nicht allein wegen der unterlassenen Aushändigung des Haftantrags erneut persönlich anhören. Eine Anhörung ist auch nicht zur nachträglichen Gewährung rechtlichen Gehörs erforderlich. Dieses kann, wie hier, etwa dadurch nachgeholt werden, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen eine Kopie des Antrags zugeleitet wird.
III.
Rz. 27
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 3 GNotKG.
Fundstellen
FGPrax 2016, 139 |
InfAuslR 2016, 235 |
JZ 2016, 315 |