Verfahrensgang
LG Landshut (Entscheidung vom 05.03.2020; Aktenzeichen 64 T 2844/19) |
AG Erding (Entscheidung vom 02.09.2019; Aktenzeichen 9 XIV 207/19 (B)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Landshut - 6. Zivilkammer - vom 5. März 2020 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 2. September 2019 den Betroffenen im Zeitraum bis zum 7. Oktober 2019 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Freistaat Bayern auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000,00 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2016 nach Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) mit Bescheid vom 28. Juni 2016 ab, forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisepflicht die Abschiebung nach Afghanistan an. Die dagegen vom Betroffenen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit seit 23. Februar 2019 rechtskräftigem Urteil vom 15. Januar 2019 zurück.
Rz. 2
Am 1. August 2019 wurde der Betroffene vorläufig festgenommen. Mit Beschluss vom selben Tag ordnete das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde zunächst Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 30. September 2019 an. Diese Haft hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde vom 23. August 2019 mit Beschluss vom 2. September 2019 bis zum 31. Oktober 2019 verlängert. Die dagegen erhobene Beschwerde des Betroffenen, die er nach seiner Haftentlassung am 7. Oktober 2019 und seiner Abschiebung nach Afghanistan am 8. Oktober 2019 mit dem Feststellungsantrag weiterverfolgt hat, ist ohne Erfolg geblieben. Dagegen richtet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
Rz. 3
II. Das zulässige Rechtsmittel ist begründet.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung des Amtsgerichts für rechtmäßig erachtet. Die beteiligte Behörde habe einen zulässigen Haftantrag gestellt, der umfassende Angaben zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und ihrer erforderlichen Dauer enthalte. Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG habe vorgelegen. Es stehe fest, dass der Betroffene sich überwiegend nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufgehalten habe. Dies genüge zwar nicht für die Annahme eines Untertauchens im Sinne des § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG, belege aber, dass er für die Ausländerbehörde völlig unzureichend greifbar gewesen sei. Damit sei der in § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG genannte konkrete Anhaltspunkt für Fluchtgefahr erfüllt. Diese Norm sei auch auf den Fall einer unerlaubten Einreise - wie sie beim Betroffenen erfolgt sei - anwendbar. Zudem liege auch der in § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG genannte konkrete Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vor. Der Betroffene habe am 1. Juni 2016 beim Bundesamt angegeben, dass seine Familie einen Betrag von vermutlich knapp 2.500 € an den Schleuser gezahlt habe. Es sei davon auszugehen, dass er, auch wenn er diesen Betrag nicht selbst gezahlt habe, ihn nicht umsonst (von seiner Familie) aufgewendet sehen wolle. Dass der Betroffene in der Anhörung vor dem Amtsgericht angegeben habe, freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren, stehe vor dem Hintergrund, dass die Ausreisefrist seit Monaten abgelaufen und er nicht freiwillig in sein Heimatland zurückgekehrt und für die Ausländerbehörde schwer greifbar gewesen sei, der auf einer Gesamtschau beruhenden Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen. Ob eine derartige Aussage belastbar sei, oder es sich lediglich um eine Schutzbehauptung handele, müsse vom Haftrichter bewertet werden. Dieser habe der bloßen Beteuerung des Betroffenen, freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren, keine besondere Bedeutung zugemessen.
Rz. 5
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerhaft den Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht.
Rz. 6
a) Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass das Beschwerdegericht im Streitfall den Tatbestand des § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG als erfüllt angesehen hat. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sein, dass der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für Einschleusemaßnahmen nach § 96 AufenthG, aufgewandt hat, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren.
Rz. 7
aa) Das Beschwerdegericht hat dies auf die Angaben des Betroffenen in seiner Anhörung beim Bundesamt im Juni 2016 gestützt und insoweit festgestellt, seine Familie habe insgesamt etwa 10 Mio. Toman an einen Schleuser gezahlt, was einem Betrag von etwas unter 2.500 € entspreche. Um das Geld aufzubringen, hätten Goldschmuckstücke der Mutter verkauft werden müssen, und der Vater habe sich einen Teil des Geldes geliehen. Das Beschwerdegericht hat die Zahlung der Eltern des Betroffenen seiner eigenen Zahlung gleichgestellt und aus dem für die Geldbeschaffung getriebenen Aufwand geschlossen, dass der Betroffene nicht gewollt habe, dass seine Familie diese Summe umsonst aufgewendet hat.
Rz. 8
bb) Diese Würdigung ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das Beschwerdegericht konnte den ungefähren Umrechnungswert des vom Betroffenen mitgeteilten Geldbetrags im Wege des Freibeweises selbst ermitteln; dass die Größenordnung der festgestellten Aufwendung unzutreffend war, rügt die Rechtsbeschwerde nicht. Zu Recht ist das Beschwerdegericht auch von einer Aufwendung des Betroffenen im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgegangen, obwohl der Geldbetrag von den Eltern des Betroffenen beschafft wurde. Denn bei lebensnaher Betrachtung haben die Eltern den Betrag (zunächst) dem Betroffenen zugewendet, um ihm die Organisation seiner Flucht zu ermöglichen. Auch die Einordnung einer Summe von knapp 2.500 €, die erst auf die beschriebene Weise beschafft werden konnte, als "erheblich" und die daraus gezogene Schlussfolgerung, dass diese Aufwendung für den Betroffenen ein Anreiz sein konnte, sich der Abschiebung zu entziehen, weist keine Rechtsfehler auf.
Rz. 9
b) Zu Unrecht hat das Beschwerdegericht die Fluchtgefahr jedoch auch darauf gestützt, dass sich der Betroffene überwiegend nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufgehalten habe.
Rz. 10
aa) Das Beschwerdegericht geht - insoweit zutreffend - davon aus, dass die (unterstellte) unregelmäßige Anwesenheit des Betroffenen in der zugewiesenen Unterkunft nicht den Tatbestand des § 62 Abs. 3a Nr. 3 FamFG erfüllt, wonach Fluchtgefahr widerleglich vermutet wird, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Weder hat das Beschwerdegericht festgestellt, dass der Betroffene seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, noch, dass ihm ein solcher Hinweis erteilt worden ist. Auch das Amtsgericht hat keine entsprechenden Feststellungen getroffen.
Rz. 11
bb) Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht angenommen, der in § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG genannte konkrete Anhaltspunkt für Fluchtgefahr könne auch bei einem Ausländer herangezogen werden, der - wie der Betroffene - unerlaubt eingereist ist.
Rz. 12
(1) Dem steht bereits der klare Wortlaut der Norm entgegen. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein, dass ein erlaubt eingereister und vollziehbar ausreisepflichtig gewordener Ausländer dem behördlichen Zugriff entzogen ist, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält. Für unerlaubt eingereiste Ausländer gilt die Norm demnach gerade nicht.
Rz. 13
(2) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts kommt, wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, auch eine entsprechende Anwendung des § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG auf unerlaubt eingereiste Ausländer nicht in Betracht. Insoweit fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wurde die Regelung mit dem am 21. August 2019 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht für legal eingereiste Personen geschaffen, die inzwischen vollziehbar ausreisepflichtig sind (sogenannte Overstayer) und die dem behördlichen Zugriff entzogen sind, weil sie keinen Aufenthaltsort haben, an dem sie sich überwiegend aufhalten. Dabei handelt es sich ausdrücklich um eine Abgrenzung zu den - für unerlaubt eingereiste Ausländer geltenden - Regelungen in § 62 Abs. 3a Nr. 3 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10. Mai 2019, BT-Drucks. 19/10047, S. 43).
Rz. 14
c) Die Bejahung von Fluchtgefahr durch das Beschwerdegericht erweist sich bei der gebotenen Gesamtbetrachtung aller Umstände als rechtsfehlerhaft.
Rz. 15
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 2/20, juris Rn. 10 - unter Hinweis auf BT-Drucks. 19/10047, S. 41 f.; zur früheren, bis zum 20. August 2019 geltenden Rechtslage: BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2018 - V ZB 53/17, FGPrax 2018, 135 Rn. 9; vom 23. März 2021 - XIII ZB 141/19, juris Rn. 15). Dabei sind alle Indizien, die für und gegen die Annahme sprechen, der Ausländer werde sich seiner Abschiebung durch Flucht entziehen, zu berücksichtigen und abzuwägen, wobei auch Umstände Berücksichtigung finden können, die keinen der gesetzlich normierten typisierten Anhaltspunkte erfüllen.
Rz. 16
bb) Vor diesem Hintergrund war das Beschwerdegericht zwar grundsätzlich nicht daran gehindert, im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, ob und mit welchen Einschränkungen der Betroffene in der ihm zugewiesenen Unterkunft für die zuständigen Behörden erreichbar war. Die vom Amtsgericht und vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen tragen indes nicht die Annahme, dass das diesbezügliche Verhalten des Betroffenen darauf hindeutete, er werde sich einer drohenden Abschiebung entziehen.
Rz. 17
(1) Das Beschwerdegericht hat seiner Würdigung die vom Amtsgericht im - hier in Streit stehenden - Haftverlängerungsbeschluss vom 2. September 2019 getroffenen Feststellungen zugrunde gelegt, dass der Betroffene vom 20. Mai bis 14. Juni 2019 nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft habe angetroffen werden können und sich mithin überwiegend nicht in seiner Unterkunft aufgehalten habe. Daraus hat das Beschwerdegericht geschlossen, dass er für die Ausländerbehörde völlig unzureichend greifbar gewesen sei, was einen konkreten Anhaltspunkt für Fluchtgefahr darstelle.
Rz. 18
(2) Diese Würdigung entbehrt einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Das Beschwerdegericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, wo sich der Betroffene zwischen dem 15. Juni und dem 1. August 2019, also dem seiner Festnahme am 1. August 2019 und der Entscheidung über seine Inhaftierung zur Sicherung der Abschiebung unmittelbar vorausgehenden Zeitraum von über sechs Wochen, aufgehalten und wie er sich in dieser Zeit verhalten hat. Es hat diesen Zeitraum daher bei der Prognose, ob sich der Betroffene einer nunmehr bevorstehenden Abschiebung wahrscheinlich entziehen würde, vollständig außer Betracht gelassen. Da es um die Einschätzung ging, welches Verhalten der Betroffene im Hinblick auf die geplante Abschiebung ab dem 1. August 2019 zeigen würde, wenn er nicht in Sicherungshaft genommen würde, war eine genauere Betrachtung des unmittelbar davorliegenden Zeitraums jedoch unerlässlich.
Rz. 19
(3) Hätte das Beschwerdegericht den - für die Einschätzung des künftigen Verhaltens des Betroffenen maßgeblichen - Zeitraum zwischen dem 15. Juni und dem 1. August 2019 in den Blick genommen, so hätte es dem ursprünglichen Haftanordnungsbeschluss vom 1. August 2019, welcher dem Haftverlängerungsantrag der beteiligten Behörde vom 23. August 2019 beigefügt war, entnommen, dass sich der Betroffene nicht nur vom 15. Januar bis 8. Mai 2019 in Untersuchungshaft, sondern auch zwischen dem 2. und 15. Juli 2019 zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe in Strafhaft befand. Es hätte ferner festgestellt, dass der Betroffene nach seiner Entlassung der behördlichen Aufforderung gefolgt ist und am 24. Juli 2019 zum Zwecke seiner Identifizierung und der Beschaffung von Passersatzpapieren beim afghanischen Generalkonsulat in München vorgesprochen hat.
Rz. 20
cc) Danach kann im Streitfall auf Grundlage der getroffenen Feststellungen und der sich aus den im Haftantragsverfahren beigebrachten Unterlagen ergebenden Umstände keine Fluchtgefahr angenommen werden. Vielmehr belegten der Umstand, dass der Betroffene im Sommer 2019 sowohl für die Strafverfolgungsbehörden als auch für die Ausländerbehörde erreichbar war und die Tatsache, dass er sowohl die Strafhaft angetreten als auch das afghanische Generalkonsulat aufgesucht hat, dass er den behördlichen Vorgaben Folge leistete, und sprechen dafür, dass er dies auch im Hinblick auf die Durchführung der Abschiebung getan hätte. Sie stellen somit gewichtige Indizien gegen eine Fluchtgefahr dar. Vor diesem Hintergrund und der akuten Hafterfahrung des Betroffenen kann auch seine Aussage in der persönlichen Anhörung durch den Haftrichter am 2. September 2019, zu einer freiwilligen Ausreise bereit zu sein, um die Haft zu vermeiden, nicht ohne gegenläufige Anhaltspunkte als Schutzbehauptung abgetan werden, und reicht die - immerhin mehr als drei Jahre zurückliegende - Zahlung an eine Schlepperorganisation allein nicht aus, um anzunehmen, der Betroffene werde sich der Abschiebung durch Flucht entziehen.
Rz. 21
d) Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da das Beschwerdegericht neue Tatsachen feststellen müsste, die für eine Fluchtgefahr gesprochen hätten. Diese Sachverhaltsermittlung kann, da der Betroffene zu neuen Umständen zwingend persönlich angehört werden müsste, nach seiner Abschiebung nicht mehr nachgeholt werden.
Rz. 22
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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