Leitsatz (amtlich)
Der Pkw eines "außergewöhnlich gehbehinderten" Schuldners unterliegt im Regelfall nicht der Pfändung, selbst wenn der Schuldner nicht erwerbstätig ist.
Normenkette
ZPO § 811 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Köln (Beschluss vom 18.11.2003) |
AG Köln (Beschluss vom 04.09.2003) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der Beschluss der 19. Zivilkammer des LG Köln v. 18.11.2003 aufgehoben.
Die sofortige Beschwerde der Gläubiger gegen den Beschluss des AG Köln v. 4.9.2003 wird zurückgewiesen.
Die Gläubiger tragen die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
Beschwerdewert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Die Gläubiger betreiben aus einem gerichtlichen Vergleich gegen den zu 90 % schwerbehinderten Schuldner, dem vom Versorgungsamt Köln u. a. die Merkzeichen "aG" (= außergewöhnliche Gehbehinderung) und "B" (= bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ständige Begleitung nötig) zuerkannt worden sind, die Zwangsvollstreckung. Da der Schuldner nach dem von ihm erstellten Vermögensverzeichnis (§ 807 ZPO) über kein weiteres pfändbares Vermögen verfügt, beauftragten die Gläubiger den zuständigen Gerichtsvollzieher mit der Pfändung seines Pkw BMW (Baureihe 3, Baujahr 1994, Kilometerstand ca. 160.000).
Der Gerichtsvollzieher hat die Pfändung des Fahrzeugs abgelehnt, weil der schwerbehinderte Schuldner zu häufigen Arztbesuchen auf einen Pkw angewiesen sei. Die von den Gläubigern eingelegte Erinnerung hat das AG zurückgewiesen und die Unpfändbarkeit gem. § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO bestätigt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Schuldner brauche das Fahrzeug, das nur noch einen geringen Wert habe, wegen seiner außergewöhnlichen Gehbehinderung; auch wenn er den Pkw nicht beruflich benötige, dürfe ihm die Teilnahme am Außenleben nicht verwehrt werden. Da sich der Schuldner im Rollstuhl fortbewege, könne er öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. Auf die sofortige Beschwerde der Gläubiger hat das LG den Beschluss des AG aufgehoben und den Gerichtsvollzieher angewiesen, die beantragte Zwangsvollstreckung in den Pkw vorzunehmen. Gegen diese Entscheidung richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Schuldners.
II.
Die gem. § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 2 ZPO statthafte und auch im übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Beschwerdegericht hat gemeint, trotz der außergewöhnlichen Gehbehinderung des Schuldners handle es sich bei seinem Pkw, der nicht speziell für eine Behinderung ausgerüstet sei, nicht um eine als "notwendiges Hilfsmittel" gem. § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO unpfändbare Sache. Diese Vorschrift bezwecke nicht, dem Schuldner ein bloßes Fortbewegungsmittel zu belassen, ohne dass es als krankheitsbedingtes Hilfsmittel eingesetzt werde. Eine Abwägung der schutzwürdigen Interessen des Gläubigers und des nicht berufstätigen Schuldners ergebe, dass der Gläubiger nicht auf die Befriedigung seiner titulierten Forderung verzichten müsse, um dem Schuldner die Erledigung seiner alltäglichen Angelegenheiten oder gar Urlaubsreisen zu ermöglichen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Schuldner gewisse Wegstrecken mit Krücken zurücklegen, einen Rollstuhl bedienen und deshalb öffentliche Verkehrsmittel benutzen könne. Für dringende Fälle müsse er auf Fahrten mit einem Taxi verwiesen werden.
Nach Auffassung der Rechtsbeschwerde unterfällt der Pkw des Schuldners der Schutzvorschrift des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO. Dies ergebe sich aus deren Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips und den Grundrechten der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes sowie einem Vergleich mit den einschlägigen Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes. Das Fahrzeug gebe dem Schuldner erst die Möglichkeit, seine stark eingeschränkte Mobilität einigermaßen auszugleichen und trotz seiner Gehbehinderung am Leben in der sozialen Gemeinschaft teilzunehmen. Das Beschwerdegericht habe den vom Schuldner vorgetragenen Sachverhalt nur unzureichend berücksichtigt.
2. Der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist zuzustimmen.
Nach § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO sind künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel, soweit diese Gegenstände zum Gebrauch des Schuldners und seiner Familie bestimmt sind, der Pfändung entzogen. Die Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Fahrzeug eines nicht erwerbstätigen, gehbehinderten Schuldners ein "notwendiges Hilfsmittel" im Sinne dieser Vorschrift ist, ist in Rechtsprechung und Literatur streitig (vgl. OLG Köln NJW-RR 1986, 488; LG Waldbröl DGVZ 1991, 119 f.; LG Düsseldorf DGVZ 1989, 14; LG Hannover DGVZ 1985, 121; LG Lübeck DGVZ 1979, 25; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO 22. Aufl. § 811 Rn. 70; Zöller/Stöber, ZPO 24. Aufl. § 811 Rn. 36; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO 25. Aufl. § 811 Rn. 36). Nach richtiger Auffassung unterliegt der Pkw eines außergewöhnlich gehbehinderten Schuldners im Regelfall nicht der Pfändung. Dies ergibt sich aus dem Rechtsgedanken des § 812 Abs. 1 ZPO, insbesondere aus dessen Nummern 5 und 12.
a) Die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO dienen dem Schutz des Schuldners aus sozialen Gründen im öffentlichen Interesse (vgl. BGHZ 137, 193, 197; Thomas/Putzo/Reichold, a. a. O. § 811 Rz. 1) und beschränken die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mithilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Sie sind Ausfluss der in Art. 1 GG und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde bzw. allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalten eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner und seinen Familienangehörigen soll durch sie die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um - unabhängig von Sozialhilfe - ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können. Für die Auslegung des § 811 Abs. 1 ZPO geben die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes wichtige Anhaltspunkte, weil die Pfändungsverbote und die Bestimmungen über die Sozialhilfe, die jeweils dem Schutz und der Erhaltung des Existenzminimums dienen, in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen. Da eine Pfändung nicht zu Lasten öffentlicher Mittel erfolgen darf, dürfen dem Schuldner bei der Zwangsvollstreckung keine Gegenstände entzogen werden, die ihm der Staat aus sozialen Gründen mit Leistungen der Sozialhilfe wieder zur Verfügung stellen müsste (vgl. Stein/Jonas/Münzberg, ZPO 22. Aufl. § 811 Rz. 1-7; Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufige Vollstreckbarkeit 3. Aufl. § 811 ZPO Rz. 1; Zöller/Stöber, ZPO 24. Aufl. § 811 Rz. 1, 3; Schneider/Becher, DGVZ 1980, 177, 178 f.).
Die Auslegung des Umfangs der Pfändungsverbote muss der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Deshalb kommt der Entstehungsgeschichte des § 811 Abs. 1 ZPO gegen Ende des 19. Jahrhunderts und älterer Rechtsprechung zu den Pfändungsverboten nur eine begrenzte Bedeutung zu (vgl. Stein/Jonas/Münzberg, a. a. O. § 811 Rz. 7; Schuschke/Walker, a. a. O. § 811 Rn. 1 a. E.; Zöller/Stöber, a. a. O. Rz. 1, 3; Thomas/Putzo/Reichold, a. a. O. § 811 Rz. 1; Schneider/Becher, DGVZ 1980, 177, 184 f.). Daher muss die Auslegung den Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen.
Für die Auslegung der Pfändungsverbote nach § 811 Abs. 1 ZPO ist weiterhin das gewandelte Verständnis in der Gesellschaft über die soziale Stellung behinderter Menschen von Bedeutung. Deren Rechte wurden, wie die jüngere Gesetzgebung zeigt, in den letzten Jahren bewusst gestärkt. Mit der Einfügung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 in das Grundgesetz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, wurde der Gleichstellung von behinderten mit nicht behinderten Menschen Verfassungsrang eingeräumt. Weitere wichtige Gesetze sind in diesem Zusammenhang das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGBG IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (eingeführt durch Gesetz v. 19.6.2001, BGBl. I, S. 1046 ff.) und das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze v. 27.4.2002 (BGBl. I, S. 1467 ff.). Aus dieser Gesetzgebung ergibt sich, dass - soweit dies durch medizinische und technische Maßnahmen möglich ist - behinderte Menschen in das gesellschaftliche Leben integriert und die mit ihrer Behinderung verbundenen Nachteile verringert werden sollen.
b) Die Auslegung des § 811 Abs. 1 ZPO nach den dargestellten Auslegungskriterien führt zu dem Ergebnis, dass der Pkw eines außergewöhnlich gehbehinderten Schuldners im Regelfall nicht der Pfändung unterliegt (vgl. LG Lübeck DGVZ 1979, 25; AG Germersheim DGVZ 1980, 127; Pardey, DGVZ 1987, 162, 171). Denn bei der erforderlichen Abwägung mit dem durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Befriedigungsrecht des Gläubigers in der Zwangsvollstreckung (BGHZ 141, 173, 177; BGH, Beschl. v. 12.12.2003 - IXa ZB 115/03, WM 2004, 394, 397) überwiegt das Schutzinteresse des Schuldners aus sozialen Gründen. Einem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen gibt erst die Benutzung eines Kraftfahrzeugs die Chance, die infolge seiner Gehbehinderung vorhandenen Nachteile auszugleichen oder zu verringern und angemessen am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. Dazu gehören nicht nur Fahrten für Arztbesuche, Krankenbehandlungen oder Einkäufe, sondern auch solche zur Pflege sozialer Kontakte. Ohne ein Kraftfahrzeug wäre er in seiner Lebensführung stark eingeschränkt und im Vergleich zu einem nicht behinderten Menschen entscheidend benachteiligt. Dies gilt auch für den Fall, dass dieses nicht speziell für einen Behinderten ausgestattet ist.
Auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder eines Taxis darf ein außergewöhnlich gehbehinderter Schuldner nur ausnahmsweise verwiesen werden, wenn bereits dadurch eine ausreichende Kompensation eintritt (vgl. Pardey, DGVZ 1987, 162, 171). Denn es kommt für die Auslegung des § 811 Abs. 1 ZPO nicht entscheidend darauf an, ob ein Fahrzeug für ihn unentbehrlich ist. Vielmehr ist ein Pfändungsverbot schon dann anzunehmen, wenn die Benutzung des Pkw dazu geeignet ist, die schwere Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern (vgl. LG Hannover DGVZ 1985, 121; LG Lübeck DGVZ 1979, 25). Denn zum einen sind öffentliche Verkehrsmittel vielfach noch nicht behindertengerecht ausgestattet; zum anderen kann ein außergewöhnlich gehbehinderter Schuldner die Wege zu und von den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel und das "Umsteigen" während der Fahrten wegen seiner Gehbehinderung im Normalfall nicht oder nur schwer bewältigen. Die regelmäßige Benutzung eines Taxis ist ihm nicht zumutbar, weil sie zu erheblichen finanziellen Belastungen führen würde. Soweit die Kosten im Einzelfall von der Krankenversicherung (vgl. § 60 SGB V) oder der Sozialhilfe übernommen würden, ginge dies zu Lasten öffentlicher Mittel.
c) Die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) als wichtige Auslegungshilfen bestätigen das Pfändungsverbot. Nach § 3 Abs. 1 BSHG richten sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe u. a. nach der Person des Hilfsempfängers und der Art seines Bedarfs. Dem § 12 Abs. 1 S. 2 BSHG ist zu entnehmen, dass zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens in einem vertretbaren Umfang auch die Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben gehören. Deshalb fällt der Pkw eines gehbehinderten Hilfebedürftigen, der in seiner Mobilität stark eingeschränkt ist, regelmäßig nicht unter das Vermögen, das er vor Erhalt von Sozialhilfe einzusetzen hat (vgl. Schellerer, BSHG 16. Aufl. § 88 Rz. 75; Brühl in LPK-BSHG 6. Aufl. § 88 Rz. 77; OVG Hamburg FEVS 46, 110), weil er das Fahrzeug für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben benötigt. Im Rahmen der Eingliederungshilfe (vgl. §§ 39, 40 BSHG i. V. m. § 8 Eingliederungshilfe-Verordnung) kann einem Gehbehinderten im Einzelfall ein Anspruch auf die Mittel zur Beschaffung und zum Halten eines Kraftfahrzeugs zustehen. Entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass er wegen der Art und Schwere seiner Behinderung nach seinen gesamten Lebensverhältnissen regelmäßig auf die Benutzung eines Pkw angewiesen ist und vergleichbar gewichtige Gründe vorliegen wie die Eingliederung in das Arbeitsleben (vgl. BVerwGE 55, 31, 33 und 111, 328, 330 f.; HessVGH FEVS 47, 86, 87 ff).
d) Im Streitfall ist der Schuldner so außergewöhnlich gehbehindert, dass sein Pkw BMW gem. § 811 Abs. 1 ZPO der Pfändung entzogen ist. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist ihm vom Versorgungsamt u. a. wegen Verschleißerscheinungen der Gelenke, Arthrose der Hüftgelenke mit Funktionseinschränkung, Muskelminderung der Beine und wegen Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen das Merkzeichen "aG" ("außergewöhnlich gehbehindert") zuerkannt worden, was nur bei einer sehr schweren Gehbehinderung geschieht (vgl. BSG ZfS 1982, 217, 218). Wie sich aus dem weiteren Merkzeichen "B" ergibt, ist er in seiner Gehfähigkeit so sehr eingeschränkt, dass er bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel der ständigen Begleitung bedarf. Er kann nur kurze Wegstrecken mit Krücken zurücklegen und muss sich im Übrigen im Rollstuhl fortbewegen. Bei dieser Sachlage benötigt er wegen seiner außergewöhnlichen Gehbehinderung ein Kraftfahrzeug, um am Leben in der Gesellschaft teilnehmen zu können, weil ihm die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder von Taxis nicht zumutbar ist.
Fundstellen
Haufe-Index 1141275 |
DB 2004, 1829 |
BGHR 2004, 984 |
EBE/BGH 2004, 1 |
FamRZ 2004, 870 |
NJW-RR 2004, 789 |
JurBüro 2004, 444 |
KTS 2004, 415 |
WM 2004, 935 |
ZAP 2004, 529 |
DAR 2004, 350 |
InVo 2004, 285 |
KKZ 2005, 34 |
MDR 2004, 833 |
NZV 2004, 293 |
Rpfleger 2004, 428 |
VuR 2005, 108 |
ZfS 2004, 406 |
br 2004, 107 |
JWO-VerkehrsR 2004, 138 |
RENOpraxis 2004, 136 |
ZVI 2004, 237 |
ProzRB 2004, 268 |