Verfahrensgang
LG Aurich (Urteil vom 01.02.2017) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 1. Februar 2017 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2, § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Ergänzend bemerkt der Senat:
1. Die Verfahrensbeanstandung, mit der der Beschwerdeführer die rechtsfehlerhafte Ablehnung des Antrags auf Vernehmung des Zeugen S. rügt, ist unbegründet.
Zwar genügt die Begründung des Ablehnungsbeschlusses nicht den Anforderungen, die an die Darlegung der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 Variante 2 StPO zu stellen sind; auf diesen Ablehnungsgrund hat die Strafkammer die Entscheidung ersichtlich tragend gestützt. Es reicht als Begründung nicht hin, die Ablehnung – wie die Strafkammer – allein auf die inhaltslose Aussage zu stützen, dass die behauptete Hilfstatsache für den Fall ihres Erwiesenseins „nur einen möglichen, nicht aber zwingenden Schluss” zulasse und „das Gericht auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses den gewünschten Schluss nicht ziehen” wolle. Erforderlich ist vielmehr in aller Regel, dass der Beschluss konkrete fallbezogene Erwägungen darüber enthält, warum das Tatgericht aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen will. Die Anforderungen an diese Begründung entsprechen im Grundsatz denjenigen, denen das Tatgericht genügen müsste, wenn es die Hilfstatsache durch Beweiserhebung festgestellt und sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, weshalb sie auf seine Überzeugungsbildung ohne Einfluss geblieben ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 1. Oktober 2013 – 3 StR 135/13, NStZ 2014, 110, 111; vom 5. August 2015 – 1 StR 300/15, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 30; vom 13. Dezember 2016 – 3 StR 193/16, NStZ-RR 2017, 119; ferner LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 225 mwN).
Jedoch beruht das Urteil nicht auf dem Verfahrensverstoß (s. § 337 Abs. 1 StPO). Denn die tatsächliche Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache lag und liegt hier aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen auf der Hand; es ist auszuschließen, dass die Prozessführung der Verteidigung durch die unzulängliche Begründung des Ablehnungsbeschlusses beeinträchtigt wurde (s. hierzu BGH, Beschluss vom 16. Januar 2007 – 4 StR 574/06, NStZ 2007, 352; vom 10. November 2015 – 3 StR 322/15, NStZ-RR 2016, 117, 118; LR/Becker aaO, Rn. 226).
2. Die Strafzumessung begegnet in einem Punkt sachlichrechtlichen Bedenken: Die Strafkammer hat die seit den Taten bis zur Urteilsverkündung vergangene Zeitspanne von zwölf bis 13 Jahren nur einschränkend zugunsten des Angeklagten gewürdigt, weil diesem Umstand in Fällen des sexuellen Kindesmissbrauchs „nicht die gleich hohe Bedeutung” wie sonst zukomme. Eine derartige pauschale Relativierung der strafmildernden Wirkung des zeitlichen Abstands zwischen Deliktsbegehung und Urteil ungeachtet einzelfallbezogener Feststellungen ist rechtsfehlerhaft; sie folgt insbesondere nicht aus einem allgemeinen Rechtsgedanken, welcher der Verjährungsvorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB entnommen werden könnte (vgl. – in Abkehr von früherer anderslautender Rechtsprechung – BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17, juris).
Die von der Strafkammer festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen und die hieraus gebildete Gesamtfreiheitsstrafe sind indes angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a Satz 1 StGB.
Die Angemessenheit einer Rechtsfolge hat das Revisionsgericht auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere der nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände, zu beurteilen. Das ist hier auch möglich, weil alle für die Strafzumessung erforderlichen Feststellungen von der Strafkammer getroffen worden sind und es daher keiner weiteren Feststellungen mehr bedarf. Ein Senatshinweis auf ein Vorgehen nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO war nicht geboten, weil der Angeklagte auf Grund der Antragsschrift des Generalbundesanwalts Kenntnis von einer im Raum stehenden Strafzumessungsentscheidung im Revisionsverfahren erlangt hat; er hat hierzu auch Stellung genommen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers steht der Anwendung des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO auf die für die Taten 1 bis 12 sowie 14 bis 18 verhängten Strafen nicht entgegen, dass bei rechtsfehlerfreier Strafzumessung die für minder schwere Fälle vorgesehenen milderen Strafrahmen des § 176 Abs. 1 Halbsatz 2 StGB aF bzw. des § 176a Abs. 3 Halbsatz 1 StGB aF in Betracht kämen. Dabei kann hier dahinstehen, inwieweit eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO auch dann möglich ist, wenn das Tatgericht von einem unzutreffenden Strafrahmen ausgegangen ist (so BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2004 – 2 StR 381/04, NStZ-RR 2005, 76, 77; vom 26. April 2006 – 2 StR 61/06, juris Rn. 3; vom 16. Januar 2007 – 4 StR 524/06, juris Rn. 6; vom 13. Oktober 2009 – 5 StR 347/09, NStZ-RR 2010, 21; vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. Januar 2008 – 5 StR 554/07, NStZ-RR 2008, 182, 183 [zu § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO]), oder ob ein solches Vorgehen des Revisionsgerichts ausgeschlossen ist, wenn ein anderer Strafrahmen zugrunde zu legen ist (so BGH, Beschlüsse vom 1. Dezember 2006 – 2 StR 495/06, StV 2008, 176; vom 18. Mai 2010 – 3 StR 140/10, NStZ 2010, 714) oder – wie die Revision geltend macht – in Betracht kommt (so BGH, Beschluss vom 4. Februar 2010 – 4 StR 585/09, StraFo 2010, 159). Denn hier lagen minder schwere Fälle im Sinne der genannten Vorschriften auch bei uneingeschränkter strafmildernder Gewichtung des Zeitablaufs seit den Taten offensichtlich nicht vor (zu einem anderen derartigen Evidenzfall s. BGH, Beschluss vom 11. August 2009 – 3 StR 175/09, JR 2011, 177, 180). Das jeweilige Tatbild war geprägt von der spezifischen Ausgestaltung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger im Rahmen der langfristigen individualpädagogischen Maßnahme, wie es in den Urteilsgründen näher beschrieben ist (vgl. UA S. 33). Darüber hinaus handelt es sich vorliegend um eine Tatserie über einen langen Zeitraum hinweg mit einer durch die 18-malige Deliktsbegehung gesteigerten Beeinträchtigung der durch § 174 Abs. 1 StGB aF sowie §§ 176, 176a StGB aF geschützten Rechtsgüter.
Auf der Grundlage des zutreffend ermittelten, vollständigen und aktuellen Strafzumessungssachverhalts kann der Senat daher diese und die weiteren für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht selbst abwägen und entscheiden, dass die Einzelstrafen, die die Strafkammer nach der Intensität der Sexualkontakte abgestuft hat, ebenso wie die Gesamtstrafe angemessen sind.
Unterschriften
Schäfer, Gericke, Tiemann, Berg, Hoch
Fundstellen
Haufe-Index 11373552 |
NStZ-RR 2018, 41 |
StV 2018, 779 |