Normenkette
StPO §§ 112, § 112 ff., § 112 Abs. 2 Nr. 2; StGB § 51 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22. Februar 2022 (5 - 2 StE 7/20) wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Angeklagte wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 118/20), nunmehr aufgrund des am 28. Juli 2021 verkündeten Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 (5 - 2 StE 7/20).
Rz. 2
Gegenstand des derzeit vollstreckten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe im Februar 2020 eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) - die "Gruppe " - unterstützt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB).
Rz. 3
Mit Beschlüssen vom 3. September 2020 (AK 24/20), vom 15. Dezember 2020 (AK 43/20) und vom 25. März 2021 (AK 19-28/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.
Rz. 4
Der Generalbundesanwalt hat am 4. November 2020 Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13. April 2021 an.
Rz. 5
Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2022 hat der Angeklagte durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des Oberlandesgerichts aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 22. Februar 2022 abgelehnt. Zur Begründung hat es zum dringenden Tatverdacht und zur fortbestehenden Fluchtgefahr ausgeführt. Die Straferwartung hat es mit Blick auf mehrere Strafmilderungsgründe dahin konkretisiert, dass der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen habe, welche die von ihm bereits erlittene Untersuchungshaft "um einige Monate übersteigen" werde. Es hat eine vorzeitige Strafaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB angesichts der tief verwurzelten rechtsradikalen Gesinnung des Angeklagten als unwahrscheinlich angesehen und angenommen, dass von dem somit "weiterhin drohenden Vollzug einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe" ein erheblicher Fluchtanreiz ausgehe.
Rz. 6
Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich gegen die Annahme von Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Rz. 7
Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde, die sich zutreffend gegen den Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts vom 22. Februar 2022 als die zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung richtet (s. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Rz. 8
1. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl vom 26. Juli 2021 angelasteten Taten weiterhin dringend verdächtig. Dies folgt aus dem Inhalt der Sachakten und den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen, zu denen das Oberlandesgericht im angefochtenen Haftbefehl und in seiner Entscheidung vom 22. Februar 2022 im Einzelnen Stellung genommen hat (zu den Maßstäben, nach denen das Beschwerdegericht nach st. Rspr. die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht zu prüfen hat, s. etwa BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 16 f. mwN). Die Darlegung der bisherigen Beweisergebnisse trägt die Annahme des dringenden Tatverdachts und genügt den Anforderungen an Nachvollziehbarkeit sowie Plausibilität. Eine abschließende Analyse der gewonnenen Beweisergebnisse ist dem Urteil vorbehalten.
Rz. 9
In rechtlicher Hinsicht ist der geschilderte Sachverhalt im angegriffenen Haftbefehl zutreffend gewürdigt.
Rz. 10
2. Mit dem Wegfall des dringenden Tatverdachts in Bezug auf die angeklagte Beteiligung als Mitglied in einer terroristischen Vereinigung nach § 129a Abs. 1 StGB entfällt der - subsidiäre - Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO. Es besteht aber weiter derjenige der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Dieser setzt voraus, dass es bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände wahrscheinlicher ist, dass sich der Angeklagte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Das ist hier der Fall.
Rz. 11
Zwar hat sich die subjektive Straferwartung des Angeklagten mittlerweile erheblich reduziert. Hierfür ist die zu verbüßende Zeit maßgeblich, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 23). Bei dem Zwei-Drittel-Termin des § 57 Abs. 1 StGB handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets ausscheidet (BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018 Rn. 12; OLG Frankfurt, Beschluss vom 4. Dezember 2018 - 1 Ws 186/18, juris Rn. 14; BeckOK StPO/Krauß, 42. Ed., § 112 Rn. 46). Dem Tatgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt bei der diesbezüglichen Einschätzung ein Beurteilungsspielraum zu.
Rz. 12
Eine schematische Betrachtung anhand anderer genereller Größenordnungen, etwa die Forderung einer verbleibenden Haftfortdauer von einem bestimmten Zeitraum, verbietet sich bei der Prüfung der Fluchtgefahr ebenfalls (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 23 mwN; KK-StPO/Graf, 8. Aufl., § 112 Rn. 20 mwN).
Rz. 13
Bei der im Raum stehenden schwerwiegenden Tat mit terroristischem Bezug, die ihren Ursprung in ausländerfeindlichen und rassistischen Motiven des Angeklagten findet, ist für die Aussetzungsentscheidung zudem das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ein bedeutender Umstand (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 Rn. 13 mwN). Aus der Natur dieser Art von Straftaten folgt regelmäßig eine besondere Gefahr, dass sich Beschuldigte in den Untergrund absetzen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl., § 112 Rn. 23). So liegt es auch bei diesem Angeklagten. Nach derzeitigem Ermittlungsstand war er angesichts der ihm vorgeworfenen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit bemüht, den Staat und seine Institutionen zu bekämpfen, und bereit, hierfür persönlich viel zu riskieren. Das Oberlandesgericht hat nach der bisherigen Beweisaufnahme nicht erkennen können, dass insoweit bei ihm ein Sinneswandel eingetreten ist und er mit der rechtsextremen Szene gebrochen hat. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass der Angeklagte nunmehr bereit ist, sich den Strafverfolgungsbehörden und damit dem von ihm verhassten "System" freiwillig zu stellen.
Rz. 14
Im Fall des Untertauchens kann der Angeklagte außerdem mit Unterstützung aus rechtsextremistischen Kreisen rechnen. Er gehört dieser Szene seit vielen Jahren an, war Vizepräsident der Gruppierung " " und Chef der " ".
Rz. 15
Fluchthemmende Umstände sind ebenfalls nicht erkennbar. Der Angeklagte lebte vor seiner Inhaftierung allein und hatte weder eine Arbeit, noch führte er eine Beziehung. Von der Mutter seiner Tochter ist er seit vielen Jahren getrennt. Über die Wohnmöglichkeit in O. bei S., über die der Angeklagte im Fall einer Aufhebung des Haftbefehls verfügen will, ist Näheres nicht bekannt. Seine sozialen Bezüge außerhalb der rechtsextremistischen Szene und deren Tragfähigkeit bleiben damit unklar.
Rz. 16
Nach allem sprechen derzeit die überwiegenden Gründe weiterhin dafür, dass er sich im Fall seiner Haftentlassung dem Verfahren entziehen wird.
Rz. 17
3. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
Rz. 18
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Rz. 19
a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).
Rz. 20
b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.
Rz. 21
aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.
Rz. 22
bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. KG, Beschluss vom 31. August 2007 - 1 AR 1207/07 - 1 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).
Rz. 23
Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 - 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 426).
Rz. 24
Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.
Schäfer Berg Erbguth
Fundstellen
Haufe-Index 15217690 |
NStZ-RR 2022, 209 |