Verfahrensgang
LG Kassel (Urteil vom 09.03.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 9. März 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung.
1. Nach den Feststellungen beschloß der aus Pakistan stammende, seit 1992 in Deutschland lebende Angeklagte, der strenggläubiger Moslem und Mitglied der A.-Gemeinde ist, am 21. März 2003, den ebenfalls aus Pakistan stammenden Zeugen R. zu töten, weil dieser im März 2003 im Besitz von sechs Fotografien gewesen war, welche Portraitaufnahmen einer Tochter des Angeklagten ohne Kopftuch oder Schleier zeigten; hierdurch fühlte der Angeklagte seine sowie die Ehre seiner Tochter verletzt und seinen guten Ruf sowie das Ansehen seiner Gemeinde beschädigt. Eine Vermittlung durch den Gemeindevorsitzenden war beabsichtigt, aber noch nicht zustande gekommen. Am 19. März 2003 hatte der Angeklagte dem Bruder des R. mitgeteilt, letzterer müsse sich öffentlich entschuldigen, sonst werde der 21. März der letzte Tag seines Lebens sein.
Am 21. März 2003 trank der Angeklagte – nach den Feststellungen möglicherweise unter Verkennung der Wirkung von Alkohol in suizidaler Absicht – etwa 0,4 l Whisky. Dann begab er sich unter Mitführen eines langen Messers und eines Handbeils zur Wohnung des R., um diesen zu töten; seine Blutalkoholkonzentration betrug maximal 2,37 Promille.
Auf dem Weg zu dem Tatort rief der Angeklagte den R. an, beschimpfte diesen und kündigte sein Eintreffen an. An dem Mietshaus angekommen, in welchem die Familie des R. wohnte, forderte der Angeklagte über die Haussprechanlage die Ehefrau des Zeugen auf, diesen nach unten zu schicken, da er ihn töten wolle. R. reagierte hierauf nicht. Der Angeklagte gelangte nun in das Treppenhaus, begab sich zur Wohnungseingangstür des R. im 3. Stock, klingelte und schlug gegen die Wohnungstür und forderte den Zeugen laut auf herauszukommen, damit er ihn umbringen könne. Der Zeuge öffnete nicht, sondern begab sich mit seiner Familie auf den Balkon der Wohnung.
Der Angeklagte verließ nun das Haus wieder und begab sich, das Beil offen tragend, zu einem Haus in der Nachbarschaft. Er wurde kurze Zeit später festgenommen, nachdem mehrere Anwohner die Polizei verständigt hatten. Gegenüber dem Haftrichter äußerte der Angeklagte am Folgetag, „wenn die Polizei nicht eingegriffen hätte, hätte er den R. getötet. In Pakistan wäre R. schon längst wegen dieser Angelegenheit umgebracht worden” (UA S. 10).
2. Auf diese Feststellungen konnte die Verurteilung wegen versuchten Totschlags nicht gestützt werden. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, der Angeklagte habe zum Totschlag unmittelbar im Sinne des § 22 StGB angesetzt, indem er versucht habe, „in die Wohnung einzudringen und sein Vorhaben … sofort nach Öffnen der Wohnungstür in die Tat umzusetzen” (UA S. 31). Er habe dadurch das geschützte Rechtsgut in eine konkrete nahe Gefahr gebracht, weil er in der Erwartung gehandelt habe, daß die Tür geöffnet und er seine Waffen dann alsbald gegen R. einsetzen werde. Ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch gemäß § 24 Abs. 1 StGB liege nicht vor. Der Angeklagte sei nicht freiwillig zurückgetreten, da „er sich außer Stande sah, die Wohnungstür … aufzubrechen und sein Vorhaben … in die Tat umzusetzen” (UA S. 32).
Das Landgericht hat hierbei die Voraussetzungen des § 22 StGB und des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB zwar allgemein zutreffend beschrieben; es hat aber nicht in dem erforderlichen Maße geprüft, ob diese Voraussetzungen hier konkret gegeben waren.
a) Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen bleibt schon unklar, ob nach der Vorstellung des Angeklagten, auf welche es gemäß § 22 StGB ankommt, ein unmittelbares Ansetzen zur Tat überhaupt gegeben war. Soweit der Generalbundesanwalt insoweit auf die Entscheidung BGHSt 26, 201, 203 f. verwiesen hat, in welcher das Überschreiten der Versuchsschwelle zum Raub in einem Klingeln an der Wohnungstür des beabsichtigten Opfers in der Absicht, alsbald nach Öffnen mit Gewalt auf die öffnende Person einzuwirken, gesehen wurde (vgl. auch BGHSt 39, 236, 238; BGH NStZ 1984, 506), wird dabei eine wesentliche Abweichung im Sachverhalt übersehen. In den genannten Fällen war das jeweilige Opfer nämlich nach der Vorstellung des Täters ahnungslos; eben hierauf war die geplante Tatausführung gestützt. Außerdem waren die Täter jeweils entschlossen, auf die – d. h. jede beliebige – öffnende Person mit Gewalt einzuwirken.
Hiermit kann der vorliegende Fall nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Der Angeklagte hatte zunächst telefonisch, sodann vom Hauseingang aus dem Zeugen R. mitgeteilt bzw. mitteilen lassen, er möge herauskommen, damit er – der Angeklagte – ihn töten könne. Er wußte außerdem, daß sich in der Wohnung nicht allein der R., sondern auch mehrere Familienangehörige aufhielten. Der Angeklagte konnte daher bei halbwegs realistischer Betrachtung nicht annehmen, der R. werde aufforderungsgemäß die Tür öffnen, um sich töten zu lassen. Denkbar wäre auch, daß er damit rechnete, die Ehefrau des R. oder eines von dessen Kindern werde die Tür öffnen. Was er für diesen Fall geplant hatte, ist nicht festgestellt.
Zumindest nicht fernliegend wäre aber vor allem die Erwartung, der R. werde heraus- (oder herunter-) kommen und sich einem Kampf mit dem Angeklagten stellen. Hierfür spricht der nach der Lebenserfahrung naheliegende Sinn der Äußerungen des Angeklagten vor der Haustür und vor der Wohnungstür; ferner der Umstand, daß er sich nach dem Verlassen des Hauses zunächst weiterhin in dessen Nähe aufhielt; schließlich vor allem auch die Einlassung vor dem Haftrichter, er hätte den R. getötet, „wenn die Polizei nicht eingegriffen hätte”. Diese Einlassung ist mit den Feststellungen nicht vereinbar, wonach der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Festnahme den Versuch längst als fehlgeschlagen erkannt hatte. Sie könnte aber darauf hindeuten, daß der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt (immer noch) auf den R. wartete, um seinen Plan umzusetzen. Das Landgericht hat sich hiermit nicht auseinandergesetzt.
Die Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild des Angeklagten lassen daher verschiedene Möglichkeiten offen, in denen das Klingeln an der Tür noch nicht als Überschreiten der Schwelle zum Versuch angesehen werden könnte, weil der Beginn der Tathandlung noch unter einem subjektiven Vorbehalt stand (vgl. hierzu den Fall BGH NStZ 1999, 395; zur Abgrenzung auch Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl., § 22 Rdn. 10 ff. m. w. N.). Der neue Tatrichter wird insoweit das Vorstellungsbild des Angeklagten genauer als bisher geschehen aufzuklären haben.
b) Auch die Ablehnung eines Rücktritts gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 (1. Alt.) StGB begegnet insoweit rechtlichen Bedenken, als tatsächliche Feststellungen nicht in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise umfassend gewürdigt sind. Die Beurteilung, der Rücktritt sei nicht freiwillig im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB erfolgt, stimmt mit den Feststellungen nicht überein, denn danach war der Versuch fehlgeschlagen; auf Freiwilligkeit wäre es daher nicht angekommen (vgl. BGHSt 34, 53, 56; 35, 90, 94; 39, 221, 227; 41, 369; Tröndle/Fischer aaO § 24 Rdn. 6 f. m. w. N.).
Die Annahme eines – als unfreiwillig bezeichneten – Fehlschlags hat das Landgericht darauf gestützt, der Angeklagte habe sich „außer Stande (gesehen), die Wohnungstür … aufzubrechen” (UA S. 32). Das ist mit den Feststellungen nicht vereinbar. Danach schlug und trat der Angeklagte gegen die Tür und rief laut. Er setzte weder das 28 cm lange „Survival-Messer” noch das Beil ein, um die Wohnungstür aufzubrechen; auch die Schläge und Tritte dienten ersichtlich nicht dem Aufbrechen der Tür. Es ist auch nicht ersichtlich, warum dies dem Angeklagten angesichts der mitgeführten Werkzeuge nicht hätte gelingen sollen, wenn er es gewollt hätte. Auch insoweit leidet das Urteil daher an einem Mangel konkreter Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild des Angeklagten.
3. Sollte der neue Tatrichter wiederum zur Annahme eines versuchten Tötungsdelikts gelangen, wird er der Frage, ob die Tat aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB begangen wurde, vertiefte Beachtung zu schenken haben. § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO stünde einer Verschlechterung des Schuldspruchs nicht entgegen (BGHSt 14, 5, 7; 21, 256, 260; 29, 63, 66; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl., § 331 Rdn. 8, § 358 Rdn. 11 m. w. N.).
Das Landgericht hat insoweit nur ausgeführt, die Motive des Angeklagten seien nicht als auf niedriger Gesinnung beruhend zu werten (UA S. 32). Dies läßt jede konkrete Würdigung vermissen. Daß die Absicht, einen Menschen wegen des Besitzes von Portraitfotos einer (unverschleierten) Frau mit einem Beil zu erschlagen, nicht als achtenswertes Motiv angesehen werden kann, liegt auf der Hand. Dasselbe gilt grundsätzlich für die abwegigen Annahmen, durch ein solches Verhalten sei die „Familienehre” oder die Ehre einer religiösen Glaubensgemeinschaft verletzt. Vielmehr würde die Tötung eines Menschen allein aus diesem objektiv belanglosen Grund zu dem Anlaß gänzlich außer Verhältnis stehen; die Annahme, gleichwohl eine exemplarische „Bestrafung” vollstrecken zu sollen, stünde außerhalb der in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Bewertungsverhältnisse.
Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Angeklagte aufgrund sozialkultureller Prägung diese Wertungen nicht oder nur wesentlich eingeschränkt gekannt hätte und hätte nachvollziehen können (dazu im einzelnen Senatsurteil vom 28. Januar 2004 – 2 StR 452/03; vgl. auch Tröndle/Fischer aaO § 211 Rdn. 14 m. w. N.). Das liegt bei einem seit elf Jahren in Deutschland lebenden Täter nicht nahe. Die Äußerung des Angeklagten gegenüber dem Haftrichter, in Pakistan wäre der R. „schon längst umgebracht worden”, deutet darauf hin, daß er sich – unterstellt, es gebe entsprechende Anschauungen in Pakistan – des gravierenden Bewertungsunterschieds durchaus bewußt war. Im übrigen ist weder festgestellt, daß eine entsprechende Tat nach pakistanischem Recht gerechtfertigt wäre oder milder beurteilt würde, noch daß der Angeklagte dies annahm. Das bloße Verhaftet-Sein in sektiererischen „Überzeugungen” und nicht allgemein gültigen Ehr- oder Rachevorstellungen begründet jedenfalls dann keine mildere Bewertung objektiv niedriger Beweggründe, wenn der Täter den Widerspruch zur allgemeinen Anschauung kennt und an seiner abweichenden Bewertung gleichwohl uneinsichtig starr festhält.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Bode, Fischer, Roggenbuck
Fundstellen
Haufe-Index 2557754 |
JuS 2005, 186 |
StraFo 2005, 38 |