Entscheidungsstichwort (Thema)
fahrlässige Tötung
Leitsatz (amtlich)
1. Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer durch Fahrlässigkeit des Abwehrenden zu Schaden, so ist in den Grenzen dessen, was als Abwehrhandlung objektiv erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines deliktischen Erfolges auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom Abwehrenden nicht gewollt war und bei Anwendung der ihm möglichen Sorgfalt hätte vermieden werden können.
2. Zu den Grenzen der Notwehr und der strafbefreienden Notwehrüberschreitung bei einem Angriff auf die Person nach gewaltsamem nächtlichem Eindringen in die Wohnung des Verteidigers und beim Einsatz einer lediglich mit einer Patrone geladenen Schußwaffe als Abwehrmittel.
Normenkette
StGB §§ 32-33
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 18. Oktober 2000 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit vorsätzlichem Ausüben der tatsächlichen Gewalt über eine halbautomatische Selbstladewaffe in zwei Fällen zur Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und einen Revolver sowie eine Selbstladepistole eingezogen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung sachlichen Rechts; sie hat Erfolg.
I.
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen verfügte der Angeklagte über eine Waffenbesitzkarte für sogenannte Langwaffen, nicht aber für einen Revolver und eine Pistole, die er im Jahr 1991 erworben hatte. Den Revolver setzte er am 27. Februar 2000 in einer Nothilfelage ein:
In der Tatnacht schliefen der 66jährige Angeklagte und seine Lebensgefährtin, die Zeugin P., in ihrer Wohnung. Der Angeklagte, der wegen eines Bandscheibenleidens und einer chronischen Handgelenksarthrose bereits 1996 berentet wurde, hatte vor dem Zubettgehen Medikamente, darunter ein Schmerzmittel eingenommen. Gegen 0.45 Uhr läutete der betrunkene Schwiegersohn der Lebensgefährtin, V., an der Haustür, stürmte nach deren Öffnung bis zur Wohnungstür des Angeklagten im zweiten Stock und trat diese gewaltsam ein. V. hatte eine Blutalkoholkonzentration von etwa 2,2 Promille; er neigte im alkoholisierten Zustand zu Gewalttätigkeiten und hatte zuvor anderenorts eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gehabt. Er hatte diese zu Boden geschlagen, nachdem sie sich geweigert hatte, mit den gemeinsamen drei kleinen Kindern in dem von V. gesteuerten Pkw nach Hause zu fahren. Es war ihr gelungen, mit einem der Kinder vor V. zu flüchten und sich zu verstecken.
Nachdem V. in die Wohnung des Angeklagten und seiner Schwiegermutter, der Zeugin P., eingedrungen war, packte er die Zeugin, beschimpfte sie und versuchte, sie aus der Wohnung zu ziehen. Der Angeklagte versuchte beruhigend auf V. einzuwirken; dieser schubste ihn jedoch zurück, worauf der Angeklagte zu Boden fiel. Unter weiteren Beschimpfungen und der Drohung, sie umzubringen, gelang es V., die sich heftig wehrende und laut schreiende Zeugin P. am Nachthemd und an den Haaren in das Treppenhaus zu ziehen. Dort ging sie zu Boden. Er zerrte sie nun nach und nach die Treppe hinunter. Daraufhin lief der Angeklagte in sein Schlafzimmer und nahm dort aus dem Nachttischchen den Revolver der Marke „Sturm-Ruger”, der mit einer scharfen Patrone geladen war. Er war noch „ganz leicht benommen”, da er kurz zuvor aus dem Schlaf gerissen worden war und die eingenommenen Medikamente (Valoron und Voltaren) „noch leicht wirkten”. Obwohl er selbst die Patrone in den Revolver geladen hatte, war ihm diese Tatsache in der konkreten Situation nicht bewußt; denn der Vorgang lag bereits mehrere Jahre zurück. Er ging daher fälschlicherweise davon aus, der Revolver sei nicht geladen.
Im Treppenhaus hatte V. die Zeugin P., die sich immer wieder am Geländer festzuhalten versuchte, inzwischen drei Treppenabsätze nach unten gezogen. Beim Eintreffen des Angeklagten lag sie gerade mit dem Rücken auf dem Podest zwischen Erdgeschoß und erstem Stock, wobei sich ihre Füße noch auf den untersten Stufen in Richtung des ersten Obergeschosses befanden. V. hielt sie an den Haaren und zog daran. Er beschimpfte sie, bedrohte sie weiter und trat mehrfach mit den Füßen auf sie ein. Um weitere Körperverletzungshandlungen des V. gegen sie zu verhindern, richtete der Angeklagte aus einer Entfernung von weniger als zwei Metern den Revolver auf dessen Gesichtsbereich und zog den Abzug schnell hintereinander drei- oder viermal durch. Er hoffte, V. werde erschrecken und von der Zeugin P. ablassen. Bei der wiederholten Betätigung des Abzuges löste sich ein Schuß, der V. unmittelbar unterhalb der Nase traf, im dritten Halswirbel stecken blieb und binnen kurzer Zeit zu dessen Tod führte.
2. Das Landgericht nimmt an, der Angeklagte habe in einer Nothilfelage mit Verteidigungswillen gehandelt, jedoch fahrlässig das Maß des zur Abwehr des Angriffs Erforderlichen überschritten; er habe Drohen, nicht Schießen wollen. Auch sei dem Angeklagten vor dem Schußwaffengebrauch eine deutliche Ankündigung und Warnung abzuverlangen gewesen. Sein Irrtum über den Ladezustand des Revolvers sei für ihn leicht erkennbar und vermeidbar gewesen. Er habe sich durch einfaches Aufklappen der Revolvertrommel vom Ladezustand der Waffe überzeugen können. Sein Handeln sei auch nicht entschuldigt (nach § 33 StGB), weil er nicht aus Verwirrung, „gesteigerter Furcht” oder Schrecken das Maß des durch Nothilfe Gerechtfertigten überschritten habe.
II.
Die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Urteilsgründe lassen besorgen, daß das Landgericht die Grenzen des Notwehrrechts nicht zutreffend bestimmt hat; zudem sind die zugrundeliegenden Feststellungen ebenso wie die tatsächliche Würdigung lückenhaft. Darüber hinaus leiden die Ausführungen zur Frage einer strafbefreienden Überschreitung der Grenzen der Notwehr an einem Erörterungsmangel. Hinsichtlich des Ausübens der tatsächlichen Gewalt über den in der Notwehrlage eingesetzten Revolver ist die Strafkammer von einem zu weitgehenden Schuldumfang ausgegangen. Schließlich ist die Annahme von Tateinheit zwischen den Waffendelikten und dem etwaigen Tötungsdelikt rechtsfehlerhaft.
1. Die nur fahrlässige, aber letztlich ebenfalls vom Verteidigungswillen des Angeklagten getragene Herbeiführung der Todesfolge beim Einsatz der Schußwaffe als Drohmittel wäre gerechtfertigt (§ 32 StGB), wenn der Angeklagte in der gegebenen besonderen Lage, in der seine Schußwaffe mit nur einer Patrone geladen war, unter der Voraussetzung einer angemessenen Androhung auch einen gezielten, möglicherweise tödlichen Schuß auf den Angreifer hätte abgeben dürfen. Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer durch Fahrlässigkeit des Abwehrenden zu Schaden, so ist in den Grenzen dessen, was als Abwehrhandlung objektiv erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines deliktischen Erfolges auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom Abwehrenden nicht gewollt war und bei Anwendung der ihm möglichen Sorgfalt hätte vermieden werden können (Lenckner in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 32 Rdn. 65; Tröndle/Fischer StGB 50. Aufl. § 32 Rdn. 14; vgl. auch BGH bei Dallinger MDR 1958, 12, 13; OLG Hamm NJW 1962, 1169). Wäre der Abwehrende also bei gewollter Abgabe eines gezielten Schusses auf den Angreifer gerechtfertigt gewesen, dann muß diese Rechtfertigung erst recht und zur Vermeidung eines Wertungswiderspruches auch dann greifen, wenn er sich bei seiner Abwehr für ein milderes Mittel entscheidet und der Angreifer – wie hier – bei einer beabsichtigten Drohung mit der Schußwaffe zu Tode kommt, weil sich – vom Nothilfeleistenden nicht gewollt – ein Schuß löst. Mithin kommt es im vorliegenden Falle darauf an, ob der Angeklagte bei bewußter Abgabe eines gezielten Schusses durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre.
2. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, daß der lebensgefährliche Einsatz einer Schußwaffe nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. Grundsätzlich muß der Verteidiger – wenn eine bloß verbale Androhung von vornherein aussichtslos erscheint – vor dem tödlichen Schuß einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz wie etwa einen ungezielten Warnschuß versuchen. Jedoch gilt auch für die Verwendung einer Schußwaffe, selbst einer solchen, die wie vom Angeklagten ohne waffenrechtliche Erlaubnis eingesetzt wird, der allgemeine notwehrrechtliche Grundsatz, daß der Verteidiger berechtigt ist, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidenden nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen. Ein nicht bloß geringes Risiko, daß das mildere Mittel fehlschlägt und dann keine Gelegenheit für den Einsatz des stärkeren bleibt, braucht der Verteidiger zur Schonung des rechtswidrig Angreifenden nicht einzugehen. Dabei sind Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs gegen die Verteidigungsmöglichkeiten abzuwägen. Ist dem Angreifer die Existenz einer dem Verteidiger zur Verfügung stehenden Waffe unbekannt, muß je nach Lage vom Verteidiger regelmäßig verlangt werden, daß er die Verwendung der Waffe androht, ehe er sie lebensgefährlich einsetzt (vgl. nur BGHSt 26, 143, 146; 26, 256, 258; BGH NStZ 1996, 29; StV 1999, 143 = BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14 m.w.Nachw.).
3. Die Ausführungen des Landgerichts werden diesen Maßstäben nicht in jeder Hinsicht gerecht. Die bisherigen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die Abgabe des Schusses auf den Kopf des angreifenden V. mit naheliegender tödlicher Wirkung durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre oder ob der Angeklagte jedenfalls nach § 33 StGB straffrei bleiben muß.
a) Die getroffenen Feststellungen legen allerdings nahe, daß der Einsatz der Schußwaffe hier erforderlich war. Der Angeklagte, ein zur Tatzeit 66jähriger Rentner mit einem Bandscheibenleiden und einer Handgelenksarthrose, war mit seiner Lebensgefährtin in seiner eigenen Wohnung angegriffen worden; beide befanden sich in einem auch grundrechtlich besonders geschützten Bereich (vgl. Art. 13 Abs. 1 GG). Zu diesem hatte sich der angreifende V. durch Eintreten der Tür Zugang verschafft. Am Zustandekommen der Trunkenheit und des Aggressionsausbruchs des Angreifers war der Angeklagte nicht beteiligt; hinsichtlich seiner Lebensgefährtin ergibt sich aus den Feststellungen nichts anderes. Er hatte zunächst versucht, V. zu beschwichtigen. Dies war fehlgeschlagen; er war selbst zu Boden gegangen. Bei V. handelte es sich – wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt – ersichtlich um einen durchaus kräftigen jungen Mann. Aufgrund seiner alkoholbedingten Enthemmung und seiner zustandsbedingten Neigung zu Gewalttätigkeiten war er erkennbar durch Zureden nicht zu bremsen. Eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm konnte naheliegender Weise für den Angeklagten nicht ernstlich in Betracht kommen. V. drohte, die Zeugin P. umzubringen und zerrte die schreiende, sich am Treppengeländer festhaltende, zu Boden gebrachte Frau, die sich heftig wehrte, nach und nach die Treppe hinunter. Dabei trat er mehrfach auf sie ein. Bei dieser festgestellten „Auseinandersetzungslage” drängte es sich auf, daß augenblicklich auch schwerwiegende und lebensgefährliche Verletzungen der Zeugin P. eintreten konnten. Es liegt auf der Hand, daß etwa ein Aufschlagen des Kopfes der Zeugin auf die Treppenstufen ebenso in Betracht kam wie eine schwerwiegende Rücken- oder gar Rückgratverletzung. Das ergibt sich schon aus der vom Landgericht beschriebenen Vorgehensweise des Angeklagten und den Feststellungen zur Lage der Zeugin bei Rückkehr des nunmehr bewaffneten Angeklagten in das Treppenhaus. Wenn das Landgericht dennoch ohne nähere Angaben ausführt, die unmittelbare Gefahr einer schweren Verletzung oder der Tötung der Zeugin P. habe zu diesem Zeitpunkt nicht bestanden, so steht das nicht ohne weiteres im Einklang mit dem festgestellten Verlauf. Es hätte der Darlegung besonderer Umstände bedurft, die diese Bewertung hätten tragen können. Das gilt zumal deshalb, weil der Angeklagte sich ausdrücklich dahin eingelassen hatte, er habe tödliche Verletzungen seiner Lebensgefährtin befürchtet (UA S. 14). Das Landgericht meint indessen, „akute Anzeichen dafür” habe der Angeklagte nicht zu schildern vermocht. Das ist schon deswegen rechtsfehlerhaft, weil die Einlassung des Angeklagten im Einklang mit den im übrigen getroffenen Feststellungen steht. Diese ergeben ohne weiteres eine beträchtliche Gefahr für Leib und Leben der Zeugin P., zumal der äußerst aggressiv auftretende, enthemmte V. gedroht hatte, diese umzubringen. Wollte die Strafkammer bei dieser Sachlage dennoch eine erhebliche Leibes- oder Lebensgefahr verneinen, so hätte sie das näher begründen müssen. Es konnte nicht Sache des Angeklagten sein, weitere Gründe für seine Befürchtung erheblicher Verletzungen oder gar des Todes der Zeugin P. vorzubringen. Das diese nicht unbegründet war, ergibt sich aus dem vom Landgericht festgestellten Geschehensablauf.
b) War der Einsatz der Schußwaffe durch den Angeklagten – da andere schnell wirksame Mittel zur Abwehr des massiven Angriffs auf seine Lebensgefährtin ersichtlich nicht zur Verfügung standen – erforderlich, so wäre zu erwägen gewesen, daß ihm – hätte er die Situation richtig erfaßt – für die Abgabe eines Schusses nur eine einzige Patrone zur Verfügung stand (vgl. zu ähnlichen Fallgestaltungen BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 4, 6 „letzte Patrone”). Diese Besonderheit des Falles führt angesichts der Erregung des Angeklagten sowie der naheliegenden Gefahr des Eintretens auch schwerster Verletzungen beim Hinunterzerren der zu Boden gebrachten, auf dem Rücken liegenden Lebensgefährtin, der ausgesprochenen Todesdrohung und dem Eintreten des Angreifers auf das Opfer dazu, daß der Angeklagte sich nicht auf die Abgabe eines Schusses etwa auf die Beine des Angreifers beschränken mußte. Dies wäre – zumal in Rücksicht auf die Aggressivität des Angreifers – eine mit hohem Fehlschlagsrisiko behaftete Abwehr gewesen, bei der ihm anschließend kein weiterer Schuß für eine erfolgreiche Verteidigung mehr zur Verfügung gestanden hätte. Die Abgabe eines Warnschusses kam aus demselben Grund nicht in Betracht, wäre im übrigen im Treppenhaus ohnehin in hohem Maße gefährlich für alle Beteiligten gewesen. Schließlich wäre weiter zu bedenken gewesen, daß dem Angeklagten wegen des dynamischen Geschehensablaufes kaum Zeit zum Überlegen verblieb und er durch den Angriff in seiner eigenen Wohnung aus dem Schlaf gerissen worden war. Bei dieser Lage, der Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs und den gegebenen, stark eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten lag es nahe, auch die Abgabe eines gezielten, den Angriff sicher sofort beendenden Schusses für objektiv erforderlich zu erachten. Die Erwägungen des Landgerichts gehen auf die Besonderheiten des Falles nicht hinreichend ein; sie lassen nicht erkennen, daß es die Grundsätze der Rechtsprechung zur Auslegung der Notwehrvorschrift genügend bedacht hat.
c) In diesem Zusammenhang begegnet es weiter rechtlichen Bedenken, daß das Landgericht bei seiner rechtlichen Bewertung die Auseinandersetzung als „innerfamiliäre Streitigkeit” bezeichnet. Das könnte darauf hindeuten, daß es von einer Einschränkung des Notwehrrechts ausgeht. Dies wäre in zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft: Die Urteilsfeststellungen ergeben, daß dem Angriff des V. gerade kein Streit vorausgegangen ist, an dem die Zeugin P. oder der Angeklagte beteiligt war. Der Angriff erfolgte vielmehr unvermittelt und ohne erkennbaren äußeren Grund. Das Notwehrrecht war schließlich nicht deshalb eingeschränkt, weil der Angreifer mit der Tochter der Zeugin P. verheiratet war. Dies geht auf die Willensentschließung der Tochter zurück, die mit V. in einer anderen Wohnung lebte. Ein irgendwie geartetes sonstiges, zu erhöhter Rücksichtnahme in der gegebenen Lage verpflichtendes persönliches Näheverhältnis zwischen dem Angreifer und der Zeugin P. oder dem Angeklagten ist nicht ersichtlich. Es wäre hier für die Frage einer etwaigen Begrenzung des Notwehrrechts auch deshalb unerheblich, weil der Angriff nach gewaltsamem Eindringen in die Wohnung der Zeugin P. und des Angeklagten, einem besonders schutzwürdigen Bereich, erfolgte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Blick auf die Alkoholisierung des V.. Dieser neigte in einem solchen Zustand gerade zu Gewalttätigkeiten. Das kann unter den vorliegenden Umständen indessen nicht dazu führen, daß der Verteidigende ein hohes Maß an Leibes- und gar an Lebensgefahr ohne Aussicht auf erfolgversprechende Abwehr hinnehmen muß.
d) Danach hängt die Annahme des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr weiter davon ab, ob und wie der Angeklagte den Schußwaffengebrauch androhen mußte und ob dies geschehen ist (vgl. dazu auch BGH StV 1999, 145, 146). Das Landgericht hält hier eine „deutliche” Ankündigung des Waffeneinsatzes und eine vorherige Warnung für geboten, die es im Ergebnis vermißt. Die Würdigung hierzu ist indessen lückenhaft; sie läßt zudem besorgen, daß die Strafkammer die Anforderungen an eine solche Androhung überspannt hat. Die Androhung hat den Sinn, dem Angreifer vor einem lebensgefährlichen Einsatz der Waffe davon Kenntnis zu geben, daß der Verteidigende über eine solche verfügt. Je nach „Auseinandersetzungslage” ist auch die ins Auge gefaßte Verwendung, also der konkrete Einsatz anzudrohen. Wie dies zu geschehen hat, ist nicht zwingend vorgegeben. Anders als etwa bei einem für solche Konfliktlagen Ausgebildeten, der auch für extreme Belastungssituationen richtige Verhaltensweisen eingeübt hat, kann von einem aus dem Schlaf gerissenen, auf einen Angriff nicht gefaßten Menschen nicht ohne weiteres ein in jeder Hinsicht überlegtes Verhalten erwartet werden. Entscheidend ist, daß der Angreifer in den Stand gesetzt wird, die Bewaffnung des Verteidigers wahrzunehmen und zu erkennen, daß dieser bereit ist, die Waffe gegen ihn einzusetzen, falls er mit seinem Angriff fortfährt. Dazu ist nicht stets ein mündlicher Anruf oder Hinweis erforderlich; vielmehr hängt die Art und Weise der Androhung ebenfalls von den jeweiligen Umständen des Falles ab. Je nach der Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs in dem beim Einsatz der Schußwaffe gegebenen Stadium kann deshalb möglicherweise schon eine Drohwirkung genügen, die von dem bloßen Vorzeigen der Schußwaffe und einem etwaigen Zielen auf den Angreifer ausgeht. Hierauf geht das Urteil nicht näher ein. Das Landgericht führt lediglich aus, der Angeklagte habe „weder mit Worten auf die Waffe aufmerksam gemacht noch deren Einsatz für den Fall angedroht, daß er nicht von der Zeugin P. ablasse” (UA S. 9). Was mit Letzterem gemeint ist, bleibt unklar. Da der angreifende V. sich treppabwärts vor der Zeugin P. befand und dabei war, diese weiter auf der Treppe herabzuzerren, während der Angeklagte von oben aus seiner Wohnung herbeieilte, liegt nahe, daß V. die Schußwaffe in der Hand des Angeklagten vor deren Einsatz erkannt hatte, aber seinen Angriff dennoch fortsetzte. Möglicherweise konnte er zuvor auch wahrnehmen, daß der Angeklagte die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Das hätte der Erörterung bedurft, weil eine solche konkludente Drohung angesichts des Maßes der Gefahr für die Zeugin P. hier ausreichend sein konnte. Das Landgericht meint zwar im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung, dem angreifenden V. sei keine Zeit zur Reaktion verblieben. Wie es zu dieser Annahme kommt, wird aber durch die Beweiswürdigung nicht erhellt. Bei der erforderlichen Würdigung der Beweise ist zu bedenken, daß nach dem Zweifelssatz zu Gunsten des Angeklagten als Verteidiger von der ihm günstigeren Sachverhaltsannahme auszugehen ist, wenn sich bestimmte, nicht fernliegende Möglichkeiten des Tatverlaufs nicht zur Überzeugung des Tatrichters ausschließen lassen. Danach bedarf die Frage der Notwehr insgesamt der erneuten Prüfung.
4. Auf all das käme es indessen nicht an, wenn der Angeklagte – was hier nahe liegen dürfte – jedenfalls wegen Notwehrüberschreitung straffrei zu bleiben hätte. Nach § 33 StGB wird nicht bestraft, wer als Verteidiger die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet. Die Strafkammer hat dies geprüft und verneint. Das begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Angeklagte hatte sich auf Furcht vor schwerwiegenden Verletzungen seiner Lebensgefährtin berufen. Die Kammer führt aus, er habe sich zwar in verständlicher Erregung befunden, keinesfalls aber in Panik. Die Notwehrüberschreitung sei nicht aus „gesteigerter Furcht” erfolgt (UA S. 14/15). Eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit habe nicht vorgelegen. Das läßt besorgen, daß die Strafkammer auch zu hohe Anforderungen an die Annahme einer strafbefreienden Notwehrüberschreitung gestellt hat. Zwar ist nicht schon jedes Angstgefühl als Furcht im Sinne des § 33 StGB zu beurteilen; vielmehr muß durch das Gefühl des Bedrohtseins die Fähigkeit, das Geschehen zu verarbeiten und ihm angemessen zu begegnen erheblich reduziert sein (vgl. BGHR StGB § 33 Furcht 2, 4; BGH NStZ-RR 1997, 65). Der Affekt muß nicht die alleinige oder auch nur überwiegende Ursache für die etwaige Überschreitung der Notwehrgrenzen gewesen sein; es genügt, daß er – neben anderen gefühlsmäßigen Regungen – für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß der Angreifer die ihn treffenden Folgen einer überzogenen Abwehr selbst und allein verantworten muß, wenn er durch sein Handeln einen jener Affekte ausgelöst hat (Verwirrung, Furcht oder Schrecken), die den Angegriffenen über die Grenzen der Notwehr hinausgehen ließen (BGH StV 1999, 145, 146/147).
Auf dieser rechtlichen Grundlage hätte die Strafkammer alle Tatumstände berücksichtigen müssen und das Geschehen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der vorherigen Medikamenteneinnahme und des Überraschtwerdens im Schlafe würdigen dürfen; sie hätte auch die Wirkungen erwägen und darstellen müssen, die für den Angeklagten von dem überraschenden und massiven nächtlichen Angriff auf seine Lebensgefährtin gerade in der eigenen Wohnung ausgingen. Für eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit zu einer angemessenen Reaktion konnte hier auch sprechen, daß der Angeklagte in seiner – auch vom Landgericht angenommenen – Erregung den Ladezustand seiner Waffe nicht bedachte.
5. Darüber hinaus ist im Auge zu behalten, daß die genannten Umstände selbst unter der Annahme fahrlässiger Tötung auch Bedeutung für die Frage der Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung haben und deshalb auch in diesem Punkt tragfähiger Bewertung bedurft hätten. Der bloße Hinweis darauf, der Angeklagte, der annahm, seine Waffe sei ungeladen, hätte sich durch einfaches Aufklappen der Revolvertrommel vom Ladezustand der Waffe überzeugen können, sein Irrtum sei deshalb vermeidbar gewesen (UA S. 8), genügte dazu nicht. Er wird in seiner bündigen Kürze der Befindlichkeit des Angeklagten und der Angriffslage nicht vollends gerecht.
6. Die Verurteilung des Angeklagten kann schließlich schon deshalb keinen Bestand haben, weil auch der Schuldspruch wegen des tateinheitlichen Ausübens der tatsächlichen Gewalt über den vom Angeklagten eingesetzten Revolver mit einem Rechtsfehler behaftet ist und das Landgericht das Konkurrenzverhältnis zu dem Tötungsdelikt nicht zutreffend beurteilt hat. Da der Angeklagte sich auch nach Auffassung des Landgerichts in einer Nothilfesituation befand, durfte er den Revolver in dieser Lage – wenigstens als Drohmittel – verwenden. Damit entfällt zugleich die Strafbarkeit wegen des damit einhergehenden Ausübens der tatsächlichen Gewalt über diese Waffe (BGH NStZ 1981, 299; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Rechtfertigung 1). Die Strafkammer hat die damit teilweise gegebene Straflosigkeit des Waffendelikts nicht berücksichtigt und ist daher von einem zu weitgehenden Schuldumfang ausgegangen. Sie hat ausdrücklich den langandauernden Besitz gleich zweier Schußwaffen straferschwerend gewertet (UA S. 16). Die in der Nothilfesituation gerechtfertigte Verwendung des Revolvers begründet überdies eine Zäsur. Das strafbare unerlaubte Ausüben der tatsächlichen Gewalt und der anschließende Einsatz der Waffe – auch dann, wenn ihn der neue Tatrichter wiederum als strafbar erachten sollte – würden sich vielmehr als mehrere Taten erweisen (§ 53 StGB; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Rechtfertigung 1; vgl. für diesen Fall zum Verschlechterungsverbot Kuckein in KK 4. Aufl. § 358 Rdn. 30 m.w.Nachw.).
Unterschriften
Nack, RiBGH Dr. Wahl befindet sich im Urlaub und ist deshalb an der Unterschriftsleistung verhindert. Nack, Boetticher, Schluckebier, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 584393 |
BGHSt |
NJW 2001, 3200 |
NStZ 2001, 591 |
Nachschlagewerk BGH |
JA 2001, 922 |
JuS 2002, 88 |
Kriminalistik 2002, 498 |
StV 2001, 566 |
StraFo 2001, 271 |
LL 2002, 32 |