Leitsatz (amtlich)
a) Der Sachverständige hat den Betroffenen vor der Erstellung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen; eine Begutachtung nach Aktenlage ist grundsätzlich nicht zulässig (im Anschluss an Senatsbeschluss v. 20.8.2014 - XII ZB 179/14, FamRZ 2014, 1917).
b) Ist Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen und werden seine Interessen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten, so ist eine Verfahrenspflegschaft nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte (im Anschluss an Senatsbeschluss v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14, NJW 2016, 1828).
Normenkette
FamFG § 276 Abs. 1 S. 1, § 280 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Oldenburg (Beschluss vom 16.12.2016; Aktenzeichen 8 T 221/15) |
AG Vechta (Entscheidung vom 15.10.2014; Aktenzeichen 14 XVII K 852) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 1) wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Oldenburg vom 16.12.2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Beschwerdewert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die 84-jährige Betroffene leidet an einer fortgeschrittenen Demenz, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst erledigen kann. Sie hatte einer ihrer Töchter, der Beteiligten zu 1), im Jahr 2011 umfassende notarielle Vollmacht erteilt. Durch weitere notarielle Urkunde vom 30.6.2014 widerrief die Betroffene diese Vollmacht, erteilte ihrer anderen Tochter, der Beteiligten zu 2), Vorsorgevollmacht und errichtete eine Patienten- und Betreuungsverfügung.
Rz. 2
Die Beteiligte zu 1) hat beim AG angeregt, zur Betreuerin für die Betroffene bestellt zu werden. Das AG hat die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt, weil die Betroffene jedenfalls durch eine ihrer Töchter aufgrund erteilter Vollmacht vertreten werden könne. Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1) hat das LG die Einrichtung einer Betreuung für alle Angelegenheiten angeordnet und dem AG die Auswahl des Betreuers aufgegeben. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1), mit der sie nunmehr die Einstellung des Betreuungsverfahrens verfolgt.
II.
Rz. 3
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statthaft. Die Beschwerdeberechtigung der Beteiligten zu 1) im Interesse der Betroffenen folgt aus § 303 Abs. 2 Nr. 1 FamFG, nachdem sie als Abkömmling der Betroffenen im ersten Rechtszug beteiligt worden war. Ihre Beschwerdebefugnis entfällt nicht dadurch, dass sie zunächst selbst die Einrichtung einer Betreuung angeregt und mit der Erstbeschwerde verfolgt hat, während sie nunmehr auf Einstellung des Verfahrens anträgt.
Rz. 5
2. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Bei bestehendem Unterstützungsbedarf sei die Betreuung nicht angesichts der erteilten Vollmachten entbehrlich. Die der Beteiligten zu 2) erteilte Vollmacht sei nichtig, da die Betroffene im Zeitpunkt deren Errichtung geschäftsunfähig gewesen sei. Die Beteiligte zu 1) hingegen sei ungeeignet, auf Grundlage der ihr erteilten Vollmacht die Angelegenheiten der Betroffenen wahrzunehmen. Bereits die räumliche Entfernung zwischen der in Berlin lebenden Beschwerdeführerin und der in Vechta lebenden Betroffenen erschwere die rechtliche Vertretung, weil bei der Versorgung eines in allen Bereichen komplett pflegebedürftigen Menschen mit Notsituationen zu rechnen sei, die ein promptes Tätigwerden erfordern, was ein ortsansässiger Vertreter besser leisten könne. Vor allem aber das komplette Zerwürfnis mit ihrer Schwester lasse eine Vertretung durch diese aussichtslos erscheinen. Die Pflegerin drohe im Streit der Schwestern aufgerieben zu werden, weil jede versuche, sie auf ihre Seite zu ziehen. Da auch das Verhältnis der Beteiligten zu 1) zu ihrem Bruder schlecht sei, sei eine Berufsbetreuung einzurichten. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Betroffene mit der Vollmachterteilung an die Beteiligte zu 1) zugleich sie als Betreuerin vorgeschlagen habe. Einem solchen Vorschlag wäre auch nicht zu entsprechen, da er dem Wohl der Betroffenen zuwiderliefe.
Rz. 6
3. Die angegriffene Entscheidung hält den Verfahrensrügen der Rechtsbeschwerde nicht stand.
Rz. 7
a) Das LG hätte das Gutachten seiner Entscheidung nicht zugrunde legen dürfen, weil der Sachverständige die Betroffene nicht persönlich untersucht hat. Gemäß § 280 Abs. 2 Satz 1 FamFG hat der Sachverständige den Betroffenen vor der Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen. Ein ohne die erforderliche persönliche Untersuchung erstattetes Sachverständigengutachten ist grundsätzlich nicht verwertbar (Senat, Beschl. v. 20.8.2014 - XII ZB 179/14, FamRZ 2014, 1917 Rz. 10 m.w.N.). Dieser Grundsatz besteht unabhängig davon, ob aus ärztlicher Sicht auch bereits auf der Grundlage anderer Erkenntnisse, etwa aus bildgebenden Verfahren, der sichere Schluss auf eine erkrankungsbedingte Betreuungsbedürftigkeit gezogen werden könnte.
Rz. 8
b) Ferner rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers fehlerhaft unterblieben ist.
Rz. 9
aa) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Abs. 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senat, Beschl. v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14, NJW 2016, 1828 Rz. 8 m.w.N.).
Rz. 10
bb) Da die Interessen der Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gem. § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden dürfen. Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte (Senat, Beschl. v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14, NJW 2016, 1828 Rz. 11 m.w.N.). Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gem. § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen.
Rz. 11
cc) Zu Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde, dass die vom LG für ein Absehen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers gegebene Begründung nicht trägt. Das LG hat insoweit ausgeführt, dass die in Widerstreit stehenden Interessen der Familienangehörigen hinreichend durch deren Verfahrensbevollmächtigte dargelegt worden seien. Zu dem massiven Eingriff in die Rechte der Betroffenen durch Einrichtung einer umfassenden Betreuung gebe es angesichts der fortgeschrittenen Demenz keine Alternative. Zur Wahrung ihrer Rechte sei deshalb die Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht erforderlich, weil dieser nicht ernsthaft in Zweifel ziehen könnte, dass sie einer umfassenden Betreuung bedürfe.
Rz. 12
Diese Begründung geht fehl, weil es auf die Offenkundigkeit insoweit nicht ankommt und die Verfahrenspflegerbestellung gerade auch in diesem Fall das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisten soll (Senat, Beschl. v. 28.5.2014 - XII ZB 705/13, FamRZ 2014, 1446 Rz. 8). Das gilt umso mehr, wenn die vermeintliche Offenkundigkeit auf einem verfahrensfehlerhaft erstatteten Gutachten beruht. Im Übrigen verkennt das LG, dass die Verfahrenspflegschaft auch dazu dient, die Interessen der Betroffenen unbeeinflusst von widerstreitenden Interessen ihrer Abkömmlinge herauszuarbeiten und zur Geltung zu bringen.
Rz. 13
dd) Die Entscheidung des LG beruht auf diesem Verfahrensfehler. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Beschwerdegericht nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Rz. 14
4. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.
Rz. 15
5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen