Verfahrensgang
LG Ingolstadt (Entscheidung vom 02.11.2022; Aktenzeichen 21 T 1505/22) |
AG Pfaffenhofen a.d. Ilm (Entscheidung vom 18.08.2022; Aktenzeichen 2 XVII 83/22) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt vom 2. November 2022 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der die Einwilligung der Betreuerin in eine ärztliche Zwangsmaßnahme sowie die Fünf-Punkt-Fixierung genehmigende Beschluss des Amtsgerichts Pfaffenhofen a. d. Ilm vom 18. August 2022 und der vorgenannte Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt, soweit die gegen diese Genehmigungen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen worden ist, die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Soweit mit dem vorgenannten Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt die Beschwerde der Betroffenen gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung zurückgewiesen worden ist, wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
Die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Betroffene leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Auf Antrag ihrer Betreuerin hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 18. August 2022 auf der Grundlage eines auf den 16. August 2022 datierenden Sachverständigengutachtens und einer am 17. August 2022 durchgeführten persönlichen Anhörung der Betroffenen deren Unterbringung in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 17. Mai 2023 sowie die Einwilligung der Betreuerin in eine ärztliche Zwangsmedikation und eine Fünf-Punkt-Fixierung zur Durchführung der Zwangsmedikation und diagnostischer Maßnahmen bis längstens 28. September 2022 genehmigt. Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen ohne erneute Anhörung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt hinsichtlich der zeitlich abgelaufenen Entscheidungen über die ärztliche Zwangsmaßnahme und die unterbringungsähnliche Maßnahme zur von der Rechtsbeschwerde beantragten Rechtswidrigkeitsfeststellung nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Norm des § 62 FamFG (st. Rspr., vgl. etwa Senatsbeschluss vom 26. Januar 2022 - XII ZB 439/21 - FamRZ 2022, 729 Rn. 3 mwN) und zur Zurückverweisung der Sache, soweit es die Genehmigung der Unterbringung anbelangt.
Rz. 3
1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am 17. August 2022 verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihr das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor der Anhörung überlassen worden ist.
Rz. 4
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht rechtzeitig ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Januar 2022 - XII ZB 439/21 - FamRZ 2022, 729 Rn. 5 mwN).
Rz. 5
b) Diesen Anforderungen wird das Verfahren des Amtsgerichts nicht gerecht. Ausweislich der Gerichtsakten hat das Amtsgericht der Betroffenen das von dem Sachverständigen erstattete schriftliche Gutachten erst zusammen mit dem instanzabschließenden Beschluss übersandt. Auch sonst lässt sich der Gerichtsakte nicht entnehmen, dass vor dem Anhörungstermin eine Bekanntgabe des Gutachtens an die Betroffene erfolgt wäre. Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG hat der Sachverständige in seinem Gutachten ausdrücklich verneint. Dass das Amtsgericht im Anhörungstermin das Sachverständigengutachten mit der Betroffenen besprochen hat, genügt nicht, um das rechtliche Gehör ausreichend zu gewährleisten.
Rz. 6
2. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde aus diesem Grund auch als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung der Betroffenen abgesehen hat.
Rz. 7
a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Januar 2022 - XII ZB 439/21 - FamRZ 2022, 729 Rn. 8 mwN).
Rz. 8
b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung der Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihr das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 17. August 2022 überlassen worden ist.
Rz. 9
3. Die angefochtene Entscheidung ist daher insgesamt rechtsfehlerhaft ergangen und gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben.
Rz. 10
a) Auf den Antrag der Betroffenen ist entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG durch den Senat auszusprechen, dass die durch Zeitablauf erledigten Entscheidungen der beiden Vorinstanzen zu der ärztlichen Zwangsmaßnahme die Betroffene in ihrer durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und dem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität und zu der unterbringungsähnlichen Maßnahme (Fünf-Punkt-Fixierung) in ihrem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützten Freiheitsgrundrecht verletzt haben (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 18 mwN).
Rz. 11
Die Feststellung nach § 62 FamFG, dass ein Betroffener durch die angefochtenen Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Sie ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel eines rechtswidrigen Eingriffs in die grundrechtlich geschützte körperliche Integrität und in das Recht auf Selbstbestimmung des Betroffenen hinsichtlich seiner körperlichen Integrität sowie in sein Freiheitsgrundrecht hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Die persönliche Anhörung des Betroffenen nach § 319 FamFG gehört zu den grundlegenden Verfahrensgarantien in Unterbringungssachen. Die - hier vorliegende - Nichtbeachtung dieser Vorschrift bedeutet regelmäßig einen gravierenden Verfahrensfehler im vorgenannten Sinne (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 19 mwN).
Rz. 12
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Genehmigung der Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme und der unterbringungsähnlichen Maßnahmen feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Genehmigung der Einwilligung in eine Zwangsbehandlung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 20 mwN). Nichts anderes gilt für die hier angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme der Fünf-Punkt-Fixierung nach § 1831 Abs. 4 BGB (bis 31. Dezember 2022: § 1906 Abs. 4 BGB).
Rz. 13
b) Hinsichtlich der Unterbringungsgenehmigung ist die Sache noch nicht zur Endentscheidung reif und daher nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen.
Rz. 14
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Guhling |
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Günter |
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Nedden-Boeger |
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Botur |
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Pernice |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15734786 |