Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. September 1999 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sieben Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache.
Gegenstand der Verurteilung sind Taten zum Nachteil zweier Söhne des Angeklagten sowie der Tochter seines Bruders. Die Kinder waren zu den Tatzeiten zwischen fünf und acht Jahre alt. Die Jugendschutzkammer durfte den Antrag der Verteidigung, zur Frage der „Glaubwürdigkeit und Zeugentauglichkeit” der drei betroffenen Kinder ein „jugendpsychologisches bzw. jugendpsychiatrisches Gutachten” einzuholen, hier nicht unter Berufung auf eigene Sachkunde ablehnen.
Die Würdigung von Zeugenaussagen gehört zwar zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Das gilt nicht nur bei erwachsenen Zeugen, sondern regelmäßig auch für die Aussage eines Kindes oder eines jugendlichen Zeugen, der Opfer eines an ihm begangenen Sexualdelikts ist. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist aber dann geboten, wenn der zur Aburteilung stehende Sachverhalt ausnahmsweise solche Besonderheiten aufweist, daß Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 – Glaubwürdigkeitsgutachten 2 m.w.N.).
Solche Besonderheiten liegen hier vor. Sie finden sich insbesondere in der intensiven, teilweise suggestiven Befragung der drei Kinder durch die Ehefrau des Angeklagten, seinen Bruder und dessen Ehefrau (UA S. 14). Dies gilt zumal angesichts des geringen Alters der betroffenen Zeugen und des beträchtlichen zeitlichen Abstands von mehr als einem Jahr zwischen den letzten Taten und deren Offenbarung, im Blick auf die Offenbarungssituation – Erwischtwerden der Kinder beim „Doktorspiel” – und schließlich auch unter Berücksichtigung der Verwendung der kindlichen Aussagen durch die Ehefrau des Angeklagten im Sorgerechtsstreit. Es kommen noch hinzu im Urteil abgehandelte Besonderheiten im Aussageverhalten des jüngeren Sohnes des Angeklagten (UA S. 15 f.) und seiner Nichte (UA S. 17 f.).
Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände durfte sich die Jugendschutzkammer die Beurteilung der Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit der den Schuldspruch tragenden Angaben der kindlichen Zeugen hier ohne Zuziehung eines Sachverständigen, zumal nach entsprechender Antragstellung unter Hinweis auf jene Besonderheiten, nicht zutrauen. Die Kammer hat auch keine besonders signifikanten Begleitumstände ermittelt und in den Urteilsgründen belegt, welche die Beiziehung eines Sachverständigen möglicherweise hätte erübrigen können. Hierzu hätte es zunächst schon einer näheren, genauen Schilderung der Offenbarungssituation und des Inhalts der anschließenden Angaben der Kinder vor Einsetzen der Befragungen bedurft; insoweit trifft das Landgericht nur eher pauschale Feststellungen, aus denen es dann freilich weitgehende Folgerungen ableitet (vgl. UA S. 11, 14). Zudem läßt die Annahme des Landgerichts, eine suggestive Befragung der Kinder könne „allenfalls zu einer Intensivierung” ihrer Schilderungen geführt haben, weshalb die Aburteilung jeweils nur eines Falles der angegebenen Sexualpraktiken unbedenklich sei (UA S. 14 f.), befürchten, daß in diesem Zusammenhang die Möglichkeit nicht in Betracht gezogen worden ist, die Kinder könnten fremde Erlebnisse, die sie beobachtet oder von denen sie sonst erfahren haben, als eigene dargestellt haben. Gerade daher wären auch zum Informationsaustausch zwischen den Kindern über die Taten nähere Feststellungen zu erwarten gewesen, auch zur – für die letzten beiden Fälle bislang sehr pauschal geschilderten – Beobachtung einzelner Taten durch nicht betroffene Kinder, die gegebenenfalls nach den Begleitumständen auch kritisch zu hinterfragen wäre. Schließlich sind zum Unterlassen einer früheren Tatoffenbarung bei der Nichte – im Gegensatz zu den Söhnen (UA S. 11) – gar keine näheren Überlegungen angestellt worden. Zum persönlichen Kontakt des Angeklagten zu den Kindern nach der Trennung von der Familie unmittelbar nach Tatende fehlt es ebenfalls an Feststellungen.
Die Sache bedarf umfassender neuer tatrichterlicher Überprüfung, naheliegend unter Heranziehung eines mit der Auswertung möglicher suggestiver Beeinflussungen besonders erfahrenen jugendpsychologischen Sachverständigen. Der neue Tatrichter wird auch den von der Revision aufgezeigten Hinweisen auf Mißbrauchsanschuldigungen des Angeklagten gegen seinen Bruder vor Aufdeckung der Taten durch die Kinder näher nachzugehen und sie zu bewerten haben. Bereits im angefochtenen Urteil sind entsprechende „Andeutungen” des Angeklagten vor dem Aufdeckungszeitpunkt festgestellt, indes kaum folgerichtig vollständig ausgewertet worden (UA S. 13).
Unterschriften
Tepperwien, Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 540965 |
NStZ 2001, 105 |
StV 2001, 550 |