Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 20. Februar 1998 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Die Jugendschutzkammer hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in sechs Fällen, sämtlich begangen zum Nachteil der Nebenklägerin Ö. A., sowie wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
Seine Revision, die auf eine gegen die Feststellungen zum sexuellen Mißbrauch gerichtete Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützt ist, bleibt erfolglos.
1. Die am 21. März 1985 geborene Nebenklägerin war zwischen April 1986 und Juli 1990 tagsüber zur Pflege im Haushalt des Angeklagten untergebracht gewesen. Spätestens ab Ende August 1989 bis etwa zur Jahreswende 1989/90 hatte sich der Angeklagte an ihr in (mindestens) sechs Fällen in im einzelnen beschriebener, unterschiedlicher Weise sexuell vergangen. Vergleichbare Taten hatte der Angeklagte bereits zum Nachteil der am 13. August 1978 geborenen N. A., einer Schwester der Nebenklägerin, begangen, die zwischen September 1979 und Ende 1983 bei ihm zur Pflege untergebracht gewesen war; insoweit ist eine Bestrafung wegen Verjährung unterblieben.
2. Der Verfahrensrüge liegt ein nicht näher begründeter Hilfsbeweisantrag auf Einholung eines Gutachtens zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und ihrer Schwester zugrunde, den die Jugendschutzkammer unter Berufung auf ihre langjährige einschlägige Erfahrung wegen eigener Sachkunde abgelehnt hat (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO).
a) Die Revision macht geltend, daß es sich bei den Zeuginnen um „im strengen islamischen Sinne” erzogene Türkinnen gehandelt habe. Im türkisch-islamischen Kulturkreis sei sexuelle Unberührtheit von Frauen bei der Eheschließung von größter Bedeutung. Es sei weder von der Jugendschutzkammer dargelegt noch sonst ersichtlich, daß sie auch insoweit über eigene Sachkunde verfüge. Hätte sie diesen Punkt genügend aufgeklärt, hätte sie die Aussagen anders gewürdigt.
b) Gegen die Notwendigkeit zusätzlicher Aufklärung des sozio-kulturellen Hintergrunds zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen spricht schon, daß nach den Erfahrungen des Senats die Bedeutung der sexuellen Unberührtheit im türkisch-islamischen Kulturkreis inzwischen jedem mit Sexualdelikten zum Nachteil von Türkinnen befaßten Gericht bekannt ist.
Jedenfalls ergeben aber weder der Hilfsbeweisantrag, noch das Revisionsvorbringen, noch die ergänzend heranzuziehenden Urteilsgründe (vgl. BGH NStZ 1993, 142, 143) Anhaltspunkte dafür, daß derartige Vorstellungen hier Bedeutung haben könnten. Es ist nicht ersichtlich, daß die Eltern der Zeuginnen, die mindestens seit 1976 in Deutschland leben, überhaupt der islamischen Religion angehören und sich ihr oder jedenfalls islamischen Wertvorstellungen eng verbunden fühlen. Sie haben immerhin ihre Töchter schon in allerfrühestem Alter einer deutschen Familie zur Pflege anvertraut.
Vor dem Hintergrund des aus dem Urteil ersichtlichen Beweisergebnisses brauchte die Jugendschutzkammer den Antrag daher nicht anders als dahin zu verstehen, daß die Erhebung eines kinder- oder jugendpsychologischen Gutachtens über die Qualität von Aussagen einer inzwischen 12 und einer inzwischen 19 Jahre alten Zeugin zu lange zurückliegenden sexualbezogenen Vorgängen erstrebt wurde. Ebensowenig war die Jugendschutzkammer mangels irgendwelcher Anhaltspunkte gehalten, den nunmehr geltend gemachten Sinn des Hilfsbeweisantrags durch ergänzende Befragung zu ermitteln (vgl. BGH NStZ 1994, 583, 584).
3. Unabhängig von Fragen des Kulturkreises ist die Annahme der Jugendschutzkammer, sie verfüge über eigene Sachkunde zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen nicht zu beanstanden. Der Senat kann daher offenlassen, ob dies (nur) aufgrund einer mit dieser Zielrichtung hier nicht erhobenen Verfahrensrüge zu prüfen ist (so Alsberg/ Nüse/Meyer 5. Aufl. S. 904 m.w.Nachw. in Fußn. 47) oder auch auf die Sachrüge (so Pikart in KK 3. Aufl. § 337 Rdn. 28 mit weiteren, allerdings andersartige Beweisfragen betreffende Nachweisen).
Das Gericht, zumal eine erfahrene Jugendschutzkammer, darf sich die Beurteilung von Aussagen eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen in aller Regel auch dann zutrauen, wenn dieser angibt, in früher Kindheit Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein (BGHSt 3, 27, 28, 52; BGH NStZ 1985, 420, 421; w. Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 244 Rdn. 74). Dies gilt um so mehr, wenn die Aussage durch andere Umstände erhebliche Unterstützung findet (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO m.w.Nachw.).
So verhält es sich hier.
a) Ein erster Verdacht war bereits im Winter 1989/90 auf den Angeklagten gefallen. Wie der Vater der Nebenklägerin (nach der rechtsfehlerfreien Wertung der Jugendschutzkammer) glaubwürdig bekundet hat, hatte er damals die Nebenklägerin beim onanieren angetroffen. Auf die Frage, was sie da mache (oder: woher sie das habe) erklärte sie spontan: „Papa G. macht”. Damit war der Angeklagte gemeint. Aus dieser als solcher feststehenden spontanen Aussage eines Kleinkindes durfte die Jugendschutzkammer rechtsfehlerfrei auf einen realen Erlebnisbezug schließen.
b) Von diesem Vorfall berichteten die Eltern zunächst telefonisch der Ehefrau des Angeklagten, ließen sich aber später von dem alles bestreitenden Angeklagten beschwichtigen, zumal sie auf einen Pflegeplatz für ihre Tochter angewiesen waren. Das Telefongespräch hatte N. A. mitbekommen, die in der Folgezeit eingedenk ihrer eigenen Erfahrungen – ohne hiervon jedoch Einzelheiten zu nennen – ihre Schwester befragte, was der Angeklagte mit ihr gemacht habe. Nach und nach vertraute sich die Nebenklägerin ihrer Schwester an. Dies führte jedoch nicht zu Ermittlungen, da sich die Kinder ihren Eltern nicht offenbarten.
Zu Ermittlungen kam es erst im Sommer 1996, als die Eltern ihrer Tochter N. deren sehr schwieriges Wesen vorhielten, worauf diese „weinend alles offenbarte und auch berichtete, daß ihrer Schwester Ö. das gleiche zugestoßen sei”.
Die dargelegte, für die Beurteilung derartiger Aussagen äußerst bedeutsame Entstehungsgeschichte (BGH StV 1994, 227 m.w.Nachw.) hat die Jugendschutzkammer rechtsfehlerfrei als „stimmig” bewertet. Sie spricht auch gegen ein Komplott der Schwestern zum Nachteil des Angeklagten, für das auch sonst keine Anhaltspunkte bestehen, zumal sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zum Angeklagten hatten.
c) Die Jugendschutzkammer hat auch den Diplompsychologen Dr. med. W. als Zeugen und Sachverständigen gehört. Dieser war zwar offenbar nicht mit einem Glaubwürdigkeitsgutachten beauftragt, sondern hat über die Folgen der Tat berichtet. Er verfügt aber über „langjährige und umfangreiche Erfahrungen mit kindlichen Opfern von Sexualtaten” und hat bekundet, „nie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Angaben beider Mädchen gehegt zu haben”; darüber hinaus hat er Bekundungen zur Wahrnehmungsfähigkeit der Nebenklägerin gemacht, die ebenfalls keine Anhaltspunkte ergaben, die gegen die Richtigkeit ihrer Angaben sprechen könnten.
4. Die Jugendschutzkammer hat einzelne, der Anklage zugrundeliegende Details hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Tathandlungen, etwa wegen nicht völlig auszuschließender unbewußter „Überlagerung” von Erinnerungen aus Gründen „höchster Vorsicht” nicht als mit letzter Sicherheit erwiesen angesehen. Aus vergleichbaren Gründen hat sie gegenüber dem Anklagevorwurf den Tatzeitraum beschränkt und die Zahl der Tathandlungen reduziert.
Die in diesem Zusammenhang angestellten eingehenden Erwägungen der Jugendschutzkammer, die sich sämtlich zugunsten des Angeklagten ausgewirkt haben, sind nicht geeignet, Zweifel an der Sachkunde der Jugendkammer zu wecken.
Insgesamt ist es daher nicht zu beanstanden, daß sie sich nicht (weiterer) sachkundiger Beratung zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bedient hat.
5. Die auf die nicht näher ausgeführte Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat auch sonst weder im Schuldspruch noch im Strafausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Der näheren Ausführung bedarf nur folgendes:
Der Generalbundesanwalt hat in seinem Terminsantrag Bedenken dagegen geäußert, daß die Jugendschutzkammer nicht erörtert hat, ob bei dem zur Zeit der Taten 61 Jahre alten, nicht vorbestraften Angeklagten altersbedingt eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit vorliegen könne; der Generalbundesanwalt hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der Angeklagte auch bei den (wegen Verjährung nicht abgeurteilten) Mißbrauchshandlungen zum Nachteil der Schwester der Nebenklägerin schon „deutlich über fünfzig Jahre” alt war.
Der Senat kann auch insoweit keinen Rechtsfehler feststellen.
a) Allerdings hat der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden, daß bei Angeklagten, die sich erstmals in verhältnismäßig hohem Alter an Kindern sexuell vergangen haben, Anlaß zu derartigen Erörterungen auch dann bestehen kann, wenn konkrete medizinische Anhaltspunkte für das Vorliegen erheblich verminderter Schuld nicht erkennbar sind (grundlegend NJW 1964, 2213; zuletzt – vielfach m.w. Nachw. – u.a. NStZ 1993, 332; StV 1994, 14; StV 1995, 633; BGHR § 21 StGB Sachmangel 1, 2 und Sachverständiger 5; BGH, Beschluß vom 19. Oktober 1993 - 4 StR 597/93). Doch lagen in diesen Fällen vielfach über die generelle Art des Delikts und das Alter der (jeweils mindestens 60 Jahre alten, teilweise auch noch erheblich älteren) Angeklagten hinausgehende Besonderheiten vor (vgl. z.B. NStZ 1993, 332 „gesundheitlich geschwächt”; StV 1994, 14 „gesundheitliche Probleme und Einsamkeit”; 4 StR 597/93 krankheitsbedingter Frührentner; BGHR aaO Sachverständiger 5 „Zufallstat” bei sonst „absolut bestehende(n) Moralvorstellungen”; BGHR aaO Sachmangel 2 psychologische Behandlung zur Änderung der „Einstellung zu kleinen Mädchen”). Derartige oder damit vergleichbare Besonderheiten liegen hier nicht vor.
b) Es kann offen bleiben, ob der genannten Rechtsprechung darüber hinaus die Annahme eines allgemeinen und daher erörterungsbedürftigen Erfahrungssatzes zugrundeliegt, wonach in derartigen Fällen auch ohne erkennbare Anhaltspunkte ein für die Schuldfähigkeit bedeutsamer Altersabbau stets naheliegt.
Ebenso kann offen bleiben, ob nicht die für die erhebliche Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung ursächlichen Gründe (vgl. Göppinger, Kriminologie 5. Aufl. S. 515) auch dazu geführt haben, daß (unbeschadet hier nicht erkennbarer individueller Besonderheiten) die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit möglicherweise bedeutsamen physischen und psychischen Veränderungen in einem wesentlich höheren Alter beginnen, als dies früher der Fall war.
Jedenfalls gibt es keinen Erfahrungssatz, wonach dieser Zeitpunkt schon wesentlich vor dem 60. Lebensjahr liegen könnte. Im übrigen liegen auch neueren forensisch-psychiatrischen Untersuchungen zur Alterskriminalität (nur) Straftaten von mindestens 60 Jahre alten Tätern zugrunde (vgl. z.B. Schüttler/Schulte in Festschrift für Göppinger 1997 S. 377 ff.; mit gerade zu den Altersgrenzen eingehender Begründung ebenso Weber in Forensia Bd. 8, 1987 S. 57, 58 f. m.w.Nachw.).
c) Der Angeklagte war zwar 61 Jahre alt, als er die abgeurteilten Taten begangen hat; bei den gleichartigen Taten zum Nachteil von N. A. war er jedoch erst (maximal) 55 Jahre alt. Wenn keine hier nicht erkennbaren Besonderheiten vorliegen (zu einer solchen Fallgestaltung vgl. BGH, Beschluß vom 19. Oktober 1993 - 4 StR 597/93) besteht kein Grund zu der Annahme, Straftaten seien (möglicherweise) vom Altersabbau beeinflußt, wenn der Täter schon früher gleichartige Taten begangen hat.
Unterschriften
Schäfer, Brüning, Miebach, Wahl, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 539643 |
NStZ 1999, 297 |