Leitsatz (amtlich)

Ein wegen Ablaufs der Haft- oder Gewahrsamszeit oder des Datums der geplanten Abschiebung oder Überstellung unmittelbar bevorstehendes Haftende rechtfertigt es nicht, zu Lasten eines Beteiligten auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu verzichten. Kann das Haftaufhebungs-, Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren vor der Abschiebung oder Überstellung nicht verfahrensordnungsgemäß abgeschlossen werden, kann es der Betroffene im Hinblick auf sein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme mit einem Antrag entsprechend § 62 FamFG fortsetzen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FamFG § 28 Abs. 1 S. 2, § 37 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Freiburg i. Br. (Beschluss vom 04.12.2020; Aktenzeichen 4 T 233/20)

AG Freiburg i. Br. (Beschluss vom 30.11.2020; Aktenzeichen 62 XIV 385/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde wird der Beschluss des LG Freiburg im Breisgau - 4. Zivilkammer - vom 4.12.2020 im Kostenpunkt aufgehoben.

Die Beteiligten tragen ihre außergerichtlichen Kosten in allen Instanzen selbst. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.

 

Gründe

Rz. 1

I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste 2013 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Dieser wurde mit seit dem 4.11.2017 bestandskräftigem Bescheid vom 18.10.2017 unter Gewährung einer Ausreisefrist von 30 Tagen abgelehnt. Für den Fall der Nichteinhaltung der Frist wurde dem Betroffenen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Eine freiwillige Ausreise erfolgte nicht.

Rz. 2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das AG mit Beschluss vom 30.11.2020 Ausreisegewahrsam gegen den Betroffenen bis zum 7.12.2020 angeordnet. Mit Beschluss vom 4.12.2020 hat das LG auf Beschwerde des Betroffenen diese Anordnung aufgehoben und den Antrag auf Gewahrsamsanordnung abgelehnt. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde.

Rz. 3

II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Rz. 4

1. Das Beschwerdegericht meint, das AG habe die Tatbestandsvoraussetzungen des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG zwar zu Recht bejaht. Allerdings ergebe eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an einer zügigen Durchführung der Abschiebung, dass der Antrag auf Anordnung von Ausreisegewahrsam abzulehnen sei. Ausreisegewahrsam könne im Fall des Betroffenen nicht allein wegen der erheblichen Überschreitung der Ausreisefrist angeordnet werden. Aus der Ausländerakte ergäben sich Anhaltspunkte für eine psychiatrische Erkrankung des Betroffenen. Nach Aktenlage stehe der Betroffene unter Betreuung, woraus folge, dass er seine Angelegenheiten offenbar ganz oder teilweise nicht besorgen könne. Etwaige Versäumnisse im Zusammenhang mit der Ausreisepflicht seien daher möglicherweise krankheitsbedingt. Ein nicht datierter Aktenvermerk in der Ausländerakte lege zudem nahe, dass alleiniger Grund für die Beantragung des Ausreisegewahrsams die kontrollierte Durchführung eines Coronavirus-Tests gewesen sei, dessen negatives Ergebnis dem Zielstaat habe nachgewiesen werden müssen. Dieses Erfordernis könne aber nicht zu Lasten des Betroffenen gehen und rechtfertige daher keine Freiheitsentziehung. Weder sei dargelegt noch ersichtlich, dass der Betroffene nicht auch außerhalb des Gewahrsams zu einem Coronavirus-Test mit anschließender häuslicher Quarantäne bereit sei. Rechtliches Gehör habe der beteiligten Behörde vor der Entscheidung durch das Beschwerdegericht angesichts der bereits für den 7.12.2020 geplanten Abschiebung nicht gewährt werden können.

Rz. 5

2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses im Kostenpunkt.

Rz. 6

a) Die Rechtsbeschwerde der Behörde ist zulässig.

Rz. 7

aa) Sie ist nach § 70 Abs. 3 Satz 3 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft, weil sie sich gegen einen eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden Beschluss richtet (zur Anwendbarkeit dieser Norm in Verfahren über die Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 AufenthG vgl. BGH, Beschl. v. 10.11.2020 - XIII ZB 25/20, juris Rz. 8). Der Antrag, den Beschluss des Beschwerdegerichts aufzuheben, ist dahin auszulegen, dass die beteiligte Behörde die Zurückweisung der Beschwerde des Betroffenen und die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Gewahrsamsanordnung begehrt. Im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde am 7.12.2020 hatte sich die Hauptsache auch noch nicht erledigt.

Rz. 8

bb) Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insb. ist sie nicht dadurch unzulässig geworden, dass die angeordnete Gewahrsamszeit während des Rechtsbeschwerdeverfahrens abgelaufen ist. Dies schließt zwar eine Sachentscheidung über die Gewahrsamsanordnung aus; mangels Feststellungsinteresses kann die beteiligte Behörde auch keinen Feststellungsantrag analog § 62 FamFG stellen. Sie kann die Rechtsbeschwerde aber auf den Kostenpunkt beschränken und das Verfahren in diesem beschränkten Umfang fortführen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.5.2019 - V ZB 1/19, juris Rz. 7; v. 12.2.2020 - XIII ZB 49/19, juris Rz. 6, jeweils m.w.N.). So ist der Antrag der beteiligten Behörde zu verstehen.

Rz. 9

b) Die Entscheidung über die Kosten ist gem. § 83 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG nach billigem Ermessen zu treffen. Eine Entscheidung über die Kosten zugunsten des Rechtsbeschwerdeführers hat danach zu ergehen, wenn sein Rechtsmittel ohne die Erledigung der Hauptsache begründet gewesen wäre. Im vorliegenden Fall entspricht es billigem Ermessen, dass jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da offen ist, wie das Verfahren ohne das erledigende Ereignis ausgegangen wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 - V ZB 51/19, juris Rz. 4 m.w.N.).

Rz. 10

aa) Zutreffend bejaht das Beschwerdegericht mit dem AG das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG und nimmt auch richtig an, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams gem. § 62b AufenthG im Ermessen des Gerichts steht ("kann"), so dass eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung erforderlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 20.4.2018 - V ZB 226/17, NVwZ-RR 2018, 746 Rz. 11 f.; v. 23.2.2021 - XIII ZB 50/20, InfAuslR 2021, 339).

Rz. 11

bb) Allerdings rügt die beteiligte Behörde zu Recht eine entscheidungserhebliche Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

Rz. 12

(1) Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 FamFG hat das Gericht die Beteiligten auf einen rechtlichen Gesichtspunkt hinzuweisen, wenn es ihn anders beurteilt als die Beteiligten und seine Entscheidung darauf stützen will. Nach § 37 Abs. 2 FamFG darf das Gericht ferner eine Entscheidung, welche die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen dieser Beteiligte sich äußern konnte. Beide Vorschriften sind einfachgesetzliche Ausprägungen des durch Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. Gesetzesbegründung im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, BT-Drucks. 16/6308, 187, 194; s.a. BGH, Beschl. v. 8.4.2020 - XII ZB 561/19 FamRZ 2020, 1122 Rz. 6).

Rz. 13

(2) Gegen diese Vorgaben hat das Beschwerdegericht verstoßen.

Rz. 14

(a) Hat ein Beteiligter keinen Grund zu der Annahme, das Beschwerdegericht werde bei seiner Würdigung des Sachverhalts der Auffassung der ersten Instanz nicht folgen und die Entscheidung des Erstgerichts auf die Beschwerde des Beschwerdeführers aufheben, hat es den Beteiligten nach § 28 Abs. 1 Satz 2 FamFG hierauf hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (vgl. zum Berufungsverfahren BGH, Beschl. v. 12.9.2019 - V ZR 276/18, juris Rz. 5; BVerfG, NJW 2003, 2524, und NJW 2015, 1746 Rz. 17, jeweils m.w.N.; , FamFG, 20. Aufl., § 28 Rz. 9). So liegt der Fall hier. Das Beschwerdegericht hätte die beteiligte Behörde darauf hinweisen müssen, dass es zu einer anderen Entscheidung als das AG zu gelangen und die Gewahrsamsanordnung aufzuheben beabsichtige, weil der Betroffene unter Betreuung gestanden habe und möglicherweise krankheitsbedingt an der Ausreise gehindert gewesen sei. Diesbezüglich hätte der beteiligten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müssen.

Rz. 15

(b) Hinzu kommt, dass das Beschwerdegericht seine von der amtsgerichtlichen Entscheidung abweichende Beurteilung maßgeblich auf einen Vermerk in der Ausländerakte gestützt hat, den es dahingehend interpretiert hat, alleiniger Grund für die Beantragung des Ausreisegewahrsams sei die kontrollierte Durchführung eines Coronavirus-Tests gewesen sei, dessen negatives Ergebnis dem Zielstaat habe nachgewiesen werden müssen. Dieser Schluss hätte nicht gezogen werden dürfen, ohne der beteiligten Behörde zuvor nach § 37 Abs. 2 FamFG Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesem Vermerk gegeben zu haben.

Rz. 16

(3) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts, dem die Akte durch das AG am Donnerstag, dem 3.12.2020, übersandt worden war, durfte auch angesichts des bereits für Montag, den 7.12.2020, 10.15 Uhr, vorgesehenen Abschiebungsflugs nicht auf die Gewährung rechtlichen Gehörs für die beteiligte Behörde verzichtet werden. Es ist schon nicht ersichtlich, dass der beteiligten Behörde nicht jedenfalls telefonisch und kurzfristig eine Gelegenheit zur Stellungnahme hätte gewährt werden können. Zudem dienen Rechtsmittelverfahren in Freiheitsentziehungssachen nicht der Verhinderung von Abschiebungen, wofür Betroffene verwaltungsgerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch nehmen können, sondern dazu, etwaige rechtswidrige Freiheitsentziehungen zu beenden. Ein wegen Ablaufs der Haft- oder Gewahrsamszeit oder des Datums der geplanten Abschiebung oder Überstellung unmittelbar bevorstehendes Haftende rechtfertigt es deshalb nicht, zu Lasten eines Beteiligten auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu verzichten. Kann das Haftaufhebungs-, Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren vor der Abschiebung oder Überstellung nicht verfahrensordnungsgemäß abgeschlossen werden, kann es der Betroffene im Hinblick auf sein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme mit einem Antrag entsprechend § 62 FamFG fortsetzen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, InfAuslR 2010, 249 Rz. 9 m.w.N.).

Rz. 17

(4) Die Rechtsbeschwerde zeigt auch auf, dass bei Gewährung rechtlichen Gehörs ein Vortrag gehalten worden wäre, der zu einer anderen Entscheidung des Beschwerdegerichts hätte führen können (vgl. zu diesem Erfordernis BGH, Beschl. v. 18.2.2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rz. 23 m.w.N.). Im Rahmen einer Stellungnahme - so die Rechtsbeschwerde - wäre nämlich dargelegt worden, für die Annahme des Beschwerdegerichts, der Betroffene habe krankheitsbedingt nicht ausreisen können, hätten keine ausreichenden Anhaltspunkte vorgelegen. Aus dem Bestandsformular vom 26.10.2020, welches das Beschwerdegericht herangezogen hat, ergebe sich nämlich nicht, für welchen Zeitraum und für welche Aufgabenkreise eine Betreuung für den Betroffenen eingerichtet worden sei. Ferner wäre ausgeführt worden, dass die Notwendigkeit des Nachweises eines negativen Coronavirus-Tests selbstverständlich auch nach Auffassung der beteiligten Behörde keine Gefahr der Abschiebungserschwerung oder -vereitelung begründe und daher keine Gewahrsamsanordnung rechtfertige, dass die Notwendigkeit eines solchen Nachweises aber den organisatorischen Aufwand im Vergleich zu anderen Abschiebungen erhöhe. Damit hätte die beteiligte Behörde der Sache nach auf den Abschnitt ihres Gewahrsamsantrags Bezug genommen, in dem sie darauf verwiesen hatte, dass der Ausreisegewahrsam auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers insb. der Sicherstellung der Durchführbarkeit von Abschiebungsmaßnahmen diene, die einen erheblichen organisatorischen Aufwand erforderten (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, 55), was angesichts des durchzuführenden Coronavirus-Tests der Fall gewesen sei. Diese Ausführungen hätten zu einer anderen Entscheidung des Beschwerdegerichts führen können. Wie das Verfahren ohne das erledigende Ereignis bei Nachholung der Gewährung rechtlichen Gehörs ausgegangen wäre, ist daher offen.

Rz. 18

c) Hat sich die Hauptsache erledigt, muss im Rechtsbeschwerdeverfahren eine Entscheidung über die Gerichtskosten für alle Rechtszüge ergehen, selbst wenn und soweit sie nur klarstellende Bedeutung hat (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 - V ZB 51/19, juris Rz. 12 m.w.N.). Gemäß §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG werden Gerichtskosten in allen Instanzen nicht erhoben.

Rz. 19

3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14924419

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