Verfahrensgang
AG Coesfeld (Entscheidung vom 16.01.2020; Aktenzeichen 20 XIV(L) 2/20) |
LG Münster (Beschluss vom 24.03.2020; Aktenzeichen 5 T 141/20) |
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Landgerichts Münster vom 24. März 2020 wird verworfen.
2. Von der Auferlegung von Gebühren und gerichtlichen Auslagen des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird abgesehen.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Das Amtsgericht Coesfeld hat nach persönlicher Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 16. Januar 2020 – ebenso wie bereits zuvor mit Beschlüssen vom 28. Mai und 17. Oktober 2019 – gemäß § 34c Abs. 2 Nr. 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) jeweils für die Dauer von drei Monaten angeordnet, dass der Betroffene die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsorts erforderlichen technischen Mittel einschließlich eines Mobiltelefons weiterhin ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und ihre Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen sowie an der Beseitigung eventueller Störungen durch Mitarbeiter der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung mitzuwirken habe. Seine hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Münster mit Beschluss vom 24. März 2020 zurückgewiesen. Eine Entscheidung über die Zulassung der Rechtsbeschwerde hat es hierbei nicht getroffen. In der Rechtsmittelbelehrung ist ausgeführt, gegen den Beschluss sei gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG die Rechtsbeschwerde statthaft. Der Betroffene erstrebt mit seiner Rechtsbeschwerde die Feststellung der Rechtswidrigkeit der zwischenzeitlich nicht mehr verlängerten Anordnung betreffend die elektronische Aufenthaltsüberwachung.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 2
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist unzulässig. Unabhängig davon, ob das Beschwerdegericht für die angefochtene Entscheidung sachlich zuständig war, fehlt es der Rechtsbeschwerde mangels Zulassung an der Statthaftigkeit.
Rz. 3
a) Die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde richtet sich nach den Vorschriften der §§ 70 ff. FamFG, weil nach der im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO abdrängenden Sonderzuweisung des § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW für das Verfahren über die elektronische Aufenthaltsüberwachung gemäß § 34c PolG NRW das Buch 7 des FamFG in der jeweils geltenden Fassung heranzuziehen ist. In diesem Buch, welches das Verfahren in bundesrechtlich angeordneten Freiheitsentziehungen zum Gegenstand hat, sind zwar die Rechtsmittel – mit Ausnahme der ergänzenden Vorschrift des § 429 FamFG – nicht gesondert geregelt. Indes finden die §§ 70 ff. FamFG als – im Buch 1 enthaltene – allgemeine Vorschriften Anwendung auf die in den weiteren Büchern normierten Verfahren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 – StB 36/18, NStZ-RR 2020, 230, 231; vom 30. April 2020 – StB 17/17, juris Rn. 8; BeckOK PolG NRW/Basteck, 19. Ed., § 36 Rn. 30 unter Verweis auf LT-Drucks. 14/10089, 34; ferner Prütting/Helms/Drews, FamFG, 5. Aufl., § 429 Rn. 1; Bahrenfuss/Grotkopp, FamFG, 3. Aufl., § 429 Rn. 16).
Rz. 4
b) Die Frage, ob das Landgericht Münster gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 GVG für die Beschwerdeentscheidung zuständig war oder das Oberlandesgericht Hamm nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG hätte über die Beschwerde entscheiden müssen, weil es sich nicht um eine Freiheitsentziehungssache handelt, ist vorliegend nicht von Amts wegen zu prüfen. Die fehlende Zuständigkeit des Beschwerdegerichts ist im hiesigen Rechtsbeschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung von § 72 Abs. 2 FamFG nicht zu berücksichtigen. Im Anschluss an die zivilrechtliche Rechtsprechung in Rechtsbeschwerdeverfahren nach der Zivilprozessordnung (s. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2007 – VII ZB 6/05, NJW-RR 2007, 1498 Rn. 7) bzw. in zivilrechtlichen Revisionsverfahren (s. BGH, Beschluss vom 5. November 2008 – XII ZR 103/07, NJW-RR 2009, 434 Rn. 7 ff.; Urteil vom 22. Februar 2005 – KZR 28/03, NJW 2005, 1660, 1661 f.) ist diese Vorschrift, wonach die Rechtsbeschwerde nicht darauf gestützt werden kann, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat, über den Wortlaut hinaus dahin auszulegen, dass damit auch das vorinstanzliche Gericht im Rechtszug erfasst ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2021 – BLw 2/20, juris Rn. 11 f.; Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl., § 72 Rn. 49; BeckOK FamFG/Obermann, 39. Ed., § 72 Rn. 6a; Bahrenfuss/Joachim, FamFG, 3. Aufl., § 72 Rn. 11).
Rz. 5
Soweit der Senat im Beschluss vom 20. Dezember 2011 (StB 16/11, BGHR POG-RhPf § 21 Abs. 1 Satz 2 Rechtsmittel 1 Rn. 6 ff.) eine von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Zuständigkeit in Fällen für geboten erachtet hat, die verdeckte polizeiliche Maßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen zum Gegenstand haben, liegt ein solcher oder ein vergleichbarer Sachverhalt dem vorliegenden Verfahren nicht zu Grunde. Um eine heimliche Maßnahme handelt es sich nicht; der Betroffene ist vom Amtsgericht vor dessen Entscheidung sogar persönlich angehört worden. Für eine Abweichung vom allgemeinen Grundsatz, dass die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts im Rechtsbeschwerdeverfahren keine Berücksichtigung findet, besteht somit kein Anlass.
Rz. 6
Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob – wofür einiges spricht – anstelle des Landgerichts das Oberlandesgericht zur Beschwerdeentscheidung berufen gewesen wäre (in diesem Sinne BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2011 – StB 16/11, BGHR POG-RhPf § 21 Abs. 1 Satz 2 Rechtsmittel 1 Rn. 5; für § 34b Abs. 2 PolG NRW: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 4. November 2020 – I – 5 Sa 41/20, S. 4 ff. [unveröffentlicht]; aA OLG Hamm, Beschluss vom 23. Juli 2020 – 15 W 287/20, juris Rn. 4; vgl. zum Ganzen BeckOK PolG NRW/Barczak, 19. Ed., § 34b Rn. 43).
Rz. 7
c) Die Rechtsbeschwerde ist mangels Zulassung nicht statthaft. Das Beschwerdegericht hat hinsichtlich der Rechtsbeschwerde keine Zulassungsentscheidung gemäß § 70 Abs. 1 und 2 FamFG getroffen. Eine solche Entscheidung ist nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil es sich bei der Rechtsbeschwerde des Betroffenen um eine zulassungsfreie handelt. Ebenso wenig kann eine Zulassung aus anderen Gründen angenommen werden.
Rz. 8
aa) Die Zulassungsfreiheit der Rechtsbeschwerde folgt nicht aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG, denn es handelt sich vorliegend nicht um eine Freiheitsentziehungssache.
Rz. 9
(1) Für die Frage der Zulassungsfreiheit ist maßgebend, ob das gegenständliche Verfahren der Sache nach eine Freiheitsentziehung betrifft. Bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung ist nicht aufgrund der Verweisung durch das Landesrecht von einem weiteren Begriffsverständnis in einem formellen Sinne auszugehen. Es besteht kein Anlass, die allgemeine Vorschrift des § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG, die lediglich ergänzend zu den von der landesgesetzlichen Verweisungsnorm in Bezug genommenen Bestimmungen des Buches 7 des FamFG zur Anwendung zu bringen ist, über den Wortlaut hinaus erweiternd auszulegen.
Rz. 10
(2) Das hiesige Verfahren hat keine Freiheitsentziehungssache zum Gegenstand. Nach der Legaldefinition in § 415 Abs. 2 FamFG liegt eine Freiheitsentziehung vor, wenn einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird. Diese Begriffsbestimmung ist auch bei freiheitsentziehenden Maßnahmen auf der Grundlage landesrechtlicher – etwa polizeirechtlicher – Vorschriften anwendbar, sofern das Landesrecht – wie hier – auf die bundesrechtlichen Vorschriften ausdrücklich verweist (vgl. Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl., § 415 Rn. 1; Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl., § 415 Rn. 3 f.; enger [Verweisung nur auf §§ 416 bis 452 FamFG] BeckOK FamFG/Günter, 39. Ed., § 415 Rn. 4). Von der bloßen Freiheitsbeschränkung ist die Freiheitsentziehung nach Intensität und Dauer des Eingriffs abzugrenzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2002 – 2 BvR 2292/00, BVerfGE 105, 239, 248 mwN). Eine Freiheitsentziehung liegt nur dann vor, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. März 2011 – 1 BvR 47/05, NStZ 2011, 529 Rn. 26; Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93; BVerfGE 94, 166, 198; Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl., § 415 Rn. 4).
Rz. 11
Nach diesen Maßstäben handelt es sich bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht um eine Freiheitsentziehung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12, NStZ 2021, 348 Rn. 321 ff.; BeckOK PolG NRW/Barczak, 18. Ed., § 34c Rn. 12 mwN; aA Stern/Becker/Müller-Franken, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl., Art. 104 Rn. 36; Lindner/Bast, DVBl. 2017, 290, 291; Löffelmann, BayVBl. 2018, 145, 151), weil der von einer solchen Maßnahme Betroffene sich weder in einer abgeschlossenen Einrichtung befindet noch durch die elektronische Aufenthaltsüberwachung daran gehindert ist, seine körperliche Bewegungsfreiheit in eine beliebige Richtung hin zu betätigen. Er hat lediglich mit der präventiven Überwachung seiner Ortsveränderungen zu rechnen, was zu einer Beeinträchtigung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung führen kann (vgl. BeckOK PolR Hessen/Leggereit, 21. Ed., HSOG § 31a Rn. 3).
Rz. 12
bb) Auch unter Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers ist der Verweisung in § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW nicht zu entnehmen, dass die Rechtsbeschwerde zulassungsfrei ausgestaltet werden sollte. Im Gegensatz zu anderen Verweisungsnormen bei nicht freiheitsentziehenden Maßnahmen (vgl. § 14a Abs. 2 Satz 2, § 17 Abs. 2 Satz 4, § 20c Abs. 4 Satz 2, § 21 Abs. 3 Satz 2, § 31 Abs. 4 Satz 3, § 42 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW) nimmt § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW ebenso wie § 34b Abs. 2 Satz 2 PolG NRW zwar ausdrücklich das Buch 7 des FamFG in Bezug, welches das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen regelt. Abweichend vom ursprünglichen Regierungsentwurf (vgl. LT-Drucks. 17/2351 S. 20) hat sich der Landesgesetzgeber aus Gründen der „Klarstellung” nicht für eine allgemeine Verweisung auf die Vorschriften des FamFG, sondern für eine spezifische Bezugnahme auf das Buch 7 entschieden (vgl. LT-Drucks. 17/3865 S. 13, 15; 17/4525 S. 17). Dies deutet darauf hin, dass er eine Parallelität der Verfahrensregeln mit denen in Freiheitsentziehungssachen herstellen wollte, etwa hinsichtlich der Erforderlichkeit einer persönlichen Anhörung vor Anordnung (§ 420 FamFG). Weder der Wortlaut der Vorschrift noch die Gesetzgebungsmaterialien sprechen allerdings für die weitergehende Annahme, der Landesgesetzgeber habe bei der Novellierung des § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW die Zulassungsfreiheit der Rechtsbeschwerde über die bundesgesetzlich vorgesehenen Fälle hinaus ausdehnen wollen. Daher ist nicht davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber eine Abweichung von der näheren Ausgestaltung des Rechtsmittelwesens im FamFG beabsichtigt hat.
Rz. 13
cc) Die Zulassungswirkung kann auch nicht aus anderen Gründen zugunsten des Rechtsbeschwerdeführers angenommen werden.
Rz. 14
(1) Sie ergibt sich nicht bereits daraus, dass das Beschwerdegericht eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung erteilt hat. Denn die Belehrung ist nach ihrem sachlichen Gegenstand keine Kundgabe richterlicher Willensbildung und zählt deshalb nicht zum erkennenden Teil der Entscheidung (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2014 – IX ZB 48/13, NJW-RR 2014, 639 Rn. 6 ff.; Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl., § 70 Rn. 39 mwN).
Rz. 15
(2) Unter dem Gesichtspunkt der Meistbegünstigung kann aus dem Umstand, dass das Beschwerdegericht möglicherweise von einer Zulassungsfreiheit der Rechtsbeschwerde ausgegangen ist, eine Zulassungswirkung ebenfalls nicht hergeleitet werden. Denn für die Eröffnung des Instanzenzugs bleiben die Voraussetzungen maßgeblich, die für eine im korrekten Verfahren ergangene Entscheidung gesetzlich vorgesehen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 2. September 2015 – XII ZB 75/13, NJW-RR 2016, 67 Rn. 22 mwN).
Rz. 16
(3) Schließlich ist es dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt, die durch das Beschwerdegericht unterlassene Zulassung nachzuholen (BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2014 – XII ZB 7/14, NJW 2014, 2879 Rn. 19 f.; vom 10. Mai 2012 – IX ZB 295/11, NJW-RR 2012, 1509 Rn. 15).
Rz. 17
2. Von der Erhebung von Gerichtskosten ist indes gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG abzusehen, weil sie bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären.
Rz. 18
Eine die Kostenerhebung ausschließende unrichtige Sachbehandlung liegt etwa dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung eine unzutreffende Belehrung über das vom Kostenschuldner eingelegte Rechtsmittel enthält, ohne die er dieses nicht betrieben hätte (vgl. BAG, Beschluss vom 15. Dezember 1986 – 2 AZR 289/86, AP GKG 1975 § 8 Nr. 1; BeckOK Kostenrecht/Dörndorfer, 34. Ed., § 21 GKG Rn. 4 mwN). So liegt es hier: Der Beschluss des Landgerichts Münster endete mit der genannten unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung. Dafür, dass sich der Betroffene auch ohne Erteilung derselben an den Bundesgerichtshof gewandt hätte, besteht kein Anhalt.
Unterschriften
Schäfer, Paul, Berg, Anstötz, Kreicker
Fundstellen
Haufe-Index 14942587 |
NStZ-RR 2022, 23 |