Leitsatz (amtlich)
Ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze (hier: fehlerhafte Streichung der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender) steht einer Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn im Rahmen der Büroorganisation durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen wurde, dass auf der zweiten Stufe der Ausgangskontrolle bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre. Versagt diese Kontrolle, ist ein Rückgriff auf ein Anwaltsverschulden auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle ausgeschlossen.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 4. April 2022 aufgehoben.
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: bis 35.000 €
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit des Widerrufs der auf Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrags gerichteten Willenserklärung des Klägers. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 18. Juni 2021, dem Kläger zugestellt am 23. Juni 2021, abgewiesen. Dagegen haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23. Juli 2021 Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 30. August 2021 hat das Berufungsgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 23. August 2021 keine Begründung eingegangen sei und es deshalb erwäge, die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Rz. 2
Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13. September 2021, beim Berufungsgericht am selben Tag eingegangen, die Berufung begründet und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers ausgeführt, dass die Fristen zutreffend in den Papierkalender und den elektronischen Fristenkalender der Kanzlei eingetragen worden seien. In der Kanzlei bestehe die Anweisung, dass sachbearbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte selbständig Fristen bearbeiten und diese nach Erledigung auch streichen. Im Papierkalender erfolge die Markierung als erledigt lediglich durch einen Strich durch die eingetragene Frist ohne Kennzeichnung mit einem besonderen Kürzel. Am Abend eines jeden Arbeitstags werde die Erledigung von fristgebundenen Sachen durch die stichprobenartig überprüfte und stets zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte H. (im Folgenden: Frau H.) anhand des elektronischen Fristenkalenders und des Papierkalenders nochmals selbständig überprüft. Dabei sei gemäß ausdrücklicher Anweisung gegebenenfalls anhand der betreffenden Akten auch zu prüfen, ob in einer als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung noch ausstehe. Bei der Fristenkontrolle am 23. August 2021 habe Frau H. festgestellt, dass die Frist zur Versendung der Berufungsbegründung bereits gestrichen gewesen sei. Sie sei davon ausgegangen, dass die Berufungsbegründung wie in der Kanzlei üblich zusammen mit der Berufung am 23. Juli 2021 von einer anderen Rechtsanwaltsfachangestellten versandt worden sei. Dabei habe sie entgegen der bestehenden Arbeitsanweisung versäumt, anhand der betreffenden Akten zu prüfen, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich versandt worden sei.
Rz. 3
Mit Beschluss vom 4. April 2022 hat das Berufungsgericht den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und dessen Berufung als unzulässig verworfen. Dies hat es im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 4
Der Kläger habe nicht dargelegt, dass die Fristversäumung durch seine Prozessbevollmächtigten ohne ein ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden erfolgt sei. Ein Rechtsanwalt habe durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt werde und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingehe. Er habe durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert würden. Zu diesem Zweck habe er seine Ausgangskontrolle so zu organisieren, dass sie einen gestuften Schutz gegen Fristversäumung biete. Zum einen dürften die im Fristenkalender vermerkten Fristen erst dann gestrichen oder anderweitig als erledigt gekennzeichnet werden, wenn die fristwahrende Maßnahme tatsächlich durchgeführt, der Schriftsatz also gefertigt und abgesandt oder zumindest postfertig gemacht worden sei. Zum anderen gehöre hierzu die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von Fristsachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine hierzu beauftragte Bürokraft überprüft werde. Diese zusätzliche Kontrolle diene auch dazu, selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen auftretende individuelle Bearbeitungsfehler nach Möglichkeit aufzufinden und zu beheben.
Rz. 5
Nach diesen Maßgaben seien die Ausführungen des Klägers nicht geeignet darzulegen, dass ein für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist mitursächliches Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten nicht vorgelegen habe. Die Ausführungen beträfen nahezu ausschließlich die von Frau H. am 23. August 2021 durchgeführte Kontrolle, bei deren anweisungsgemäßer Durchführung hätte auffallen müssen, dass eine Berufungsbegründung trotz gestrichener Frist tatsächlich noch nicht versandt worden sei. Dazu, von wem, wann und warum die Frist gestrichen worden sei und welche organisatorischen Vorkehrungen getroffen worden seien, um eine voreilige Streichung der Frist zu vermeiden, verhalte sich das Vorbringen des Klägers dagegen nicht. Dessen hätte es aber bedurft. Bei dem im Rahmen der Ausgangskontrolle nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erforderlichen mehrstufigen Schutz könne ein zurechenbares Anwaltsverschulden jede Stufe betreffen. Die fehlerhafte Streichung der Frist sei für deren Versäumung ebenso mitursächlich wie der Umstand, dass Frau H. den Fehler bei ihrer Kontrolle nicht bemerkt habe.
Rz. 6
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.
Rz. 7
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Rz. 8
1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).
Rz. 9
2. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das Berufungsgericht ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Frist zur Begründung der Berufung gegen das am 23. Juni 2021 zugestellte Urteil des Landgerichts am 24. August 2021 abgelaufen war, so dass die erst am 13. September 2021 eingereichte Berufungsbegründung an sich verfristet war. Das Berufungsgericht hat aber den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Unrecht abgelehnt.
Rz. 10
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Rechtsanwalt durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und beim zuständigen Gericht innerhalb der laufenden Frist eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen (BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2019 - VIII ZB 103/18, NJW-RR 2020, 52 Rn. 11 mwN und vom 9. Januar 2020 - I ZB 41/19, juris Rn. 9). Zu diesem Zweck hat der Rechtsanwalt seine Ausgangskontrolle so zu organisieren, dass sie einen gestuften Schutz gegen Fristversäumungen bietet (BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2019 aaO Rn. 12 mwN und vom 9. Januar 2020 aaO).
Rz. 11
aa) Dazu dürfen zum einen die im Fristenkalender vermerkten Fristen erst gestrichen oder anderweitig als erledigt gekennzeichnet werden, wenn die fristwahrende Maßnahme tatsächlich durchgeführt, der Schriftsatz also gefertigt und abgesandt oder zumindest postfertig gemacht, die weitere Beförderung der ausgehenden Post mithin organisatorisch zuverlässig vorbereitet worden ist. Dabei sind die für die Kontrolle zuständigen Mitarbeiter anzuweisen, Fristen im Kalender grundsätzlich erst zu streichen oder als erledigt zu kennzeichnen, nachdem sie sich anhand der Akte vergewissert haben, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist (BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2019 - VIII ZB 103/18, NJW-RR 2020, 52 Rn. 12 mwN und vom 9. Januar 2020 - I ZB 41/19, juris Rn. 10).
Rz. 12
bb) Zum anderen hat der Rechtsanwalt anzuordnen, dass die Erledigung von Sachen, bei denen eine Frist zu wahren ist, am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Kontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob insoweit eine Übereinstimmung mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen besteht. Diese allabendliche Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze durch einen Abgleich mit dem Fristenkalender dient zum einen der Überprüfung, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben. Mit ihr soll zum anderen auch festgestellt werden können, ob in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung möglicherweise noch aussteht. Der Fristenkalender ist daher so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist. Eine solche zusätzliche Kontrolle ist schon deshalb notwendig, weil selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen individuelle Bearbeitungsfehler auftreten können, die es nach Möglichkeit aufzufinden und zu beheben gilt (BGH, Beschlüsse vom 4. November 2014 - VIII ZB 38/14, NJW 2015, 253 Rn. 10, vom 29. Oktober 2019 - VIII ZB 103/18, NJW-RR 2020, 52 Rn. 13 mwN und vom 9. Januar 2020 - I ZB 41/19, juris Rn. 11).
Rz. 13
b) Nach diesen Maßgaben hätte das Berufungsgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist bewilligen müssen.
Rz. 14
aa) Allerdings ist die Annahme des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, dass der Kläger keine näheren Ausführungen zur ersten Stufe der Ausgangskontrolle gemacht hat, von wem, wann und warum die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender gestrichen worden ist. Dies wird auch von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen. Ein darin liegendes Verschulden ist jedoch für die Versäumung nicht kausal gewesen. Denn nach dem an Eides statt versicherten Vortrag des Klägers ist die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch auf den zeitlich nachfolgenden Umstand zurückzuführen, dass Frau H. auf der zweiten Stufe der Ausgangskontrolle entgegen der bestehenden Arbeitsanweisung es versäumt hat, anhand der betreffenden Akten zu prüfen, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich versandt worden ist.
Rz. 15
bb) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts genügt dieser glaubhaft gemachte Sachverhalt, um ein für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächliches Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers auszuschließen. Denn ein früheres Verschulden einer Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten schließt die Wiedereinsetzung dann nicht aus, wenn seine rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Vertreter nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt (sog. überholende Kausalität; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2007 - XII ZB 32/07, NJW 2007, 2778 Rn. 11 und vom 28. Januar 2021 - III ZB 86/19, NJW-RR 2021, 503 Rn. 10 mwN). So liegt der Fall auch hier.
Rz. 16
Die allabendliche Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze durch einen Abgleich mit dem Fristenkalender dient gerade auch der Überprüfung, ob in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung möglicherweise noch aussteht. Der Fristenkalender ist daher so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist. Eine solche zusätzliche Kontrolle ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon deshalb notwendig, weil selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen individuelle Bearbeitungsfehler auftreten können, die es nach Möglichkeit aufzufinden und zu beheben gilt (BGH, Beschlüsse vom 4. November 2014 - VIII ZB 38/14, NJW 2015, 253 Rn. 10, vom 29. Oktober 2019 - VIII ZB 103/18, NJW-RR 2020, 52 Rn. 13 mwN und vom 9. Januar 2020 - I ZB 41/19, juris Rn. 11).
Rz. 17
Nach dem an Eides statt versicherten Vortrag des Klägers genügt die Büroorganisation seiner Prozessbevollmächtigten diesen - die zweite Stufe der Fristenkontrolle betreffenden - Anforderungen. Wären diese hier von Frau H. eingehalten worden, wäre ihr die fehlerhafte Streichung der Berufungsbegründungsfrist bei normalem Verlauf der Dinge aufgefallen und dieser Bearbeitungsfehler behoben worden, mithin die Berufungsbegründungsfrist mit Sicherheit gewahrt worden. Wegen der überholenden Kausalität bei der Fristenkontrolle auf der zweiten Stufe, die gerade auch individuelle Bearbeitungsfehler auf der ersten Stufe beheben soll, entfällt ein etwaiges Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Rahmen der Fristenkontrolle auf der ersten Stufe. Die fehlerhafte, weil entgegen der allgemeinen Büroanweisung erfolgte Bearbeitung der Fristenkontrolle auf der zweiten Stufe durch Frau H. ist dem Kläger nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Angestellte, die sich - wie hier - bisher als zuverlässig erwiesen hat, derartige Weisungen befolgt. Anders ist es, wenn Umstände vorliegen, die dem Rechtsanwalt Anlass geben, an der Umsetzung seiner Arbeitsanweisung durch die Büroangestellte zu zweifeln (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 2020 - V ZB 138/19, NJW 2020, 3041 Rn. 13 mwN). Solche Umstände sind hier aber nicht ersichtlich.
Rz. 18
3. Der Senat kann nach § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO in der Sache selbst entscheiden, weil es keiner weiteren Tatsachenfeststellungen bedarf. Aufgrund der dargelegten und glaubhaft gemachten Umstände liegt kein dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Anwaltsverschulden vor. Da auch die übrigen Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung vorliegen, ist dem Wiedereinsetzungsgesuch stattzugeben. Der die Berufung verwerfende Beschluss wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos. Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2017 - V ZB 18/16, NJW 2017, 3002 Rn. 17 mwN).
Ellenberger |
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Fundstellen
DB 2023, 708 |
NJW 2023, 10 |
NJW 2023, 1224 |
JurBüro 2023, 278 |
WM 2023, 37 |
ZAP 2023, 126 |
JZ 2023, 115 |
MDR 2023, 315 |
MDR 2023, 345 |
ErbR 2023, 326 |